Franz Mehring 18961014 Platen

Franz Mehring: Platen

14. Oktober 1896

[Die Neue Zeit, 15. Jg. 1896/97, Erster Band, S. 97-101. Nach Gesammelte Schriften, Band 10, S. 339-345]

Platen, einer der gedankentiefsten Dichter der gesamten deutschen Literatur, Platen, dessen Busen von der brennendsten Sehnsucht für die Freiheit seines Volkes schlug, Platen, dessen Seele ein Glutgedanke war, von der intensivsten Leidenschaft für alle Interessen unserer Kulturentwicklung berauscht, Platen, der, ein moderner Tyrtäos mit einer so vor wie nach ihm unerreichten Kraft, in unserem Kulturkampf den Reigen der Dichter beginnt, welche in den großen und realen geistig-politischen Interessen der Völker das begeisternde Prinzip ihrer Lyrik erblicken" – mit diesen Worten hat Ferdinand Lassalle einmal seinen Lieblingsdichter geschildert, den Dichter, dessen hundertjähriger Geburtstag am 24. Oktober d. J. gefeiert oder auch nicht gefeiert werden wird.

Was Platen selbst als das höchste Los des Dichters pries:


Er weiß, dass nach Äonen noch, was sein Gemüt erstrebet,

Im Mund verliebter Jünglinge, geliebter Mädchen lebet,


das ist ihm nicht zugefallen und wird ihm auch nicht mehr zufallen. Die bürgerliche Literaturgeschichte hat ihn in ihren Katakomben beigesetzt, und das Proletariat kennt diesen Dichter nicht, der niemals etwas vom Proletariat gewusst hat. Er starb im Jahre 1835, in demselben Jahre, das die erste deutsche Eisenbahn sah, zur Zeit, als Deutschland eben in den Strom des großen Weltverkehrs zu treiben begann, in dem der Gegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat überhaupt erst erwachte. Platen gehört ganz den Tagen jener tiefsten Erniedrigung Deutschlands an, von denen sich selbst noch die Zeiten der Franzosenherrschaft abhoben, jenen Tagen, wo nicht mehr der Löwe raubte, sondern die Schakale, die einheimischen Fürsten, Junker und Pfaffen, am Gebein des Volkes fraßen und das „Volk" selbst, soweit es reden konnte, ein elender Spießbürger war, der nicht einmal mehr das große Erbe der klassischen Literatur zu hüten verstand. Platen selbst hat dies Deutschland in dem plastischen Bilde geschildert:


Denn zu Haus ist dort die Philisternatur

Und die dumpfige Stubengelehrtheit,

Die düster und stier, mit der Pfeif im Mund,

Ein verdrießliches Maul zieht.


Wie in der Politik, wie in der Rechts- und Staatswissenschaft, so herrschte auch in der Literatur eine verlebte Romantik. Das Theater, das in den Emanzipationskämpfen des Bürgertums eine so bedeutsame Rolle spielt, war der lächerlichsten Nichtigkeit verfallen, jämmerlichen Schicksalspoeten oder schnellfertigen Fabrikanten, die ihre seichten Jamben nach der Elle maßen. Vom Jupiterkopf des alten Goethe sah die Zeit kaum noch mehr als den Zopf, den er niemals losgeworden ist. Erst um die Mitte der zwanziger Jahre meldeten sich einzelne Vorboten einer besseren Zeit, und sie alle mussten knietief durch den Sumpf der Romantik waten, ehe sie auf festen Boden gelangten. Es war die Julisonne von Paris, die diesen Sumpf auszutrocknen begann. Die Julirevolution machte Epoche im Leben Platens, Heines, Börnes.

Am schwersten hatte Platen mit dem Jammer der deutschen Zustände zu ringen. Er stammte aus einem verarmten Nebenzweige einer höfischen Junkerfamilie, die in der Geschichte des deutschen Landesfürstentums eine unrühmliche Rolle gespielt hat. Seine Bildung und Erziehung verdankte er einem bayrischen Kadettenhause, und sein Lebtag war er auf die Gunst der bayrischen Könige angewiesen. Waren Börne und Heine durch Abstammung, Erziehung, Umgebung von vornherein auf die Opposition verwiesen, so war Platen umgekehrt mit den stärksten Banden an die herrschenden Klassen gefesselt. Er war auf sich und auf sich allein angewiesen, um sich zu frei-menschlicher Begeisterung durchzuringen, und so hat er immer hoch gedacht, immer stolz gesprochen von dem Genius, der ihn beseelte.

