Franz Mehring 18991018 Vom „wahren" Marxismus II

Franz Mehring: Vom „wahren" Marxismus II

18. Oktober 1899

[Die Neue Zeit, 18. Jg. 1899/1900, Erster Band, S. 118-122. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 565-571]

Ist Herr Ernst Gystrow ein Musterexemplar jener Spielart vom „wahren" Marxismus, die den „Pseudomarxisten" durch persönliche Verleumdungen den Garaus zu machen versucht1, so ist Ludwig Woltmann ein Musterexemplar der anderen Spielart, die in der weniger intelligenten Bourgeoisie bewundert wird, weil sie die Ansichten der „Pseudomarxisten" in sinnlos entstellter Form vorzutragen weiß. So verfährt Woltmann in seinem Buche über den „Historischen Materialismus" mit meinen „Ästhetischen Streifzügen", worüber ich mir einige Worte gestatten möchte.

Nachdem Woltmann unsereinem im Allgemeinen „grauenhafte Unkenntnis des Kritizismus" vorgeworfen hat, führt er mich im Besonderen seinem staunenden Publikum als Produzenten der „unseligsten Irrtümer" über Kant vor. Er zitiert zunächst eine Reihe von Sätzen, die er für so abgeschmackt hält, dass er sie überhaupt keiner kritischen Bemerkung würdigt. Der erste dieser Sätze lautet: „Kant schlug als Vertreter des mählich auch in Deutschland erwachenden Bürgertums den Dogmatismus tot." Nun gehe ich in den „Ästhetischen Streifzügen" davon aus, dass, als Kants „Kritik der reinen Vernunft" erschien, in England der Skeptizismus, in Frankreich der Materialismus, in Deutschland der Dogmatismus die philosophische Herrschaft gehabt habe. Ich sage vom Dogmatismus, dass er die übernatürlichen Vorstellungen der christlichen Dogmen durch Vernunftschlüsse habe erweisen wollen, und nach einem Blicke darauf, wie diese verschiedenen Philosophien in den verschiedenen ökonomisch-politischen Entwicklungszuständen Englands, Frankreichs und Deutschlands gewurzelt hätten, fahre ich fort: „Nicht als ein weltgeschichtliches Genie, das plötzlich vom Himmel herabschwebte, sondern als ein Vertreter des mählich auch in Deutschland erwachenden Bürgertums schlug nun Kant den Dogmatismus tot, indem er den Streit zwischen Materialismus und Skeptizismus durch eine tiefgreifende Entscheidung schlichtete." Wie denkt nun Woltmann selbst über Kants Stellung zum Dogmatismus? Er schreibt auf S. 42 seines Buches: „Die Umwälzung im philosophischen Denken, welche durch Kant herbeigeführt wurde, besteht im wesentlichen darin, dass er die Anmaßungen der dogmatischen Metaphysik zerstörte, die über Welt, Seele und Gott aus der Vernunft heraus absolute Wahrheiten abzuleiten unternahm." Da der „wahre" Marxismus die Wortklaubereien liebt, so sagt Woltmann vielleicht, er spräche nur von den „Anmaßungen" der dogmatischen Metaphysik, allein glücklicherweise liebt der „wahre" Marxismus auch die Tautologien – und muss sie lieben, wenn er bei seiner Arbeitsmethode dickleibige Bücher in die Welt setzen will –, und so heißt es auf S. 50: „Sein Kampf ist in erster Linie gegen die dogmatischen Anmaßungen der Metaphysik gerichtet, welche ein Scheinwissen für absolute Wahrheit ausgab, indem sie über Welt, Seele und Gott aus der Vernunft heraus angeblich unbestreitbare Aussagen deduzierte." Wenn sich der „wahre" Marxist Woltmann auf S. 42 und S. 50 auf eine weltbekannte Tatsache beruft, so spricht er wie ein weiser Mann, aber wenn ich mich als „Pseudomarxist" auf dieselbe Tatsache berufe, so werde ich auf S. 81 wegen „grauenhafter Unkenntnis" und „unseligster Irrtümer" abgekanzelt.

