Franz Mehring 19000117 Literarische Rundschau (Theobald Ziegler: Die geistigen und sozialen Strömungen des neunzehnten Jahrhunderts)

Franz Mehring: Literarische Rundschau

Theobald Ziegler: Die geistigen und sozialen Strömungen des neunzehnten Jahrhunderts

17. Januar 1900

[Die Neue Zeit, 18. Jg. 1899/1900, Erster Band, S. 541/542. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 536-537]

Theobald Ziegler, Die geistigen und sozialen Strömungen des neunzehnten Jahrhunderts. Berlin 1899, Georg Bondi, 714 Seiten.

Schade, dass dies Buch gar so umfangreich ist; wir würden es sonst jedem empfehlen, der sich einmal einen Begriff von der Anmaßung und Hohlheit der deutschen Professoren machen will, die in den historischen Wissenschaften, und auch hier ehrenwerte Ausnahmen abgerechnet, die deutschen Universitäten bevölkern. Herr Ziegler ist, wie er auf dem Titelblatt anzugeben nicht verfehlt, ordentlicher Professor an der Universität Straßburg, und zwar Professor der Theologie; wir wollen auch nicht bestreiten – denn auf diesem Gebiet beanspruchen wir keine Kompetenz –, dass er die „geistigen Strömungen" in der Theologie des Jahrhunderts zu beurteilen versteht; wo er aber über Literatur, Politik, Sozialwissenschaft reden will, bewegt er sich in den abgestandensten Tiraden eines ebenso matten wie übertägigen Liberalismus, den er dann mit einem unglaublichen Selbstbewusstsein als den Standpunkt der „Wissenschaft" aufzudonnern unternimmt.

Die „sozialen Strömungen" schildert er durchweg aus zweiter Hand nach den Rezepten des Kathedersozialismus, immerhin nach etwas vergilbten Rezepten. Die verständigeren Kathedersozialisten haben doch schon die abgetriebenen Gäule abgezäumt, auf denen Herr Ziegler noch paradiert, wenn er beispielsweise den guten Lassalle, der gelegentlich vom Gedanken des sozialen „Volkskönigtums" bewegt gewesen sei und die „revolutionäre Größe" Bismarcks begriffen habe, voll Anerkennung für Bismarcks Person und Größe, voll nationaler und idealer Instinkte, voll Hoffnung auf Preußen, dessen Beruf zur Führung Deutschlands er entschieden verkündigt habe, wenn also Herr Ziegler diesen guten Lassalle ausspielt gegen den bösen Marx, „die Kreuzspinne, die still ihre Netze spinnt und ihre Opfer mit tödlicher Sicherheit in denselben einfängt". Wie Lassalle und Marx auf sozialem, so wird Heine auf literarischem Gebiet abgetan: „Im Übrigen gebe ich Heine vollständig preis, der leicht bewegliche ist auch der ganz charakterlose", schreibt Herr Ziegler. Worauf zu erwidern wäre, erstens dass es dem Leser, der sich über „die geistigen und sozialen Strömungen des Jahrhunderts" zu unterrichten wünscht, überaus gleichgültig sein kann, ob der landläufige Professor Ziegler den genialen Dichter Heine „vollständig preisgibt" und zweitens dass Heines Lebenswerk bei allen menschlichen Schwächen Heines hundertmal mehr Charakter aufweist, als mindestens die liberale Theologie des ganzen Jahrhunderts in ihrer Gesamtheit zu produzieren gewusst hat. Was es sonst mit dem Jammer über Heines „Charakterlosigkeit" auf sich hat, zeigt übrigens die Tatsache, dass Herr Ziegler über einen der größten und charaktervollsten, auch vom Philisterstandpunkt aus charaktervollsten Dichter des Jahrhunderts, über Hebbel, gar nichts zu sagen weiß; nur einmal erwähnt er seinen Namen in einem beiläufigen Zusammenhange. Dagegen widmet er nahezu acht Seiten Herrn – Sudermann.

Auf politischem Gebiet ist Herr Theobald Ziegler natürlich der getreue Fridolin. Um auch hier ein Beispiel anzuziehen, so findet er es „natürlich und gerecht", dass die Gefangenen des badischen Aufstandes in den Rastatter Festungsgräben niedergeknallt worden seien. „Die Klagen gegen den ,Kartätschenprinzen' waren trotz des in sie einstimmenden Protestes von Uhland ebenso grundlos wie der im Jahre zuvor über die Erschießung Robert Blums in Wien ausgebrochene Lärm." Krieg sei Krieg, und in Revolutionen spiele man um das eigene Leben; auch eine siegreiche Revolution sei mit Henkerbeil, Pulver und Blei ebenso bei der Hand wie die siegende Reaktion. Ob mit diesem „natürlichen Recht", das der süßliche Theologe unter der Maske eines fürchterlichen Eisenfressers predigt, gerade seinen Gönnern gedient ist, könnte fraglich erscheinen, denn noch ist nicht aller Tage Abend; einstweilen genügt es, festzustellen, dass der Gottesgelehrte Theobald Ziegler, um feige Meuchelmorde zu beschönigen, wider besseres Wissen insinuiert, dass die deutsche Revolution, wo immer sie siegte, ob in Baden oder Berlin oder wo sonst, mit dem Henkerapparat von Thron und Altar operiert haben soll.

Alles in allem ist das Buch des Herrn Ziegler ein beschämend trauriges Zeugnis für den intellektuellen und moralischen Niedergang der offiziellen Gelehrsamkeit.

Kommentare