Franz Mehring 19010800 Poesie und Prosa des „wahren Sozialismus"

Franz Mehring: Poesie und Prosa des „wahren Sozialismus"

1902

[Aus denn literarischen Nachlass von Karl Marx, Friedrich Engels und Ferdinand Lassalle. Herausgegeben von Franz Mehring, Zweiter Band, Stuttgart 1902, S. 385-388. Nach Gesammelte Schriften, Band 10, S. 513-516]

[…]

Endlich ist noch ein Waffengang zu erwähnen, den Marx1 im Feuilleton der „Deutschen-Brüsseler-Zeitung" „gegen den deutschen Sozialismus in Versen und Prosa" unternommen hat. Am 12. und 16. September hat er es mit Karl Becks „Liedern vom armen Manne" zu tun. Bei der einheitlichen Weltanschauung, die Marx und Engels vertraten, verstand es sich von selbst, dass sie kein besonderes ästhetisches Konto in völliger Trennung von ihrem ökonomischen und politischen Konto führten; obgleich sie sich nur nebenbei mit ästhetischen Fragen beschäftigt haben, so haben sie auch auf diesem Gebiete die fruchtbarsten Anregungen gegeben. Es mag sein, dass sie die verbogene Gerte, um sie wieder geradezubiegen, zu weit zurückgebogen haben, mit andern Worten, dass sie ihrem ökonomischen und politischen Urteil einen zu großen Einfluss auf ihren ästhetischen Geschmack gewährt haben; namentlich in einem mir bekannten handschriftlichen Aufsatz aus dieser Zeit, den Bernstein vor einigen Jahren einmal in der „Neuen Zeit" skizziert hat2, ist ihr ästhetisches Urteil etwa über Freiligraths Gedichte meines Erachtens zu sehr gebunden durch ihr ökonomisches und politisches Bekenntnis. Allein im Wesen der Sache haben sie durchaus Recht gehabt, wenn sie jener ästhetischen Verbildung entgegentraten, die aus der Kunst ein ebenso überirdisches und übersinnliches, deshalb aber unmenschliches Wesen machen wollte wie aus der Religion.

Wenn dem modischen Naturalismus vom Standpunkte des historischen Materialismus seine Halbheit, seine Unsicherheit, seine Weinerlichkeit, sein Überfluss an Geschrei und sein Mangel an Wolle vorgehalten wurde, so pflegte er darauf mit heiterer Entrüstung zu erwidern, er solle wohl das „Kapital" von Marx dramatisieren. Wie Marx selbst darüber dachte, zeigt seine Besprechung der „Lieder vom armen Mann". Beck begann mit einem großen Gedichte an das Haus Rothschild, und dazu bemerkt Marx: „Gleich in der Ouvertüre konstatiert er [Beck] seine kleinbürgerliche Illusion, dass das Gold nach Rothschilds ,Launen herrscht'; eine Illusion, die eine ganze Reihe von Einbildungen über die Macht des Hauses Rothschild nach sich zieht. Nicht die Vernichtung der wirklichen Macht Rothschilds, der gesellschaftlichen Zustände, worauf sie beruht, droht der Dichter; er wünscht nur ihre menschenfreundliche Anwendung. Er jammert, dass die Bankiers keine sozialistischen Philanthropen sind, keine Schwärmer, keine Menschheitsbeglücker, sondern eben Bankiers. Beck besingt die feige kleinbürgerliche Misere, den ,armen Mann', den pauvre honteux mit seinen armen, frommen und inkonsequenten Wünschen,… nicht den stolzen, drohenden und revolutionären Proletarier. Die Drohungen und Vorwürfe, womit Beck das Haus Rothschild überschüttet, wirken allem guten Willen zum Trotz noch burlesker auf den Leser als eine Kapuzinerpredigt. Sie beruhen auf der kindlichsten Illusion über die Macht der Rothschilde, auf einer gänzlichen Unkenntnis des Zusammenhangs dieser Macht mit den bestehenden Zuständen, auf einer vollkommenen Täuschung über die Mittel, welche die Rothschilde anwenden mussten, um eine Macht zu werden und um eine Macht zu bleiben. Der Kleinmut und der Unverstand, die weibliche Sentimentalität, die jämmerliche, prosaisch-nüchterne Kleinbürgerlichkeit, welche die Musen dieser Leier sind, tun sich vergebens Gewalt an, um fürchterlich zu werden. Sie werden nur lächerlich. Ihr forcierter Bass schlägt beständig in ein komisches Falsett um, ihre dramatische Darstellung des gigantischen Ringens eines Enceladus bringt es nur zu den possierlichen Gliederverrenkungen eines Hampelmanns."3 Die Aktualität dieser Kritik springt in die Augen, wenn man sich erinnert, mit welch biedermännischem Eifer Herr Gerhart Hauptmann das sentimentale Mitleid als seine Muse und den pauvre honteux als seinen Helden deklarierte, sobald er in den Verdacht geriet, in seinen Webern „den stolzen, drohenden und revolutionären Proletarier" geschildert zu haben.

