Franz Mehring 19070918 Literarische Rundschau (Eduard Engel: Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis in die Gegenwart)

Franz Mehring: Literarische Rundschau

Eduard Engel: Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis in die Gegenwart

18. September 1907

[Die Neue Zeit, 25. Jg. 1906/07, Zweiter Band, S. 846-848. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 527-530]

Eduard Engel, Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis in die Gegenwart. Zwei Bände. Leipzig 1907, G. Freytag. Wien, F. Stempsky. 1189 Seiten. Preis geb. 12 Mark.

Es ist immer noch wie zu Fichtes Zeit: die Bücher über die Bücher haben in Deutschland ein größeres Publikum als die Bücher selbst. Die Literaturgeschichten drängen sich, und selbst Folianten wie Engels zwei mächtige Bände mit nahezu 1200 Seiten finden sofort ein dankbares Publikum. Wenn die Angaben der Verleger richtig sind, woran wir nicht zweifeln, so waren auf den ersten Hieb nicht weniger als 6000 Exemplare abgesetzt.

Das unterscheidende Merkzeichen dieser neuesten Literaturgeschichte soll nach Angabe ihres Verfassers sein, dass sie sich an die Nichtwissenden wendet und nicht wie „berühmte deutsche Literaturgeschichten, von Gervinus bis auf Wilhelm Scherer", nur an die Wissenden. Allerdings werden die Wissenden dann gleich auf die Fachgelehrten beschränkt, während zu den Nichtwissenden in höherem oder niederem Grade die meisten Leser gehören sollen, „Hunderttausende hochgebildeter Deutschen, die von der Beschäftigung mit der Literatur nicht so sehr gelehrtes Wissen wie edelste Geistesbildung und innere Erholung begehren". Für sie soll diese Literaturgeschichte bestimmt sein. „Sie spricht nicht überwiegend an den Werken der Literatur vorbei oder hoch über sie hinweg die selbstbewussten Meinungen des Verfassers aus, sondern sie bietet dem Leser möglichst viel Tatsachen, und sie will vor allem anderen zum Lesen der Werke, nicht zum Nachsprechen von Urteilen antreiben." Der Verfasser versichert, dass er das ästhetische Gerede über die Literaturwerke hinter die Tatsachen und die Werke selbst zurückgestellt habe.

So weit so gut. Und es ist auch durchaus anzuerkennen, dass Herr Engel eine Masse biographischen Materials namentlich über die bekannteren Dichter zusammengetragen hat; die Abschnitte über Goethe, Lessing, Schiller wachsen sich selbst zu kleinen Monographien aus. Es fehlt freilich nicht an größeren oder geringeren Versehen, doch wäre es unbillig, bei ihnen allzu lange zu verweilen; aus der Überfülle des Stoffes erklären sie sich allzu leicht, und wenn wir auch nicht gerade sagen wollen, dass es bei „Nichtwissenden" zunächst auf eine Handvoll Noten nicht ankäme, so ist doch anzuerkennen, dass im allgemeinen das Richtige durchaus überwiegt, soweit es auf die Genauigkeit der äußeren Daten ankommt. Hier hat der Verfasser einen Fleiß und eine Mühe aufgewandt, die durchaus zu schätzen sind. Auch die Proben von den Dichtungen sind meistens nicht ohne Geschmack ausgewählt, wenn sie schließlich auch nur mehr eine spielerische Beigabe darstellen.

Dagegen befindet sich der Verfasser in einer wunderlichen Selbsttäuschung, wenn er alles ästhetische Gerede zurückstellt und keine selbstbewussten Meinungen hervorgekehrt haben will. Er treibt es darin ärger als irgendein anderer Literarhistoriker, und zwar schon deshalb, weil ihm jedes ästhetische und historische Prinzip fehlt, das bei den Gervinus und den Scherer, auf die er von oben herabsieht, eine Kontrolle ihrer Urteile ermöglicht, gleichviel ob dies Prinzip nun anfechtbar ist oder nicht. Indem diese neueste Literaturgeschichte auf jedes Prinzip derart verzichtet, beschränkt sich ihre ästhetische Kritik auf das, was Herr Eduard Engel aus Stolp in Hinterpommern sich beim Lesen deutscher Dichter gedacht oder was er dabei empfunden hat. Das ist an sich erfreulich, da wir dabei die Bekanntschaft eines so liberalen wie patriotischen Mannes machen, aber eine Literaturgeschichte lässt sich auf diesem Wege nicht herstellen.

