Franz Mehring 19041221 Zwischen zwei Fronten

Franz Mehring: Zwischen zwei Fronten

21. Dezember 1904

[Die Neue Zeit, 23. Jg. 1904/05, Erster Band, S. 393-397. Nach Gesammelte Schriften, Band 10, S. 366-370]

Wenn der deutschen Nation neue Militärlasten aufgehalst werden sollen, wird gewöhnlich das erhebende Lied angestimmt von den zwei Fronten, zwischen denen das Deutsche Reich eingeklemmt sei, der französischen und der russischen Front. Es ist nun nicht unsere Absicht, heute diese Tirade auf ihren etwaigen Kern zu untersuchen, was ohnehin von sozialdemokratischer Seite oft genug geschehen ist. Das Schlagwort hat aber noch einen anderen Sinn, und zwar einen, wie zugegeben werden muss, sehr bedenklichen; nicht nur als angebliches „Volk in Waffen", sondern auch als vielgepriesenes „Volk der Dichter und Denker" steht die deutsche Nation oder stehen vielmehr ihre herrschenden Klassen zwischen zwei Fronten, der französischen und der russischen Front.

Es ist eine bekannte Tatsache, wie anregend und befruchtend die französische Aufklärungsliteratur des achtzehnten Jahrhunderts auf Deutschland gewirkt hat, wie ernst sie in Deutschland genommen wurde, während in Frankreich selbst ihre berühmtesten Träger, wie Voltaire, nicht entfernt ihre historischen Konsequenzen ahnten.

Heute können wir die analoge Erscheinung beobachten, dass die sozialistische Literatur in Russland aufs eifrigste studiert wird, während die „deutsche Bildung" sich wie toll vor Entzücken gebärdet, wenn der Reichsspaßmacher Bülow1 seine Grimassen über diese Literatur schneidet. Wäre der neureichsdeutsche Protz nicht aller historischen Bildung bar, so könnte ihm dieser historische Vergleich etwas zu raten geben. Eine Nation, die von der anderen zu lernen versteht, wird dieser auf die Dauer immer über den Kopf wachsen, ein Satz, der ehedem, als es noch eine bürgerliche Bildung in Deutschland gab, bis zum Überdruss von jedem Schulmeister bewiesen wurde, namentlich an der „französischen Oberflächlichkeit", die sich um nichts bekümmere, was außerhalb der französischen Grenze passiere, und deshalb von Rechts wegen von Leipzig bis Sedan unterlegen sei.

Erklärt es sich nun vom historischen Standpunkt aus ganz natürlich, dass die unentwickeltere von der entwickelteren Nation zu lernen sucht, wie zur Zeit der bürgerlichen Aufklärung die Deutschen von den Franzosen und zur Zeit der sozialistischen Aufklärung die Russen von den Deutschen, so ist es ein in seiner Art einziges Schauspiel, dass, während die bürgerlichen Patrioten in Deutschland mit Füßen treten, was einst der wirkliche Schatz ihrer Klasse gewesen ist, eben dieser Schatz von den missachteten Franzosen in aller Emsigkeit gehoben wird. Zur Zeit, wo der biedere Magistrat von Nürnberg den echten Schildbürgerbeschluss fasst, an irgendeiner versteckten Stelle eines riesigen Bismarck-Denkmals ein Reliefbild Ludwig Feuerbachs anzubringen, erscheint in Frankreich eine umfassende und vortreffliche Monographie über den Einfluss Feuerbachs auf die deutsche Literatur. Das ist ein historisches Genrebildchen, das die deutsche Bourgeoisie zum Nachdenken veranlassen könnte, wenn sie anders das Nachdenken nicht längst über dem Profitschlagen verlernt hätte.

