Franz Mehring 18950100 Zensurschnitzel aus Hamburgs Brand

Franz Mehring: Zensurschnitzel aus Hamburgs Brand

Januar 1895

[Die Volksbühne, 3. Jg. 1894/95, Heft 5, S. 12-14. Nach Gesammelte Schriften, Band 10, S. 383 f.]

Wir fragen Dich, du sturmbewegte Glut,

Warum du diese Stadt erwählt zur Beute?

Warum nicht eine Stadt von jungem Blut,

Voll höfisch-feiner adeliger Leute?

Sieh doch die Spree-Palmyra in der Mark,

Die heil'ge Stadt, in ihrem Glauben stark.

Jetzt ist die neue Babel fromm geworden

Und hat nach oben ihren Blick gewandt.

Sie trägt an Hals und Busen Kreuz und Orden,

Ein adliges Diplom in ihrer Hand.


Hofräte, Fähnderichs und Kammerherrn,

Die Pendel an der Uhr der Langeweile,

Ein bunter Rock, der Schlüssel und der Stern:

Das flackert hin und her mit Windeseile.

So leben sie in echtem Knechtessinn

Ein vielgeschäftig Far niente hin.

Aus jedem Klotze haun sie ihre Götter

Vor jedem Fetisch knien sie andachtsvoll,

Der König, Liszt, Manoeuvre, schönes Wetter:

Die Langeweile macht sie wirr und toll.


Sieh jene andere glatte Künstlerstadt,

Das prächtige Athen der Jesuiten!

Auf üppgem Sofa ruht sie gähnend matt,

Das Haupt vermummt gleich einem Eremiten.

Die Stadt, romantisch und antik zugleich,

An Schönheit arm, an Schminke überreich.

Sie schwingt den Thyrsus, eine Kunstmänade,

Und tanzt in trunknem Wahnsinn, wüst und nackt

Beim Karneval die erste Galoppade

Nach ihres königlichen Spielmanns Takt.


Hierhin, hierhin, in diese Schranzenbrut,

In diese Bedlams wohlbestallter Irren

Stürz dich mit Ungestüm, du gier'ge Glut,

Lass deine feurigen Geschosse schwirren!

Hier sieht man noch auf vielen tausend Zehn

Das heuchlerische Mittelalter gehn.

Was will solch schleichend Volk in unseren Zeiten,

Dies ewge Angebinde alter Nacht,

Da wir auf dem Kothurn der Freiheit schreiten

Am hellen Tage hin zur offnen Schlacht?


Wir entnehmen die vorstehenden Verse den „Liedern der Gegenwart", die im Jahre 1842 in zweiter Auflage bei Th. Theile in Königsberg erschienen sind. Zu ihrem Verständnis bedarfs nicht vieler Worte. Im Jahre 1842 ging ein großer Teil Hamburgs in einem furchtbaren Brande unter. Die schreckliche Katastrophe entfachte in unserem Dichter den freundlichen Wunsch, sie einigen deutschen Residenzen an den Hals zu wünschen. Die „Spree-Palmyra in der Mark" soll Berlin, das „prächtige Athen der Jesuiten" soll München sein. Der junge Poet aber, der „auf dem Kothurn der Freiheit am hellen Tage hin zur offnen Schlacht" schreitet, ist leider nicht bei seinem Ziele angelangt. Er hieß 1842 Studiosus Rudolf Gottschall und heißt heute Geheimer Hofrat Rudolf von Gottschall. „Ein adliges Diplom in seiner Hand", „ein Pendel an der Uhr der Langeweile", kniet er vor jedem Fetisch andachtsvoll und haut aus jedem Klotze seinen Gott.

Doch nicht um den alten Herrn, dem wir seine Orden und Titel ohne jeden Neid gönnen, durch die Erinnerung an seine Jugendsünden zu kränken, haben wir seine etwas brenzligen Verse wieder abgedruckt. Sie schienen uns um ihres Inhalts willen sehr zeitgemäß zu sein. Die Ungeniertheit, womit die Poeten der Bourgeoisie, als sie noch jung war, die Brandfackel nicht bloß figürlich, sondern in pathetischem Ernste über den Palästen der Könige schwangen, steht in bezeichnendem Gegensatze zu der zitternden Ängstlichkeit, womit heutzutage die altgewordene Bourgeoisie Feuer und Licht auf dem Gebiete der Literatur und des Theaters bewahrt oder zu bewahren sucht. Den Vers, der sich sonst noch unter den heutigen Zeitläuften auf die Verse des jungen Herrn Gottschall machen lässt, werden unsere Leser sich selbst machen.

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