Dennoch ist er fast ein Jahrzehnt in romantischen Banden befangen gewesen. Nach der Art der Romantiker naschte er in allen möglichen Literaturen umher: nur mit dem Unterschiede, dass seine ernste Natur es immer ernst nahm mit allem, was sie trieb. Seine orientalische Lyrik erwuchs ihm aus tiefen Studien; um so weniger freilich stand ihm das leichte Getändel seiner Gaselen zu Gesichte. Es verdiente im Grunde den Spott Immermanns, dem Heine in seinen Reisebildern die weiteste Verbreitung gab:


Von den Früchten, die sie aus dem Gartenhain von Schiras stehlen,

Überessen sich die Armen und vomieren dann Gaselen.


Wie Platens Gaselen sind heute auch die Lustspiele und dramatisierten Märchen ungenießbar, die er in seiner ersten Periode nach Tiecks unerquicklicher Manier schrieb. Er lebte von seinem zwanzigsten bis zu seinem dreißigsten Lebensjahre großenteils als beurlaubter Leutnant in der kleinen Stadt Erlangen, an der Winkeluniversität, die eine Schwester des alten Fritz als Markgräfin von Bayreuth in der Mitte des vorigen Jahrhunderts gegründet hatte. Es war ein weltverlassenes Nest, wo Platen in der Welt der Bücher leben musste, wenn er überhaupt leben wollte. Lebendige Anregung empfing er nur von dem Philosophen Sendling, der damals in Erlangen lehrte, aber im Gegensatze zu Hegel von revolutionären Anfängen schon tief in romantischen Nebel geraten war. In einem von Platens frühesten Lustspielen finden sich einige spitzige, aber nicht witzige Ausfälle gegen Hegel, den Platen so schlecht wie Heine ihn gut verstand.

In dieser ersten Periode Platens verrät noch sehr wenig die Tatze des Löwen. Erst einige Balladen, wie „Der Pilgrim von St. Just" und „Das Grab im Busento", ferner die Sonette „An Venedig", in der die Lagunenstadt in dem melancholischen Verfall ihrer Herrlichkeit gefeiert wurde, wie sonst nur noch in Byrons „Childe Harold", lassen großen historischen Sinn und weltgeschichtliche Perspektiven erkennen. Dann aber trat Platen im Jahre 1826 mit seiner „Verhängnisvollen Gabel" hervor, einer aristophanischen Komödie, in welcher er nach langen Pfuschereien endlich ein Meisterstück geliefert haben wollte. Diese Komödie war eine feurige Kriegserklärung gegen die Schicksalsdichter, gegen das deutsche Theater überhaupt, und im tiefsten Grunde eine Rebellion gegen das schauerliche Elend der deutschen Zustände. Eine Rebellion in literarischen Formen, aber nur deshalb in literarischen Formen, weil eine Rebellion in politischen Formen nicht möglich war. Niemand war sich darüber klarer als Platen selbst, der angeblich seelenlose Formenkünstler; er wusste, dass nur ein freies Volk eines Aristophanes würdig sei, und bekannte offen:


Da der Sonnenstrahl der Freiheit meine Tage nicht erhellt,

Geb' ich statt des Weltenbildes nur ein Bild des Bilds der Welt.


Seine klassizierende Richtung war weit davon entfernt, im Gegensatze zu modernen Anschauungen reaktionär zu sein. Sie war für ihn nur die klassische Form, in der das moderne Prinzip gegen die in Form und Prinzip gleich verlodderte Romantik protestierte. Platen dachte hoch von der Kunst, aber alle Kunst war ihm eine Tochter der Freiheit. Er sang:


Dem ergibt die Kunst sich völlig, der sich völlig ihr ergibt,

Der die Freiheit heißer, als er Not und Hunger fürchtet, liebt.


Und so immer wieder in der „Verhängnisvollen Gabel":


O goldne Freiheit, der auch ich entstamme,

Die du den Äther, wie ein Zelt, entfaltest,

Die du, der Schönheit und des Lebens Amme,

Die Welt ernährst und immer neu gestaltest.


Platen war viel moderner, als heute so viele Vorkämpfer der „Moderne" sind. Er verschmähte die ärgsten Zynismen nicht, aber nur dann nicht, wenn die Kunst sie adelte, die Kunst, die ihm die Freiheit war, und mit Verachtung sah er herab auf die,


Die wähnen, sie sein voll Tiefe, weil sie den Mist aufwühlen, den tiefsten,

Aufstöbern den Kot und dem Schändlichsten stets nachjagen in jeder Gestaltung.


Platen war so modern wie die modernen Proletarier, die – wie oft haben wir in den Tagen der Freien Volksbühne diese Beobachtung machen können! – zehnmal lieber ein Drama von Lessing oder Schiller sehen als ein Drama derjenigen Modernen, die weiter nichts verstehen, als um den Kehricht einer verfallenden Welt herum zu grinsen.

