Franz Mehring 19020423 Literarische Rundschau (Immanuel Kant, Kritik der Urtheilskraft)

Franz Mehring: Literarische Rundschau

Immanuel Kant, Kritik der Urtheilskraft

23. April 1902

[Die Neue Zeit, 10. Jg. 1901/02, Zweiter Band, S. 123/124. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 563 f.]

Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft. Herausgegeben und mit einer Einleitung sowie einem Personen- und Sachregister versehen von Dr. Karl Vorländer. Dritte Auflage. Leipzig 1902, Verlag der Dürrschen Buchhandlung. Preis 3,50 Mark.

Karl Vorländer, Die neukantianische Bewegung im Sozialismus. Berlin 1902, Verlag von Reuther & Reichard. Preis 1,50 Mark

Als 39. Band der Philosophischen Bibliothek, die der Dürrsche Verlag in Leipzig herausgibt, erscheint Kants „Kritik der Urteilskraft" in dritter Auflage. Die zweite Auflage war noch von Kirchmann besorgt worden, in einer textlich unzureichenden Gestalt und mit „Erläuterungen", die eine fortlaufende und dabei höchst ungerechte Polemik gegen das Werk selbst enthielten. Mit Recht sagt Vorländer, dass Kirchmann sich besser von der Herausgabe fern gehalten hätte, wenn er glaubte, dass die „Kritik der Urteilskraft" „für die Gegenwart nur noch einen literarisch-historischen Wert" besäße, ja dass sie „dem unparteiischen Beurteiler nur als ein Rückschritt gegen Kants Vorgänger" erschiene.

Man kann nicht ungerechter über das auf dem Gebiet der Ästhetik bahnbrechende Werk urteilen. Unzweifelhaft enthält es manche veralteten Partien, ja auch in seinem letzten Grundgedanken leidet es an der Schwäche aller idealistischen Philosophie, indem es die objektiven Bestimmungsgründe des Geschmacks in unserem „übersinnlichen Substrate", in der „unbestimmten Idee des Übersinnlichen" in uns sucht. Allein Kant hat die ästhetische Auffassung der Dinge von ihrer logischen und moralischen so klar und scharf zu trennen, er hat die Theorie des Geschmacks mit einer solchen Fülle anregender und tiefgreifender Beobachtungen zu begründen gewusst, dass seine „Kritik der Urteilskraft" heute noch als die Grundlage aller ästhetischen Bildung gelten muss. Sie hat nun in Karl Vorländer einen vortrefflichen Herausgeber gefunden, der seiner Aufgabe in jeder Beziehung gewachsen ist, und so kann dem auch von dem Verlag trefflich ausgestatteten Buche nur eine weite Verbreitung gewünscht werden. Es darf nicht bloß literarisch-historischen Wert, sondern auch noch eine bedeutsame Mission beanspruchen in einer Zeit, die ästhetisch vielfach so verwildert ist wie die Gegenwart.

Nur in einem Punkte vermag ich mit Vorländer nicht übereinzustimmen. In meinen „Ästhetischen Streifzügen" hatte ich ausgeführt, dass Kants „Kritik der Urteilskraft" sich an Lessing, Winckelmann, Herder, Goethe, überhaupt dem literarischen Aufschwung geschult habe, der etwa seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts in Deutschland eingetreten war. Diese meine Ansicht war von Woltmann, unter Berufung auf Vorländer, als „wunderbares Zeug" abgefertigt worden, über das Engels sich lustig gemacht haben würde; „nachweislich" habe Kant von Lessing, Herder, Winckelmann etc. kaum eine Ahnung gehabt. Dieser „Nachweis" bestand aber nur darin, dass Kant in seiner „Kritik der Urteilskraft" jene Namen nicht erwähnt. Daraus zu schließen, dass er ihre Träger überhaupt nicht gekannt habe, schien mir eine sehr merkwürdige Schlussfolgerung zu sein, und inzwischen ist selbst dieser seltsame „Nachweis" über den Haufen geworfen worden. O. Schlapp hat aus den bisher ungedruckten Vorlesungsheften Kants gezeigt, dass dieser sich unausgesetzt mit der zeitgenössischen dichterischen Produktion beschäftigt, dass er Gottsched, Lessing, Winckelmann, Klopstock, Herder, Geliert, Wieland usw. gekannt habe. Das „wunderbare Zeug" ist nun also auch noch, sowenig es nötig war, urkundlich bestätigt worden, allein Vorländer erwähnt die Tatsache nur in der unzureichenden Form, dass Kant von den Erzeugnissen unserer klassischen Dichtkunst kaum Notiz genommen, aber dass er „im übrigen" auf dem Gebiet der zeitgenössischen poetischen Literatur doch bewanderter gewesen sei, als man „gemeinhin" annehme.