Was uns zu diesen Bemerkungen veranlasst, sind drei kürzlich erschienene, umfangreiche Werke der französischen Literatur über deutsche Schriftsteller, die in ihrem Vaterland mehr oder minder vergessen sind.* Will man diesen Werken einen Vorwurf machen, so ist es der, allzu viel von der „französischen Oberflächlichkeit" abgelegt und allzu viel von jener „deutschen Gründlichkeit" angenommen zu haben, womit die deutsche Konrektorenliteratur einher zu prunken pflegt. Besonders gilt dies von der Arbeit über Gutzkow und das Junge Deutschland. Herr Dresch panzert so ziemlich jede Seite mit einem halben Dutzend von Zitaten, die unzweifelhaft beweisen, dass er seinen Gegenstand aufs gründlichste studiert hat, aber leider fehlt seinem Buche die historische Perspektive. Um nur ein Beispiel anzuführen, so behauptet er, dass Gutzkow vor Marx und Engels den Hegelianismus bekämpft und eine Formel des historischen Materialismus gegeben habe. Das kann man nur schreiben, wenn man weder von Hegel noch von Marx etwas weiß. Als Gutzkow im Jahre 1835 eine mehrmonatige Gefängnisstrafe verbüßte, schrieb er, um die Langeweile der Haft abzukürzen, eine „Philosophie der Geschichte", ohne andere Hilfsmittel, wie er selbst sagt, als die Verwünschungen, die frühere Bewohner seiner Gefängniszelle an die Wände gekritzelt hatten. Unter seinen mancherlei schwachen Schriften ist diese wohl die allerschwächste; Immermann hat sie schon in seinem „Münchhausen" witzig verspottet, und ein deutscher Bewunderer Gutzkows sagt von ihr, mit ihren, in flüchtiger unsystematischer Weise aneinandergereihten Einfällen, Ahnungen, Bemerkungen und Berichtigungen komme sie gar nicht an die Hegelsche Philosophie heran. Gutzkow selbst hat übrigens später, in einer der autobiographischen Schriften, die Herr Dresch häufig genug zitiert, mit ehrenwerter Selbsterkenntnis zugegeben, dass er nicht der Mann gewesen sei, mit „Hegels abstraktem Formelkram" fertig zu werden; seinen Übergang zur Bühnentätigkeit rechtfertigt er unter ausdrücklichem Hinweis auf die „Hallischen Jahrbücher" damit, dass die Fortsetzung des großen neuzeitlichen Kampfes andere Waffen erfordert hätte, als er zu führen verstanden habe.

An solchen Missgriffen ist das Werk des Herrn Dresch nicht arm. Er ist hierin allzu abhängig von seinen deutschen bürgerlichen Quellen. Gegen eine Ehrenrettung Gutzkows und des Jungen Deutschlands, insoweit als sie von den Julian Schmidt, Treitschke und sonstigen Borussen arg misshandelt worden sind, ist nichts einzuwenden, aber man darf sie deshalb nicht zu den klassischen Trägern der deutschen Geistesentwicklung in den dreißiger und vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts machen. Das sind sie in keiner Weise gewesen. Mit Recht sieht Dresch in Gutzkow den bedeutendsten der jungdeutschen Schriftsteller, aber Gutzkows bedeutende Leistungen, seine großen Romane, fallen erst in die Zeit, wo es kein Junges Deutschland mehr gab. Auch in dieser Beziehung gibt das Werk von Dresch schließlich ein schiefes Bild von Gutzkow, indem es, allerdings seiner Anlage gemäß, dessen hervorragendste Arbeiten beiläufig oder gar nicht erwähnt. Vom „Zauberer von Rom" erfahren wir, außer durch ein paar beiläufige Hinweise, nur durch folgende, von Dresch neu veröffentlichte Briefstelle Gutzkows: „Ich schreibe an meinem großen Roman und sehne mich, diese Riesenarbeit auch nur zur Hälfte erst überstanden zu haben. Der Hof liegt nicht so bequem in beiden Rittern." Das soll nun einer verstehen; offenbar hat Gutzkow geschrieben: Der Stoff liegt nicht so bequem wie bei den Rittern (vom Geiste). Immerhin wiegen solche kleinen Versehen leicht gegen den entscheidenden Grundmangel des Werkes, den wir schon damit kennzeichneten, dass ihm die historische Perspektive fehle.

Da sind die Herren Basch und Levy viel mehr auf der richtigen Fährte, wenn sie Stirner und Feuerbach zum Gegenstand ihrer Studien machen. Herr Basch ist Professor an der Universität in Rennes, und seinem Buche sitzt wie angegossen, was Adolf Hillebrand, der unter dem zweiten Kaiserreich ebenfalls Professor an einer französischen Provinzialuniversität war, über diese Art Literatur sagt.

Es ist eines jener Werke, durch welche die besseren unter den französischen Fakultätsprofessoren von Zeit zu Zeit das Publikum an ihre Existenz und Existenzberechtigung erinnern zu müssen glauben. Es sind dies meist trefflich angeordnete und komponierte Bücher, elegant, aber mit Maß in der Eleganz, geschrieben. Solche Bücher sind fast immer, auch was den Inhalt anbetrifft, sorgfältig gearbeitet, doch pflegt derselbe meist, was Gedanken und Fakta anlangt, nicht durch allzu große Originalität zu sündigen. Es sind gefällige, zahme, ziemlich erschöpfende Bücher, welche dem Lesepublikum die Mühe ersparen, Aristophanes oder Lukrez, Dante oder Shakespeare selber zu lesen, und ihm doch erlauben sollen, einen Begriff davon zu haben und vorkommendenfalls ein Urteil darüber auszusprechen."

Genau nach diesem Schema hat Herr Basch sein Buch gearbeitet.