Freilich hat Marx selbst nicht geahnt, wie unheimlich lange er mit dieser Kritik aktuell bleiben würde. Er fasste sein Urteil über Beck dahin zusammen: „Beck hat unstreitig mehr Talent und ursprünglich auch mehr Energie als die Mehrzahl des deutschen Literatenpacks. Sein einziges Leiden ist die deutsche Misere, zu deren theoretischen Formen auch der pomphaft-weinerliche Sozialismus und die jungdeutschen Reminiszenzen Becks gehören. Ehe nicht in Deutschland die gesellschaftlichen Gegensätze eine schärfere Form erhalten haben durch eine bestimmtere Sonderung der Klassen und momentane Eroberung der politischen Herrschaft durch [die] Bourgeoisie, ist für einen deutschen Poeten in Deutschland selbst wenig zu hoffen. Einerseits ist es ihm in der deutschen Gesellschaft unmöglich, revolutionär aufzutreten, weil die revolutionären Elemente selbst noch zu unentwickelt sind, andererseits wirkt die ihn von allen Seiten umgebende chronische Misere zu erschlaffend, als dass er sich darüber erheben, sich frei zu ihr verhalten und sie verspotten könnte, ohne selbst wieder in sie zurückzufallen. Einstweilen kann man allen deutschen Poeten, die noch einiges Talent haben, nichts raten, als auszuwandern in zivilisierte Länder."4 Nun, ausgewandert sind die deutschen Poeten nicht, aber dafür wurden sie um so hilflosere Opfer der „chronischen Misere", die mit der „bestimmteren Sonderung" der Klassen, dank der Bourgeoisie, nur einen noch ausgeprägteren reaktionären Charakter erhalten hat.

Außer mit Beck rechnete Marx in den Feuilletons gegen den „wahren Sozialismus" auch mit Karl Grün ab, und zwar am 21., 25. und 28. November sowie am 5. und 9. Dezember.5 Grün hatte ein langstieliges Buch geschrieben, worin er Goethe „vom menschlichen Standpunkte" misshandelte, das heißt alle langweiligen, kleinlichen und philisterhaften Seiten des großen Dichters zusammensuchte, um daraus den „wahren Menschen" zu destillieren. Grüns Buch ist längst in den Schlünden der Makulatur versunken, aus denen es keine Wiederkehr gibt, und darunter leidet auch die Kritik von Marx. Jedoch mag hier wenigstens eine charakteristische Probe gegeben werden. So schreibt Marx: „Goethes Urteil: ,Nichts ist widerwärtiger als die Majorität, denn sie besteht aus wenigen kräftigen Vorgängern, aus Schelmen, die sich akkommodieren, aus Schwachen, die sich assimilieren, und der Masse, die nachtrollt, ohne nur im mindesten zu wissen, was sie will' – dies echte Spießbürgerurteil, dessen Unwissenheit und Kurzsichtigkeit nur auf dem beschränkten Terrain eines deutschen Sedezstaats möglich ist, gilt Herrn Grün für ,die Kritik des späteren' (d. h. modernen) ,Gesetzesstaats'. Wie wichtig es sei, erfahre man ,z. B. in jeder beliebigen Deputiertenkammer' … Ein paar Seiten weiter … ist dem Herrn Grün ,die Julirevolution' ,fatal', und schon p. 34 wird der Zollverein scharf getadelt, weil er ,dem Nackten, Frierenden die Lappen zur Bedeckung seiner Blöße noch verteuert, um die Stützen des Throns (!!), die freisinnigen Geldherren' (die bekanntlich im ganzen Zollverein ,dem Thron' opponieren) ,etwas wurmfester zu machen'. Die ,Nackten' und ,Frierenden' werden bekanntlich in Deutschland überall… vorgeschoben, wo es gilt, die Schutzzölle oder irgendeine andre progressive Bourgeoismaßregel zu bekämpfen, und ,der Mensch' schließt sich ihnen an."6 Man sieht beiläufig auch aus diesem Satze, dass Marx die damalige schutzzöllnerische Bewegung in Deutschland als historischen Fortschritt betrachtete.

Im Übrigen entschuldigt er sich selbst, dass Grün ihn zwinge, nur über eine Seite Goethes zu urteilen, und zwar nicht über Goethes kolossale Seite. Wie Marx selbst über Goethe dachte, konnte er nur in wenigen Sätzen andeuten; er hob als den entscheidenden Punkt den fortwährenden Kampf zwischen dem genialen Dichter und dem behutsamen Frankfurter Ratsherrenkind oder Weimarischen Geheimrat hervor. „So ist Goethe bald kolossal, bald kleinlich; bald trotziges, spottendes, weltverachtendes Genie, bald rücksichtsvoller, genügsamer, enger Philister."7 Ohne Zweifel war damit der Weg angedeutet, der allein zu einem erschöpfenden Verständnis Goethes führen, der im weiteren Sinn überhaupt die Literaturgeschichte aus den Regionen des belletristelnden Geschwätzes auf die Höhe einer wirklichen Wissenschaft erheben kann. […]

1 Der Autor ist nicht Marx, sondern Engels.

2 Gemeint ist der Aufsatz Friedrich Engels' „Die wahren Sozialisten". Engels nimmt dort zu Freiligraths Gedichtsammlung „Ca ira" Stellung und verurteilt die Leichtfertigkeit und philisterhaften Vorstellungen, mit denen Freiligrath die Revolution darstellt. „Alles geht so rasch, so flott, dass über der ganzen Prozedur gewiss keinem einzigen Mitgliede des ,Proletarier-Bataillons' die Pfeif ausgegangen ist. Man muss gestehen, nirgends machen sich die Revolutionen mit größerer Heiterkeit und Ungezwungenheit als im Kopf unsres Freiligrath." (In: Marx/Engels: Werke, Bd. 4, S. 279.)

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