Dass die alten borussischen Fabeln über Lessing wieder aufgewärmt werden, mag noch hingehen. Wie erquickend muss aber die Mitteilung wirken, dass Goethe, wenn er in die heutigen politischen Verhältnisse gestellt wäre, die Führung des Freisinns übernehmen, „an der Spitze derer" stehen würde, „die des Vaterlandes Recht und Ehre wahren, den ruhigen, steten Kulturfortschritt fördern wollen". In sympathischem Mitgefühl mit dieser Partei hatte auch Schiller seine „politische Überzeugung" nach Herrn Engel in dem Satze zusammengefasst: „Was ist die Mehrheit? Mehrheit ist der Unsinn." Platen war geisteskrank, litt an Größenwahn, sagte „mit feierlichem Wortpomp die plattesten Dinge"; konnte nur in der „Gemütsverfinsterung eines Kranken" den furchtbaren Vers an Deutschland – notabene das Deutschland Metternichs – richten: „Wie bin ich satt von meinem Vaterlande!" Platen ist „dem lebenden Geschlechte fremd" geworden bis auf „einige schönklingende Balladen von mäßigem dichterischen Gewichte". An Heine stört Herrn Engel die übergroße Zahl mittelmäßiger oder noch schlechterer Lieder; auf die Schicksalsfrage: Was bleibt? werden nach abermals einem Menschenalter vielleicht nur noch einige Dutzend Gedichte Heines antworten. Diese „Schicksalsfrage" zu stellen, ist eine Hauptbeschäftigung des Verfassers; von Hebbel werden nach einigen Menschenaltern vielleicht nur noch die Gedichte leben; dem Dramatiker Hebbel setzt Herr Engel im Namen Shakespeares und im Stile Nicolais auseinander, dass jedes Drama, auch das wildeste, höchst vernünftig und sittlich sein müsse. Mit Gerhart Hauptmann ist Herr Engel ebenfalls sehr unzufrieden. Immerhin ist nicht ganz uneben, was er über die Sünden der Clique an diesem Poeten sagt, aber kaum atmet man auf, als man durch das Rasseln der Trommel betäubt wird, die Herr Engel für Sudermann schlägt. Auch für den armen Paul Lindau bricht Herr Engel eine Lanze, wogegen gar nichts eingewandt werden soll; nur wenn er diese verkannte Größe das eine Mal als Jünger Lessings und das andere Mal als Fortsetzer Lassalles einführt, so hört nicht nur der Ernst, sondern am Ende auch der Spaß auf.

Ein gewisses Prinzip hat Herr Engel aber doch: das ist sein ausbündiger Hass gegen Fremdwörter. Er selbst beleuchtet diese Schrulle hinlänglich, indem er sich auf Schopenhauers „weises Wort" vom „preziösen, hyperbolischen und akrobatischen Stil" bezieht; spottet seiner selbst und weiß nicht wie. Das hindert' ihn aber nicht an seiner wilden Jagd auf Fremdwörter. In Goethes „Faust" kommen „nur" gegen 200 Fremdwörter vor, davon manche unentbehrliche; in Goethes „Dichtung und Wahrheit" aber gegen 800. „Einer der schlimmsten Fremdwörtler" war Karl Marx, jedoch gilt dies auffallenderweise überhaupt von den meisten sozialistischen Schriftstellern, die keineswegs die Gabe des gemeinverständlichen deutschen Stiles besitzen, mit Ausnahme von Engels, der dadurch – immer nach Herrn Engel – ganz anders auf die Massen gewirkt hat als Karl Marx. Dagegen hat Wilhelm I. die prosaische Kunstform musterhaft beherrscht, was auch für die sturmerprobtesten Patrioten eine freudig überraschende Neuigkeit sein wird; ebenso bezeugt der Verfasser, der als Reichstagsstenograph seit 1871 mehr Reden als die meisten Mitlebenden angehört, aber gute Reden äußerst selten und literarisch wertvolle Reden höchstens zwei oder drei vernommen haben will, dass Wilhelm II. ein klassischer Redner sei. Die Begeisterung dieses Kaisers für die Marine in seinem Flottenlied vorausgeahnt zu haben, wird übrigens auch dem sonst über alles Maß heruntergerissenen Herwegh als mildernder Umstand angerechnet.

Genug, denn es hat keinen Zweck, bei dem tollen Wirrwarr länger zu verweilen. Wissenschaftlich ist diese Literaturgeschichte wertlos, und es ist sehr zu bedauern, dass der Verfasser sich nicht hat an dem genügen lassen, wofür er ein ganz bemerkenswertes Geschick besitzt: kurze Lebensabrisse unserer Dichter für ein Publikum von Nichtwissenden zusammen zustellen.

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