Franz Mehring 19070904 Literarische Rundschau (Karl Vorländer, Kant, Schiller, Goethe; Günther Jacoby, Herders und Kants Ästhetik)

Franz Mehring: Literarische Rundschau

Karl Vorländer, Kant, Schiller, Goethe; Günther Jacoby, Herders und Kants Ästhetik

4. September 1907

[Die Neue Zeit, 25. Jg. 1906/07, Zweiter Band, S. 780-782. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 560-562]

Karl Vorländer, Kant, Schiller, Goethe. Gesammelte Aufsätze. Leipzig 1907, Verlag der Dürrschen Buchhandlung. 294 Seiten. Preis geh. 5 Mark.

Günther Jacoby, Herders und Kants Ästhetik. Leipzig 1907, Verlag der Dürrschen Buchhandlung. 345 Seiten. Preis geh. 5,40 Mark.

Das neue Buch Vorländers besteht aus drei Aufsätzen, die er über Schiller und Kant im Jahre 1894, und drei anderen Aufsätzen, die er über Goethe und Kant in den Jahren 1897 und 1898 veröffentlicht hat. Alle diese Aufsätze sind so fleißig und sorgfältig gearbeitet, wie man von Vorländer gewöhnt ist, und wir begreifen vollkommen, dass er sie in den zum Teil schon eingegangenen Zeitschriften, worin sie ursprünglich erschienen waren, nicht hat für immer begraben sein lassen wollen1. Aber wir zweifeln daran, ob er richtig gehandelt hat, als er diesem begreiflichen Wunsche nachgab, und zwar nicht nur und nicht einmal in erster Reihe, weil diese Aufsätze doch nur Spezialforscher interessieren, die sie auch an entlegener Stätte gefunden hätten, sondern namentlich, weil sie den Verfasser noch in einem Stadium der Entwicklung zeigen, das er inzwischen, wie namentlich seine „Geschichte der Philosophie" zeigt, längst überwunden hat.

Wir wollen ihm nicht mit bürgerlichen Gelehrten vorwerfen, dass er Goethe und Schiller zu Schleppenträgern Kants machen oder alles Große auf den Namen Kants taufen wolle, aber unzweifelhaft hat er in jugendlichem Eifer mehr mit dem beredten und keineswegs unehrlichen Eifer des Advokaten, als mit der sicher abwägenden Unbefangenheit des wissenschaftlichen Forschers einen Zusammenhang Kants mit Goethe und Schiller nachzuweisen gesucht, der in solchem Umfang niemals bestanden hat. Der erste Aufsatz gleich, der „Schillers Verhältnis zu Kant in seiner geschichtlichen Entwicklung" schildern soll, leidet an dem Fehler, dass er nach Registrierung der minutiösesten Briefstellen, die Schiller als Jünger Kants darstellen, gerade da abbricht, wo Schiller sich von Kant emanzipiert, nämlich bei Schillers „Philosophischen Gedichten", in denen Schiller die „Aufhebung des Kantischen Imperativs" vollzieht. Vorländer begnügt sich mit der Äußerung: „So reizvoll die Aufgabe wäre, diese reifsten Blüten des Schillerschen Genius nebst seinen früheren Gedichten philosophisch zu durchmustern, denken wir doch zu hoch davon, um einen solchen Gegenstand beiläufig erledigen zu wollen." Wenn es nun aber gerade für Vorländers Beweisthema auf diesen Gegenstand ankäme? Den „Philosophischen Gedichten" folgten die „Xenien" mit ihrem bekannten bitteren Ausfall gegen Kant, den Vorländer teils dadurch parieren will, dass er die „Xenien" herabsetzt, und teils dadurch, dass er die Spitze des Ausfalls gegen Kants Schüler gerichtet sein lässt, obgleich der Stoß mitten ins Herz der Kantischen Ethik traf. Und als sich Schiller wieder der dramatischen Produktion zuwandte, wollte er von Kant überhaupt nichts mehr wissen; aus der Zeit vom „Wallenstein" bis zum „Tell" weiß Vorländer nur eine Äußerung Schillers über Kant beizubringen, und die wendet sich scharf wider das „mönchische" Wesen Kants, im Zusammenhang mit Kants Lehre vom radikal Bösen, mit der sich Schiller sowenig wie Goethe versöhnen konnte.