Diese kleine Schwäche Vorländers führt unmittelbar zu seinem Schriftchen über die „neukantianische Bewegung im Sozialismus“. Kein deutscher Sozialist hat je Kants historische Größe verkannt, aber um Kant zum Besieger des heutigen Sozialismus zu machen, müssen ihm möglichst alle Spuren historischer Bedürftigkeit abgestreift werden. Als schöpferischer Genius soll er aus dem Nichts geschaffen haben, und die Neukantianer sind zu demselben Lose verdammt, wenn sie „eine neukantianische Bewegung im Sozialismus“ nachweisen wollen. Vorländers so benannter Aufsatz, ein Separatdruck aus den „Kantstudien“, knüpft an die Aufnahme an, die seine vor etwa zwei Jahren erschienene Schrift über Kant und den Sozialismus in der sozialdemokratischen Presse gefunden hat. Er muss gestehen, dass Konrad Schmidt, der „feine Kenner Kants“, in den „Sozialistischen Monatsheften“ ihn „wesentlich ablehnend“ kritisiert, geschweige denn, dass „der vielleicht (in der Form wenigstens) schroffste der deutschen Marxisten“, nämlich meine Wenigkeit, in der „Neuen Zeit“ sich „bei aller persönlichen Anerkennung doch gerade in dem Hauptpunkt ablehnend gehalten“ hat. Aber der „Vorwärts“ hat eine mit O. F. N. unterzeichnete, durchweg anerkennende Rezension gebracht, und bald nach meiner Kritik hat die „Neue Zeit“ zwei Aufsätze von Sadi Gunther veröffentlicht, die sich ganz und gar mit Vorländers Anschauungen decken; „wir konnten uns keinen besseren Wiederhall aus den marxistischen Kreisen wünschen als diese vollkommen mit der unseren übereinstimmenden, trefflichen methodischen Ausführungen in dem Hauptorgan des wissenschaftlichen Sozialismus.“ Ist also nicht doch eine „neukantianische Bewegung“ mitten im Marxismus?

Der Zusammenhang erklärt sich sehr einfach dadurch, dass O. F. N. und Sadi Gunther zu dem halben Dutzend Neukantianer gehören, die es überhaupt in Deutschland gibt. Die Neukantianer sind treffliche, unterrichtete, wohlwollende Leute, die von allen Gruppen deutscher Ideologie der Sozialdemokratie am nächsten stehen, aber wenn sie von der ihnen gern gewährten Gastfreundschaft der sozialdemokratischen Presse einen willkommenen Gebrauch machen, so sind ihre Auslassungen doch nicht als „Wiederhall aus marxistischen Kreisen“ zu registrieren. Stimmt Vorländer mit O. F. N. oder mit Sadi Gunter „vollkommen“ überein, so ist damit zwar bewiesen, dass der kleine Haufe der deutschen Neukantianer unter sich einig ist, aber keineswegs, dass die Sozialdemokratie zu ihnen übergeht.

Einem sonst so gewissenhaften und zuverlässigen Schriftsteller, wie Karl Vorländer ist, rechnen wir diese Ausgleitung gewiss nicht hoch an. Sie entspringt einem ungestümen Tatendrang, für den wir immer etwas übrig haben, und zudem macht sie Vorländer selbst reichlich wett durch die Ehrlichkeit, womit er sich auf Jean Jaurès als einen Gesinnungsverwandten beruft. Was dieser Träger der „neukantianischen Bewegung im Sozialismus“ angerichtet hat, liegt klar genug vor, um jeden Nachahmungstrieb zu bändigen. Zum Glück ist in Deutschland auch sonst hinlänglich dafür gesorgt, dass die „neukantianischen“ Bäume nicht in den Himmel wachse; die deutsche Sozialdemokratie wird in der Philosophie so wenig auf Kant zurückmarschieren, wie in der Politik auf Robespierre oder in der Ökonomie auf Babeuf.

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