Nichts törichter daher, als Platen einen Epigonen des Klassizismus zu nennen, der nach Art der Epigonen die Form zur äußersten Virtuosität ausgebildet, aber darüber den Inhalt verloren habe. Was sich eher gegen Platen einwenden lässt, wäre die Tatsache, dass er einen neuen Inhalt doch nur in alter Form zu geben gewusst habe. Das erklärt sich aber hinlänglich aus den unglaublich beengenden Verhältnissen, in denen er aufwuchs, aus den rückständigen Zuständen, die ihn in den entscheidenden Lebensjahren umgaben und die selbst im rückständigen Deutschland noch rückständig waren. Hier liegt der tiefste Grund des hässlichen Haders, der zwischen Platen und Heine entbrannte. Dieser Sohn des gewerbfleißigen Niederrheins brauchte nicht auf die Klassiker zurückzugehen, um die Romantik loszuwerden; er sah mit leibhaftigen Augen, wie die bürgerliche Entwicklung mit dem feudalen Schutt aufräumte, und er suchte nicht erst in der Vergangenheit nach Waffen, um die feudale Gegenwart zu zertrümmern. Es war ein Gegensatz, der sich weithin durch die deutsche Geschichte erstreckt hat und dessen letzte Spuren noch in dem Gegensatze zwischen Lassalle und Marx hervortraten. Die tiefe Seelenverwandtschaft, in der sich Lassalle mit Platen verbunden fühlte, beruhte darauf, dass sie aus den Zuständen jammervollster Knechtschaft heraus in der Antike die rettende Freiheit gefunden hatten.

Die widerwärtige Form, die der Streit zwischen Platen und Heine annahm, ist ein schlagender Beweis dafür, wie in einem politisch toten Volke die geistige Atmosphäre vergiftet und zersetzt wird. Den ersten Anlass zum Kriege gab jenes Epigramm Immermanns auf Platens Gaselen. Als es von Heine veröffentlicht wurde, lebte Platen schon in Italien, wohin er sich nach der Herausgabe der „Verhängnisvollen Gabel" vor der deutschen Misere geflüchtet hatte. Er hatte jetzt Wege eingeschlagen, die ihm wohl erlaubten, dass er anderen einen Witz über seine literarischen Anfänge gestatten konnte. Aber das wäre gegen den Komment der Keifsucht gewesen, die von allem rein literarischen Leben unzertrennlich ist. Platen antwortete mit dem „Romantischen Ödipus", seiner zweiten aristophanischen Komödie, mit fünf Akten auf ein Epigramm von zwei Zeilen! Gegen die „Verhängnisvolle Gabel" ist der „Romantische Ödipus" ein Rückschritt: das freiheitliche Pathos, das durch alle Polemik der ersten Komödie glüht, wird in der zweiten Komödie manches Mal unter dem Qualm persönlicher Zänkerei erstickt.

Keineswegs aber schießt der „Romantische Ödipus" so daneben, wie unbedingte Heineverehrer wohl behauptet haben. Der Heine der Reisebilder ist lange nicht der ganze Heine, und wie unsicher Heine damals noch tastete, beweist gerade die Tatsache, die ihn zunächst mit Platen auseinanderbrachte: seine Waffenbrüderschaft mit Immermann, der mit dem historischen Heine genauso wenig zu tun hat wie mit dem historischen Platen. Die Trauerspiele Immermanns, die Platen im „Romantischen Ödipus" geißelte, verdienten jeden Schlag, der sie traf: so die Tragödie „Kardenio und Zelinde", die Platen mit Recht „die größte, mehr als ekelhafte Metzelung" nannte, die je auf die Bretter geschleppt worden sei, und von der Börne mit höflicheren, aber nicht milderen Worten in seinen „Dramatischen Blättern" schrieb: „Fünf Menschen sterben darin, den sechsten sehen wir zum Tode führen, und wir bleiben kalt. Fünf Menschen lieben siebenmal, und keine dieser Liebesarten rührt uns." Noch schärfer, aber auch noch berechtigter war Platens Hohn über Immermanns „Trauerspiel in Tirol", gegen das Börne sich gleichfalls mit beißender Kritik kehrte. Abgesehen von der hölzernen und steifen Form dieser Tragödie war die einseitig-tendenziöse Verherrlichung Andreas Hofers das reine Gift für die Deutschen der zwanziger Jahre, und Heine ist kaum jemals wieder so gründlich auf dem Holzwege gewesen als mit der Schwärmerei für dies „gewaltige Sonnenlied" des „Adlers" Immermann.