Begreiflich genug, dass Schiller, je mehr ihn seine dramatische Produktion wieder auf große historische Probleme lenkte, um so weniger mit Kants engherzig-trockener Philistermoral anzufangen wusste. Vorländer sucht nun allerdings in seinem zweiten und dritten Aufsatz einen Zitatenbeweis dafür zu führen, einmal dass Kants ethischer Rigorismus nur aus dem Bedürfnis methodisch scharfer Begriffsbestimmung entstanden und insoweit auch von Schiller anerkannt worden, dann aber dass Schillers ästhetische Ergänzung dieses Rigorismus bei Kant schon im Keime vorhanden gewesen sei. Unseres Erachtens würde Kant selbst diese Beweisführung entschieden abgelehnt haben, indessen wir geben bereitwillig zu, dass Vorländer ein ungleich besserer Kenner Kants ist als wir, und so möchten wir nur für Schiller behaupten, dass es ihm, wie namentlich seine „Philosophischen Gedichte" zeigen, nicht auf eine mildernde Vollendung, sondern auf einen völligen Bruch mit Kants ethischem Rigorismus angekommen ist.

Immerhin ist der mächtige Einfluss, den Kant zeitweise auf Schiller gehabt hat, unmöglich zu bestreiten und insofern eine Untersuchung ihrer gegenseitigen Beziehungen von historischem Interesse. Dagegen halten wir die drei, den größeren Teil des Bandes füllenden Aufsätze, in denen Vorländer die Beziehungen Goethes zu Kant prüft, für eine sehr mühsame, aber trotz oder gar in ihrer Mühsamkeit doch leicht irreleitende Arbeit. Vorländer hebt selbst die Wesenskluft hervor, die zwischen dem Dichter Goethe und dem Philosophen Kant bestand, aber nachdem er so sein literarisches Gewissen salviert hat, sucht er doch über diese Kluft eine Brücke zu schlagen, die unseres Erachtens nur auf papierenen Pfeilern beruht. Was über Goethes Beziehungen zu Kant zu sagen ist, das sagt Günther Jacoby in seiner Schrift über Herders und Kants Ästhetik so kurz wie treffend: „Goethe hat zu dem Gewährsmann Schillers nie ein wirklich inneres Verhältnis gehabt. Es war das persönliche Motiv der Freundschaft, das ihn veranlasste, in die allgemeine Bewunderung einzustimmen und diejenigen Seiten bei Kant herauszusuchen, die seiner eigenen Anschauung der Welt gemäß waren." Allerdings hat Goethe auch noch nach Schillers Tode von Kant gelegentlich als einem „köstlichen Manne" oder „Meister" oder dergleichen gesprochen, aber bei dem alternden Goethe waren dergleichen Lorbeeren bekanntlich so wohlfeil wie Brombeeren.

Man kann nicht über Goethes Stellung zu Kant schreiben, ohne Herders Stellung zu Kant und Goethe zu berühren. Mit dieser Seite seiner Aufgabe findet sich Vorländer aber zu leicht ab. Zugegeben, dass Herders persönliche Ausfälle gegen Kant nichts beweisen, so ist gegen Herders sachliche Auffassung auch nichts bewiesen, wenn Vorländer gegen die „wahrhaft unflätige Weise", gegen die „bäurisch-tetzelhaften Rohheiten", gegen die „mit ohnmächtigem Neide gepaarte gallige Verbitterung" Herders ins Feld zieht. Freilich ist das eine seit lange hergebrachte Weise, wenn auf Herders Differenzpunkte mit Kant, Goethe und Schiller irgendwo die Rede kommt. Da ist bei Herder alles Schatten, bei seinen Gegnern alles Licht. Umso erfreulicher ist es, dass Günther Jacoby sich endlich gegen diese überaus einseitigen Tendenzen erhebt, zunächst auf ästhetischem Gebiet. Seine gelehrte Untersuchung ist zunächst auch eine Sache für Spezialforscher, jedoch empfindet man es wie die Lösung eines dumpfen Bannes, wenn er damit beginnt zu sagen: „Es wäre durchaus keine Paradoxie zu fragen, ob nicht die tieferen Anregungen für die neue Zeit (im Gegensatz zu Kant) von dem Geiste Herders ausgingen." Freilich wäre das keine Paradoxie, sondern eine historische Tatsache.

1 Hinsichtlich der Bewertung Vorländers sowie des gesamten Neukantianismus durch Mehring sei auf den Bd. 13 der „Gesammelten Schriften" verwiesen.

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