Ein anderer Satz, der von mir über Kant geschrieben sein soll und von Woltmann ohne weiteren Kommentar dem öffentlichen Unwillen denunziert wird, lautet: „Am nächsten stand er dem französischen Materialismus." Das klingt passabel sinnlos, aber was habe ich tatsächlich geschrieben? In unmittelbarem Anschluss an den obigen Satz, wonach Kant den Streit zwischen Materialismus und Skeptizismus durch eine tiefgreifende Entscheidung geschlichtet habe, fahre ich fort: „Er sagte, dass die ganze Erscheinungswelt, wie wir sie mit unseren Sinnen und unserem Verstand auffassen, durch die Einrichtung unserer Sinne und unseres Verstandes bedingt, aber dass unsere Erkenntnis deshalb nicht wertlos und zweideutig, sondern notwendig, wirklich und von unserem Wesen unzertrennlich sei. Am nächsten stand Kant dem französischen Materialismus, dessen naturwissenschaftliche Einsichten er fruchtbar weiterentwickelte, sei es auch nur, um seine vernunftrechtlichen Forderungen zu verflüchtigen." Man sieht: ich behaupte nicht ins allgemeine hinein, dass Kant dem französischen Materialismus am nächsten gestanden habe, um damit sozusagen seinen historischen Ort in der Geschichte der Philosophie zu bestimmen, sondern ich sage, dass Kant von den beiden philosophischen Systemen, die er als gleichberechtigte und vom wissenschaftlichen Standpunkt gleich beachtenswerte Vorstufen seines Kritizismus betrachtete, dem Materialismus näher gestanden habe als dem Skeptizismus, und gebe dann noch besonders an, worin er dem Materialismus nahe gestanden habe und worin nicht. Um gleich einen etwaigen Einwand Woltmanns vorwegzunehmen, so weiß ich wohl, dass Kant selbst, soweit er zwischen Materialismus und Skeptizismus, als zur Entwicklung der Wissenschaft notwendigen Irrtümern, unterschied, eher dem Skeptizismus den Vorrang gab, was sich hinlänglich daraus erklärt, dass er durch den Skeptiker Hume am stärksten beeinflusst wurde. Allein wenn man heute nach mehr als hundert Jahren auf das zurückblickt, was sich von Kant am dauerndsten erhalten hat, so bin ich allerdings der Meinung, dass er tatsächlich dem Materialismus näher gestanden habe als dem Skeptizismus. Hält nun Woltmann meine Ansicht für falsch, gut, so mag er die Gründe widerlegen, die ich dafür in den „Ästhetischen Streifzügen" angeführt habe, aber wie kommt er dazu, ein Satzbruchstückchen aus meinen Darlegungen herauszureißen und mich daraufhin wegen „grauenhafter Unkenntnis etc." zu verdonnern? Doch nur, weil ich ein „Pseudomarxist" bin, denn wenn ich ein von der schäbigsten Arbeiterfeindlichkeit überfließender und die Person von Marx in gemeinster Weise verdächtigender Privatdozent wäre, wie Herr v. Wenckstern, vor dessen „wertvollen" Untersuchungen sich Woltmann höflich verbeugt, so wäre es natürlich etwas anderes.

