Franz Mehring 19000117 Tragikomische Zwischenspiele

Franz Mehring: Tragikomische Zwischenspiele (Auszug)

17. Januar 1900

[Die Neue Zeit, 18. Jg. 1899/1900, Erster Band, S. 516/517. Nach Gesammelte Schriften, Band 10, S. 510-512]

[…] Bereits vor einigen Wochen hatte Herr Delbrück ein Gedicht Herweghs aus den vierziger Jahren ausgegraben und mit wohlweislicher Auswahl einige Strophen daraus mitgeteilt, die eine gewisse Flottensehnsucht zu atmen schienen. Die „Hilfe" hatte dann den genialen Coup durch die Arabeske verschönert, in einer Parteigeschichte der Sozialdemokratie werde Herwegh als sozialistischer Dichter anerkannt, was beiläufig, so gleichgültig es in diesem Zusammenhang wäre, nicht einmal richtig war, denn in der von der „Hilfe" angezogenen Parteigeschichte wird Herwegh als politischer Lyriker gewürdigt, während ihm gerade bestritten wird, ein sozialistischer Lyriker gewesen zu sein. Nun aber schlägt Herr Ludwig Pietsch in der „Vossischen Zeitung" gleich mit Siebenmeilenstiefeln sowohl Herrn Delbrück wie die „Hilfe", indem er das Gedicht Herweghs mit wohlweislichen Auslassungen mitteilt und daran die Aufforderung knüpft, die „hohe Behörde" solle einen Kranz auf Herweghs Grab niederlegen lassen, dessen Schleifenbänder die Inschrift trügen: „Dem prophetischen Dichter der deutschen Flotte das Kaiserlich deutsche Marineamt." Das ist nicht mehr bloß gelinder Wahnsinn, das ist schon die Tollheit hoch zu Ross.

Nur um Herweghs willen, auf dessen Grabe sich diese Narrentänze abspielen, sei daran erinnert, dass die politische Lyrik der vierziger Jahre in historisch sehr begreiflichem Zusammenhang in der deutschen Flotte ein Symbol der deutschen Freiheit sah. Die erstarkende Bourgeoisie, die damals noch einige Kraft und Mannheit besaß, drängte ebenso aufs Meer, wie sie zur Freiheit drängte. Kein Flottenlied der damaligen politischen Lyrik, das in der Flotte etwas anderes sah als eine Waffe gegen den Despotismus! Das passt nun freilich zu den heutigen Flottenplänen, die den zivilisierten Seeraub auf höchster Stufenleiter organisieren sollen, wie die Faust aufs Auge! Deshalb wird Herweghs Flottenlied von seinen heutigen Bewunderern in schmählicher Weise verstümmelt; gerade die entscheidende Strophe wird ausgelassen, und so mag sie hier denn stehen:


Das Meer wird uns vom Herzen spülen

Den letzten Rost der Tyrannei,

Sein Hauch die Ketten wehn entzwei

Und unsre Wunden kühlen.

O lasst den Sturm in euren Locken wühlen,

Um frei wie Sturm und Wetter euch zu fühlen;

Das Meer, das Meer macht frei!


Wie Herwegh, so hat auch Freiligrath die Flotte als Symbol der Freiheit gefeiert, und wir kommen der anscheinend doch nur schwachen Kenntnis, die Herr Delbrück, die „Hilfe" und Herr Ludwig Pietsch von der politischen Lyrik der vierziger Jahre besitzen, gern entgegen, indem wir ihnen ein Flottenlied Freiligraths für ihre Flottenagitation empfehlen; es ist nach der Melodie der Marseillaise zu singen:


Ihr fragt erstaunt: Wie mag es heißen?

Die Antwort ist mit festem Ton:

Wie in Österreich, so in Preußen

Heißt das Schiff: Revolution!

Es ist die einz'ge richt'ge Fähre -

Drum in See, du kecker Pirat!

Drum in See, und kapre den Staat,

Die verfaulte schnöde Galeere!

Frisch auf denn, spring hinein! Frisch auf, das Deck bemannt!

Stoßt ab! Stoßt ab! Kühn durch den Sturm! Sucht Land und findet Land!


Doch erst, bei schmetternden Drommeten,

Noch eine zweite, wilde Schlacht!

Schwarzer Brander, schleudre Raketen

In der Kirche scheinheilige Yacht!

Auf des Besitzes Silberflotten

Richte kühn der Kanonen Schlund!

Auf des Meeres rottigem Grund

Lasst der Habsucht Schätze verrotten!

Frisch auf denn, springt hinein …


O stolzer Tag, wenn solche Siege

Das Schiff des Volkes sich erstritt!

Wenn, zu Boden segelnd die Lüge,

Zum ersehnten Gestad es glitt!

Zum grünen Strand der neuen Erde,

Wo die Freiheit herrscht und das Recht,

Wo kein Armer stöhnt und kein Knecht,

Wo sich selber Hirt ist die Herde!

Frisch auf denn, springt hinein …

[…]

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