Franz Mehring 18931129 Literarische Rundschau (Georg Brandes: Die Hauptströmungen der Literatur des neunzehnten Jahrhunderts)

Franz Mehring: Literarische Rundschau

Georg Brandes: Die Hauptströmungen der Literatur des neunzehnten Jahrhunderts

29. November 1893

[Die Neue Zeit, 12. Jg. 1893/94, Erster Band, S. 309-311. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 532-534]

Georg Brandes, Die Hauptströmungen der Literatur des neunzehnten Jahrhunderts. Billige Lieferungsausgabe in 14 Lieferungen à 1,50 Mark. Leipzig, H. Barsdorf.

Georg Brandes ist in Deutschland am bekanntesten geworden durch seine Schrift über Lassalle, die zwar dem Bahnbrecher der deutschen Sozialdemokratie nicht entfernt gerecht wird, aber als „literarisches Charakterbild", was sie übrigens auch zu sein beansprucht, hohes Lob verdient. Nicht zum wenigsten deshalb hohes Lob verdient, weil ihre Veröffentlichung im Jahre 1877 für einen dänischen Schriftsteller, der sich in seinem Vaterlande durch freimütig-wackere Gesinnung unmöglich gemacht hatte und nun vorzugsweise auf den deutschen Büchermarkt angewiesen war, etwas verriet, was sich bei bürgerlichen Literaten allzu selten findet: nämlich Courage. Vielleicht ist Herrn Brandes diese Herausforderung des deutschen Philisters auch nicht ganz gut bekommen; die in den siebziger Jahren von Strodtmann begonnene Übersetzung seines literarischen Hauptwerkes blieb damals mitten in der Veröffentlichung stecken. Möglich auch, dass dies Buch allzu hohe Anforderungen an den denkfaulen Spießbürger stellte oder dass eins zum anderen kam. Jedenfalls darf man sich freuen, dass jetzt ein neuer Versuch gemacht wird, die Literaturgeschichte von Brandes in Deutschland einzubürgern.

Sie wirkt wie ein erfrischendes Bad, wenn man aus den Sümpfen der offiziellen Literarhistorie herkommt, wie sie in Deutschland von den Herren Scherer und Genossen betrieben worden ist und noch betrieben wird. Brandes steht durchaus auf bürgerlichem Standpunkte, aber er vertritt ihn nicht in der liebedienerischen und schlafmützigen Art des deutschen Professorentums, sondern mit der revolutionären Schärfe, die dem jugendkräftigen und tatenlustigen Bürgertum eigen war. In Dänemark, das zwar nicht die europäische Revolution des achtzehnten Jahrhunderts mitgemacht, aber dafür um so gründlicher die Reaktion des neunzehnten Jahrhunderts mit erlitten hatte, waren die „Hauptströmungen der Literatur", als sie vor zwanzig Jahren erschienen, ein Kampfschrei der aufsteigenden bürgerlichen Klasse, und daher erklärt sich der wütende Hass, den sie erregten und den harmlose literarische Abhandlungen sonst nicht zu erregen pflegen. Ein Echo der großen Aufklärungsliteratur, die für immer eine Zierde des achtzehnten Jahrhunderts bleiben wird, tönt durch das Buch; manche Seite könnte Rousseau, manche Voltaire, manche auch wohl Herder geschrieben haben.

Aber freilich ist Brandes nur ein Spätling der großen Aufklärer, und wie das Bürgertum in den skandinavischen Ländern erst zur Blüte kam, als es in den großen Nationen schon zur Rüste ging, so waren die „Hauptströmungen" im Grunde schon überlebt, als sie sich so tapfer Bahn brachen. Als bürgerlicher Schriftsteller bewegt sich Brandes immer auf idealistischem Boden; er behauptet zwar gelegentlich überall ins Leben zurückzugreifen, aber die Erkenntnis, dass sich die literarische Bewegung in letzter Instanz aus der ökonomischen Entwicklung erklärt, ist ihm fremd. Er lässt die literarischen Strömungen, ganz unabhängig von der ökonomischen Dialektik, die sie erzeugt und bewegt, zwischen Deutschland, Frankreich und England hin- und herfluten und sich gegenseitig beeinflussen. Gleich die ersten Sätze seines Werkes: „Die Franzosen waren es, die am Schlüsse des achtzehnten Jahrhunderts die politischen Zustände und die Sitten revolutionierten. Die Deutschen waren es, welche die literarischen Ideen reformierten", enthalten im Keime eine lange Reihe von Missverständnissen und Widersprüchen. Um den Rückschlag von der bürgerlichen Aufklärung auf die feudale Romantik zu erklären, untersucht Brandes nicht den Rückstoß des feudalen Osteuropa auf das bürgerliche Westeuropa, sondern konstruiert sich eine besondere „Emigranten-Literatur", in die er Rousseau, Goethe, Chateaubriand, Benjamin Constant, Frau v. Stael zusammenpackt. Und da ihm diese verschiedenen Köpfe natürlich immer wieder aus dem gemeinsamen Hute gleiten, den er über sie stülpen will, so hilft er sich mit dem kleinbürgerlichen Einerseits-Andererseits; in der Emigranten-Literatur mischten sich reaktionäre und revolutionäre Elemente, ihre Hauptströmung war reaktionär, aber ihre Unterströmung war revolutionär usw., ähnlich wie er dann die romantische Schule in Deutschland sowohl „eine Art katholischer Renaissance", als auch „verhältnismäßig freisinnig" nennt. An einer anderen Stelle will Brandes die deutschen Philosophen unter einen Hut bringen und führt aus, „dies große, dunkle, traumreiche und gedankenvolle Deutschland sei in Wirklichkeit ein modernes Indien", und nun geht es in drei mächtigen Sprüngen vorwärts. „Die intuitive Erkenntnis bei Schelling war schon das Ideal der Inder, und wenn Hegel sagt, dass die Erkenntnis des Menschen von Gott Gottes Erkenntnis seiner selbst sei, so ist dieser Glaube an die Gottwerdung jedes einzelnen Individuums durch den abstrakten Gedanken wie aus dem Herzen eines alten Inders entnommen. Was den dritten großen Philosophen des Jahrhunderts, Arthur Schopenhauer, betrifft, so ist er mit vollem Bewusstsein rein indisch, gleichsam ein verspäteter und aus der Heimat verbannter Bewohner des alten Hindostans." Doch es mag an diesen Einzelheiten genug sein.

Wir heben sie hervor, um unseren prinzipiell abweichenden Standpunkt zu wahren, nicht aber, um unser dem Buche gespendetes Lob einzuschränken. Es war für seine Nation und seine Zeit eine wirkliche Tat, zwar nur eine bedingte Wahrheit, aber ein unbedingter Fortschritt, und wenn seine idealistische Geschichtskonstruktion manchmal zu etwas barocken Auffassungen führt, so enthält es doch im Einzelnen viel Schönes und Treffendes. Es schmeckt wie feuriger Wein, verglichen mit der farbigen Limonade der preußischen Literaturgeschichte. Allerdings setzt die genussreiche Lektüre des Werkes eine ziemlich umfassende Kenntnis der deutschen, englischen und französischen Literatur in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts voraus, aber unter dieser Voraussetzung fesselt und spannt sie wie die Unterhaltung mit einem geistreichen, unterrichteten und namentlich tapferen Manne, dem man gern begegnet, auch wo man nicht mit ihm übereinstimmt.

Kommentare