Dann zitiert Woltmann weiter aus den „Ästhetischen Streifzügen": „Kant teilte den Irrtum, die Wahrheit auf idealistischem Wege erfassen zu können." Dieser Satz, gleich hinter dem Satze, wonach Kant dem französischen Materialismus am nächsten gestanden haben soll, scheint mich für das Irrenhaus reif zu machen, aber zum Glücke für mich wird dieser Schein nur durch die Zitierkunst Woltmanns hervorgerufen. Indem ich nachweise, inwiefern Kant die vernunftrechtlichen Forderungen des französischen Materialismus verflüchtigt habe, komme ich auf seine moralische Metaphysik, auf seine „idealistische Seite", seine Gedanken über Gott, Unsterblichkeit, Erbsünde etc. zu sprechen und sage dann: „Von seiner idealistischen Seite her unterlag das System Kants denn auch bald den heftigsten Erschütterungen und wurde durch eine Reihe anderer Systeme abgelöst, die mit ihm den Irrtum teilten, die absolute Wahrheit auf idealistischem Wege erfassen zu können, aber die in sich eine fortschreitende Lehre der Entwicklung darstellten, entsprechend der Entwicklung der deutschen Gesellschaft, deren großindustrielle Entfaltung dann wieder dem Materialismus aufhalf. Jedoch nunmehr dem Materialismus in seiner entwickelten Form, dem historischen Materialismus, der die absolute Wahrheit verabschiedete, um der relativen Erkenntnis einen festen Boden zu schaffen, womit auf dem Gebiet der Gesellschaftswissenschaften die gleiche Leistung vollzogen war, die Kants Erkenntnistheorie einst auf dem Gebiet der Naturwissenschaften vollbracht hatte." Aus diesen Sätzen destilliert Woltmann heraus, dass ich über den ganzen Kant gesagt haben soll, er habe den Irrtum geteilt, die absolute Wahrheit auf idealistischem Wege erfassen zu können. Kann denn Woltmann wirklich nicht zwischen der kritischen und der metaphysischen Seite der Kantischen Philosophie unterscheiden? Oh, das kann er schon ganz gut; er schreibt auf seiner S. 69: „Es liegt außerhalb des Zweckes dieser Darstellung, auf die moralische Metaphysik Kants einzugehen, d. h. den Versuch, das Dasein Gottes, die Unsterblichkeit der Seele usw. aus den praktischen Bedürfnissen des Menschen zu beweisen. Sie ist durchaus sophistisch und alles eher als kritisch. Dieser wunderliche Anhang des Systems ist von den Neukantianern von vornherein abgewiesen worden." Also die „Neukantianer" dürfen die „idealistische Seite" der Kantischen Philosophie ohne weiteres als „durchaus sophistisch" abtun, aber wenn ein „Pseudomarxist" diesen „Irrtum" Kants nach seinem historischen Ursprung und seiner historischen Wirkung klarzustellen sucht, so muss er seinerseits vom „wahren" Marxismus durch absichtliche Verstümmelung seiner Worte abgetan werden.

Ebenso wie mit diesen drei angeblichen Zitaten steht es mit den drei oder vier anderen, die Woltmann aus meinen „Ästhetischen Streifzügen" herbeischleppt, ohne zu verraten, was er an ihnen auszusetzen hat. Ich gehe darüber umso lieber fort, als der „wahre" Marxismus Woltmanns doch erst in seinem Glanze hervortritt, wo er sich zu einer Polemik mit mir herablässt. In den „Ästhetischen Streifzügen" stelle ich die große Literaturbewegung, die sich in Deutschland an die Namen Lessing, Winckelmann, Herder, Bürger, die Stürmer und Dränger, Goethe, Schiller knüpft, als die „sehr reelle Grundlage" der Kantischen Ästhetik hin; ich sage, an großen und unvergänglichen Denkmälern der Literatur habe Kant die Gesetze der ästhetischen Urteilskraft studiert. Hierzu bemerkt Woltmann: „Alles andere ist eher richtig als diese historischen Phantasien des exakten Materialisten. Kant hat nachweislich von allen den genannten Künstlern kaum eine Ahnung gehabt. Es gibt kein literarisches Zeugnis dafür, dass Kant z. B. von Goethe Kenntnis gehabt hat. Lessing erwähnt er einmal nebensächlich. Man lese Kants Kritik der ästhetischen Urteilskraft auf die ästhetischen Beispiele hin durch, welche er anführt, und man wird finden, dass Mehrings Behauptung absolut nicht stimmt." Hier zeigt sich, dass der „wahre" Marxismus, den Woltmann vertritt, nicht etwa nur auf die bürgerliche Geschichtsschreibung zurückgeglitten ist, sondern weit hinter sie zurück, etwa auf den Kalkulatorenstandpunkt. Denn die Abzahlung, dass Goethes Name gar nicht und Lessings Name nur einmal nebensächlich in Kants Ästhetik erwähnt ist, die bekommt jeder Kalkulator fertig. Er würde auch noch heraus zählen, dass nahezu das einzige, von Kant angezogene ästhetische Beispiel, soweit es sich um Dichterstellen handelt, einer französischen Reimerei des alten Fritz entnommen ist, und könnte daraus die patriotische Schlussfolgerung ziehen, dass zu den unsterblichen Verdiensten der Hohenzollern um Deutschland auch die wissenschaftliche Begründung der Ästhetik gehöre.