In den dicken Schwaden der Romantik tasteten und taumelten selbst die wenigen, die was davon erkannt hatten. Erst die Julisonne von 1830 brach eine Bresche von Licht in das Nebelmeer. Und von ihren Strahlen sind fortan die Gedichte und Lieder Platens erleuchtet. Sein Aufenthalt in Italien hatte seiner dichterischen Kunst die höchste Vollendung gegeben; er durfte sich rühmen, der deutschen Literatur neue Bahnen erschlossen zu haben. Es war ein ganz neuer Ton, als in den ehernen Rhythmen seiner Oden aus Florenz und Rom der dröhnende Schritt der Geschichte widerhallte. Aber seines „Wesens Wesenheit" entfaltete er dann erst, als ihn die große Juliwoche aus der Vergangenheit in die Gegenwart rief. Einem Freunde, der ihn an Goethe mahnte, antwortete er:


Nicht kann ich harmlos mich in die Pflanzenwelt

Einspinnen, anschaun kantigen Bergkristall

Sorgfältig, Freund! Zu tief ergreift mich

Menschlichen Wechselgeschicks Entfaltung.

Längst ist der Brust ehrgeiziger Trieb entflohn,

Der Jugend Erbteil; aber wofern mir soll

Annahn der Ruhm, mag Hand in Hand er

Gehn mit dem prüfenden Todesengel!


Platen wurde der erste politische Dichter der deutschen Literatur. Kühn und unerschrocken trat er dem bourbonischen, dem habsburgischen, vor allem anderen aber dem zarischen Despotismus entgegen. Mit dem Griffel eines Dante schrieb er seine flammenden Anklagen gegen „den Stamm jener Semiramis mit ihrem zahllos wimmelnden Buhlerheer" und feierte den künftigen Helden, der mit strafendem Geißelhieb nach Asien seine stumpfnüstrigen Sklaven peitscht. In den einfachsten und schlichtesten Tönen, die in ihrer schmucklos tiefen Empfindung noch heute jedes fühlende Menschenherz ergreifen, sang er dem unglücklichen Heldenvolke der Polen das Kampf- und Grablied, und dann pfiff er dem Rubel auf Reisen den unvergessenen Spottreim. In den politischen Gedichten seiner letzten Jahre bewährt Platen, was er vor Zeiten gesungen hatte, dass des Dichters Geist, des Proteus Ebenbild, tausendfach gelaunet sei.

Nach Deutschland ist Platen nur noch zu ein paar kurzen Besuchen zurückgekehrt, seitdem er es im Jahre 1826 verlassen hatte. Die zweite Periode seines Dichterlebens, diejenige, die ihn unsterblich machen sollte, hat er in Italien verlebt. Hier fand er, was er in Deutschland vermisste, nicht nur die Reize der Natur und die Schätze der Kunst, sondern in erster Reihe ein Volk, das ungebärdig an seinen Ketten rüttelte. Nichts törichter abermals, als diesen ganzen Dichter und ganzen Mann zum Weltschmerzler zu stempeln. In der Form ein ästhetischer, war es im Inhalt ein politischer Ekel, der seinem stolzen Herzen den Schrei entriss: Wie bin ich satt von meinem Vaterlande! In den erschütternden Strophen, womit er seine Polenlieder einleitete, sprach er aus, weshalb er sich einem Volke nicht mehr zeigen möge, das geduldig die Bahnen der Knechtschaft wandle, und im Selbstgespräch entrang ihm der Abscheu vor der deutschen Knechtseligkeit das bittere Wort: Du weißt es längst, man kann hiernieden nichts Schlechteres als ein Deutscher sein.

Einsam im Leben, wusste Platen, dass er auch einsam im Tode sein werde:


Und sollt' ich sterben einst wie Ulrich Hutten

Verlassen und allein,

Abziehn den Heuchlern will ich ihre Kutten:

Nicht lohnt's der Mühe, schlecht zu sein!


Verlassen und allein ist Platen am 5. Dezember 1835 in Syrakus gestorben. Aber nicht minder hat sich erfüllt, was er in demselben Gedichte „An einen Ultra" verkündigte:


Du willst der Rede setzen ihre Schranke,

Einkerkern Schrift und Wort?

Umsonst! Es wälzt sich jeder Glutgedanke

Bacchantisch und unsterblich fort.


Ohne Platen kein Herwegh und kein Freiligrath! Alle politischen Dichter der vierziger Jahre haben ihn in schönen Liedern als ihren Meister verherrlicht. Seit sechzig Jahren ist in deutschen Lauten kein Lied gegen die Despoten erklungen, in dem nicht ein Hauch von Platens Geiste geweht hätte. Sein Glutgedanke hat sich unsterblich fortgewälzt und in Geistern gezündet, die vielleicht nie seinen Namen gehört hatten. Ihm ist geworden, wie er begehrte: den Ruhm, den er von der „schoflen Misere" der Mitwelt verschmähte, hat ihm der prüfende Todesengel in der Nachwelt gesichert.

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