Das Beste daran ist der erste Teil, der Abriss von Max Stirners Leben und Werk; man kann diese klare und verständliche Darstellung nur mit Vergnügen lesen. Im zweiten Teile, der den anarchistischen Individualismus als die Synthese des juristischen Individualismus und des Anarchismus nachweisen soll, treibt das Schifflein des Verfassers ziemlich hilf- und ratlos zwischen den ideologischen Sandbänken namentlich auch der deutschen Universitätsweisheit umher. Es erübrigt, näher darauf einzugehen, da diese Dinge kein großes Interesse haben und Herr Basch sie schließlich selbst auf der Schaukel des Einerseits-Andererseits schweben lässt. Einerseits sind wir abgeschlossene und unterschiedene Ichs, aber andererseits hat das Ich Fenster, wodurch die Bilder und Geräusche der Außenwelt dringen, ohne die das Ich, wie es scheint, keine wirkliche Existenz haben würde. Im Grunde und am letzten Ende entscheidet in den Grundproblemen der Soziologie, der Metaphysik und der Moral nicht die Vernunft, sondern das Gefühl, das seelische Temperament. Mit dieser dürftigen Weisheit entlässt uns schließlich Herr Basch.

Höher steht das Buch Albert Levys über Feuerbach, obgleich Herr Levy ebenfalls Provinzprofessor, und zwar am Lyzeum von Toulouse, ist. Es gibt nicht nur eine klare Übersicht über die Philosophie Feuerbachs, sondern untersucht auch mit eindringendem Verständnis ihren Einfluss auf Strauß, Ruge, Marx und Engels, Stirner, Moleschott, Hettner, Herwegh, Richard Wagner und Gottfried Keller. Am ausführlichsten wird mit Recht der Einfluss Feuerbachs auf Marx und Engels beleuchtet, und wir müssen diese Untersuchung, bis auf eine kleine Einschränkung, als musterhaft bezeichnen.

Unsere Einschränkung bezieht sich auf die Polemik, die Herr Levy dagegen führt, dass Engels in seiner bekannten Schrift über Feuerbach dessen letzte Arbeiten nicht genügend berücksichtigt haben soll. Herr Levy meint, Feuerbach würde die historische Entwicklung zwar nicht in der marxistischen Interpretation anerkannt haben, wonach der ökonomische Faktor nicht nur die herrschende oder die vorwiegende, sondern die einzige wirkliche Triebkraft der Geschichte sei, weil alle Ideologien nur Widerspiegelungen der Produktivkräfte seien, aber das Prinzip der Entwicklung habe Feuerbach allerdings anerkannt, und seine Moral fordere ausdrücklich, um verwirklicht zu werden, eine Umgestaltung der Gesellschaft und sei keineswegs auf die kapitalistische Gesellschaft beschränkt, wie Engels annehme. Feuerbach habe Darwin und Marx gekannt und sich gegen Kant erklärt, der eine allgemeine Moral, nicht nur für alle Menschen, sondern noch obendrein für alle denkbaren vernünftigen Wesen verkündet habe.

Daran ist soviel richtig, dass Feuerbach in seinen letzten Lebensjahren sich wiederholt energisch gegen die bürgerlichen Moralpredigten ausgesprochen hat, die an die Adresse der arbeitenden Klassen gerichtet werden, eben aus dem Gesichtspunkt heraus, dass die Moral der arbeitenden Klassen wegen ihrer Klassenlage eine ganz andere sei als die Moral der besitzenden Klassen. Auch ist richtig, dass Engels diese Äußerungen nur flüchtig berührt hat. Hätte er sie aber auch so ausführlich berücksichtigt, wie Herr Levy wünscht, so würde er seine historische Auffassung Feuerbachs im Wesen der Sache nicht geändert haben. Das eine Mal, wo Feuerbach das „Kapital" von Marx erwähnt, nennt er es nur eine „wenigstens an unbestreitbaren Tatsachen interessantester, aber auch schauerlichster Art reiche Schrift" und beweist dadurch, dass er dem eigentlichen Wesen des Werkes, wenn nicht ablehnend, so doch fremd gegenübersteht. Dass Herr Levy selbst den historischen Materialismus nicht versteht, zeigt die Interpretation, die er von der „marxistischen Interpretation" gibt.

Sonst ist das Buch Levys aber eine sehr tüchtige Arbeit, die ihm kein deutscher Professor vorgemacht hat und vermutlich auch nicht nachmachen wird.

1 Reichsspaßmacher Bülow – gemeint ist Bernhard Fürst von Bülow, 1900-1909 deutscher Reichskanzler, der seine Reden bis zum Überdruss mit klassischen Zitaten schmückte.

* J. Dresch, Gutzkow et la Jeune Allemagne. Paris 1904, Société nouvelle de librairie et d'edition. 483 S. – Viktor Basch, L'individualisme anarchiste. Max Stirner, Paris 1904, Felix Alcan. 294 S. – Albert Levy, La philosophie de Feuerbach et son influence sur la littérature allemande. Paris 1904, Felix Alcan. 544 S.

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