Über solche Kindlichkeiten ist die bürgerliche Geschichtsschreibung denn doch weit erhaben. F. A. Lange, der geistig hervorragendste jener Neukantianer, denen die Bewunderung Woltmanns gilt, behauptet einmal einen geschichtlichen Zusammenhang zwischen Büchner und Lamettrie und sagt darüber: „Hüten wir uns vor einem naheliegenden Missverständnis! Wenn wir den geschichtlichen Zusammenhang behaupten, so fällt uns damit natürlich nicht ein, etwa Büchners ,Kraft und Stoff' auf eine heimliche Ausnutzung des homme machine zurückzuführen. Nicht einmal eine Anregung durch die Lesung solcher Schriften, ja nicht einmal die leiseste Kenntnis derselben ist nötig, um einen geschichtlichen Zusammenhang anzunehmen. Wie die Wärmestrahlen der glimmenden Kohle von dem einen Brennpunkt sich nach allen Seiten zerstreuen, um in dem anderen, vom elliptischen Spiegel zurückgeworfen, den glimmenden Zunder zu entfachen, so verliert sich die Wirkung eines Schriftstellers – und besonders eines Philosophen – in das Bewusstsein der Menge, und aus diesem Bewusstsein heraus wirken die zersplitterten Sätze und Anschauungen auf die späteren Individuen, deren Empfänglichkeit und Lebensstellung für die Sammlung solcher Strahlen entscheiden kann." Und der Literarhistoriker Erich Schmidt schreibt, indem er mit Recht ablehnt, den Philosophen Lessing über den Philosophen Kant zu erheben: „Eine Abhängigkeit Kants, der in Lessings theologischen Schriften eingelesen war und mannigfach auf sie anspielt, ohne sie zu nennen, scheitert ja schon an den Jahreszahlen." Also die Möglichkeit, dass man einen Schriftsteller gelesen haben kann, auch ohne dass man ihn nennt, ja sogar, dass man von einem Schriftsteller beeinflusst sein kann, auch ohne dass man ihn gelesen hat, ist der bürgerlichen Geschichtsschreibung längst klar. Das hätte ich freilich nicht geahnt, als ich im Jahre 1892 Erich Schmidts borussische Tendenzen in der „Neuen Zeit" bekämpfte, dass ich sieben Jahre später mich vor der vernichtenden Kritik des „wahren" Marxismus unter seinen bergenden Schild flüchten müsste.

Tatsächlich steht die Sache so, dass Kant im Jahre 1764 „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen" veröffentlichte, worin er sich auf ästhetischem Gebiet noch völlig unklar zeigt, Ästhetik und Moral zusammenwirft und so weiter. Zur gleichen Zeit begannen Lessing und Winckelmann mit ihren grundlegenden ästhetischen Arbeiten hervorzutreten, und es folgte jene große literarische Revolution, deren geistigen Niederschlag Kant dann in der „Kritik der Urteilskraft" zu einem wissenschaftlichen System der Ästhetik systematisiert hat. Es ist schon an sich eine höchst wunderbare Vorstellung, dass ein so entschiedener und klarer Vorkämpfer der bürgerlichen Aufklärung, wie Kant war, einer seine Klasse jahrzehntelang durchzitternden Revolution völlig teilnahmslos gegenübergestanden haben soll, aber davon abgesehen: wer das Glück hat, die deutsche Literaturbewegung jener Zeit, also etwa von der Mitte der sechziger bis zum Ende der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, genau zu kennen, der findet in Kants Ästhetik ihre Spuren auf Schritt und Tritt wieder. Gewiss, Kant nennt Lessing nicht, wenn er ausführt, dass die Bildhauerkunst die Vorstellung hässlicher Gegenstände von ihren Bildungen ausschließe und z. B. den Tod in einem schönen Genius darstelle, aber sollte Kant deshalb nicht Lessings Abhandlung, wie die Alten den Tod gebildet, gekannt haben? Wie tiefen Eindruck diese Abhandlung auf die Zeitgenossen machte, zeigt schon die eine Tatsache, dass sogar der orthodoxe Hauptpastor Goeze sie mitten in seiner hitzigen Fehde mit Lessing ein unnachahmliches Meisterwerk nannte; nur der gute Kant erfuhr nie etwas davon, und erst zwanzig Jahre später verfiel er, der Himmel weiß durch welche göttliche Inspiration, auf denselben Gedanken, den Lessing in jener Abhandlung durchgeführt hatte. Oder wenn Kant in den ausgezeichnetsten Abschnitten seiner Ästhetik den Satz durchführt: „Schöne Kunst ist Kunst des Genies", denselben Satz, den die geniale Sturm- und Drangperiode mit Goethe an der Spitze durchgekämpft hatte, so soll er, vermutlich als der einzige Mann in dem damaligen gebildeten Deutschland, dennoch diese tosende Revolution verschlafen haben, bloß weil er Goethes Namen nicht nennt? Ich wiederhole noch einmal: eine so flache und rohe Anschauung über den Gang geistiger Strömungen, wie sie der „wahre" Marxismus in diesem Falle verrät, ist selbst in der bürgerlichen Geschichtsschreibung beispiellos.

Den Gipfelpunkt meiner „Ästhetischen Streifzüge" sieht Woltmann dann in dem „aller ethnologischen Erfahrung ins Gesicht schlagenden" Satze, zu dem ich mich „schließlich versteigen" soll: „Solange die menschliche Gesellschaft in Klassen gespalten ist (und ehe sie in Klassen gespalten war, gab es überhaupt keine Kunst) hat es immer nur ein Sonder-Menschliches und nie ein Allgemein-Menschliches gegeben." Hierzu bemerkt Woltmann: „Als wenn das Sonder-Menschliche nicht auch ein Menschliches sei! Und Mehring scheint es tatsächlich unbekannt zu sein, dass auch die niedersten Menschenstämme, die noch keine Klassen kennen, eine primitive Kunst besitzen." Wenn ich in einer Abhandlung über Vögel sage: die Eule ist keine Nachtigall, so zerschmettert mich Woltmann durch den Einwand: Als ob die Eule kein Vogel wäre! Tatsächlich polemisiere ich an der von Woltmann verstümmelten Stelle gegen Steigers Ansicht, dass erst wo das große Getriebe des gesellschaftlichen Lebens aufhöre, das Allgemein-Menschliche als Gegenstand der Kunst anfange. Dagegen wende ich ein, ein Allgemein-Menschliches, das in Steigers Sinn über dem „großen Getriebe des gesellschaftlichen Lebens" stehe, gebe es überhaupt nicht; selbst bei Dichtern, die man nach einem weitverbreiteten Geschmacksurteil Weltdichter zu nennen pflegte, selbst bei Homer, Äschylus, Dante, Shakespeare, Cervantes, Goethe finde sich gerade das Sonder-Menschliche in ausgeprägtester und erschöpfendster Form, und in diesem Zusammenhange, der doch nur mit einer gewissen gewaltsamen Anstrengung misszuverstehen ist, sage ich, dass es überhaupt noch keine Kunst gegeben habe, ehe die Menschheit in Klassen gespalten gewesen sei. Aber in diesem Zusammenhange halte ich den Satz auch vollständig aufrecht, unbeschadet der trivialen Belehrung, womit Woltmann meiner „tatsächlichen" Unwissenheit aufhelfen will.

Allein Ende gut, alles gut, und so schließt Woltmann seine polemischen Tiraden gegen mich: „Mehrings Leistungen sind zu dem ,wunderbaren Zeug' zu rechnen, über das sich Engels einmal lustig gemacht hat." Wie Engels über meine „Leistungen" gedacht hat, weiß Woltmann aus einem gedruckten Briefe, den er in seinem Buche anzieht, was ich erwähnen will, um das Maß seines guten Glaubens zu kennzeichnen. Sonst freilich darf ich mir nicht die Selbsterniedrigung zumuten, mich dem „wahren" Marxismus gegenüber auf das Urteil zu berufen, das Engels nicht nur gegen mich, sondern auch gegen viele dritte Personen über meine „Leistungen" gefällt hat. Das ganze Gerede von dem Urteil, das Marx und Engels, wenn sie noch lebten, über die „Pseudomarxisten" fällen würden, ist weiter nichts als ein wohlfeiles Mätzchen, womit auf den Beifall der kapitalistischen Presse spekuliert wird. Diesen Erfolg tragen die „wahren" Marxisten, wie Woltmann und seinesgleichen, denn auch in vollem Maße davon, und wir „Pseudomarxisten" sind die letzten, ihnen den herrlichen Lorbeer zu beneiden.

In demselben Stile, wie mich, traktiert Woltmann J. Stern, Plechanow, Heinrich Cunow und wen von den „Pseudomarxisten" sonst noch. Doch sind diese Ausfälle, als typische Symptome des „wahren" Marxismus, immerhin noch das einzig Bemerkenswerte an seinem ganzen Geisteserzeugnis.

1 In einem Aufsatz in den „Sozialistischen Monatsheften" hatte Gystrow Mehring literarische Gewissenhaftigkeit und wissenschaftliche Befähigung abgesprochen.

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