Franz Mehring 19160900 Kritische Anmerkungen

Franz Mehring: Kritische Anmerkungen

September 1916

[Die Neue Zeit, 34. Jg. 1915/16, Zweiter Band, S. 700-705, 721-726. Nach Gesammelte Schriften, Band 8, S. 425-439]

In dem Armesünderglöcklein, das Parvus-Helphand gegossen hat und Parvulus-Haenisch am Strange zieht, bimmelt Ruberrimus-Heilmann gegen die sogenannte „Liebknechtgruppe" los. Er wirft ihr vor, dass sie die deutsche Niederlage „wolle".

Es gehört ein eigentümlicher Geschmack dazu, diese Anklage zu erheben, zur Zeit, wo der Landesverratsprozess gegen den Genossen Liebknecht in zweiter Instanz schwebt und die meisten Mitglieder seiner sogenannten „Gruppe" nicht nur durch die Zensur verhindert sind, öffentlich mit der nötigen Klarheit zu sprechen. Indessen wenn sich über den Geschmack in diesem Falle sehr wohl streiten ließe, so wollen wir doch nicht darüber streiten, da die Umlernerei auch in den Fragen des Geschmacks und Taktes viel zu weit vorgeschritten ist, als dass sich noch eine Einigung erwarten ließe.

Irgendeinen urkundlichen Beweis für seine Behauptung bringt Heilmann nicht bei, aus dem durchschlagenden Grunde nicht, weil er ihn nicht beibringen kann. Wir wollen ihm nicht ansinnen, dass er bei Liebknecht auch nur einen Funken jenes glühenden Patriotismus voraussetzt, der ihn selbst beseelt, und wir wollen ihm nicht einmal zumuten, dem Genossen Ströbel aufs Wort zu glauben, der schon vor Jahr und Tag öffentlich eine Äußerung Liebknechts erwähnte, die dahin lautete, man müsse pervers sein, um eine deutsche Niederlage zu wünschen. Aber soviel Logik sollte man sich in Chemnitz trotz allen kriegerischen Rausches doch bewahrt haben, um zu erkennen, dass Genosse Liebknecht von seinem internationalen Standpunkt aus gar keine deutsche Niederlage wünschen kann.

Man mag über Liebknecht sonst denken, wie man will, aber so viel muss doch auch sein erbittertster Feind anerkennen, dass er aus seinem Herzen niemals eine Mördergrube macht. Glaubte er, dass die Interessen der Arbeiterklasse die deutsche Niederlage erforderten, so hätte er es nicht ein-, sondern zehn- und hundertmal gesagt. Er hätte dann so gehandelt, wie Lassalle im Frühjahr 1859 oder Marx und Engels im Winter 1870 und 1871 gehandelt haben. Er hätte sich also auf sehr erlauchte Vorbilder berufen können. Aber er hat nicht so gehandelt, weil die Voraussetzungen nicht gegeben waren, die in den gedachten Jahren die politische Taktik unserer Altmeister bestimmt haben, worüber hier nichts mehr ausgeführt zu werden braucht, da diese Fragen schon ausgiebig genug in der „Neuen Zeit" behandelt worden sind.

Deshalb hat Liebknecht freilich nicht den deutschen Sieg in diesem Weltkrieg gewünscht, den Heilmann und nach seiner Behauptung die Mehrheit der Partei „will". Man muss jedoch auch hier nicht ins Blaue hinein reden, sondern sich darüber klarzumachen suchen, was unter „Sieg" zu verstehen ist. Seit den Tagen des Pyrrhus ist es eine alte Erfahrung, dass man sich auch totsiegen kann, militärisch wie politisch. An solchen Erfahrungen ist auch die preußische Geschichte nicht eben arm. Es seien nur einige Beispiele angeführt.

In der Schlacht bei Prag erfocht der König Friedrich durch die Gunst der Umstände einen Sieg, der weit über das hinausging, was er nach Maß seiner Kräfte und Mittel behaupten konnte. Die Folge war die zerschmetternde Niederlage bei Kolin, die den König für immer in die Defensive warf, so dass er den Triumph weniger Tage mit einer Leidenszeit von sechs Jahren büßen musste. Ein Totsiegen im politischen Sinne des Wortes aber war der Winterfeldzug Blüchers im Jahre 1814. Die preußischen Historiker pflegen zu sagen, ohne den „Marschall Vorwärts" wäre es nie zur Eroberung von Paris und zur Niederwerfung Napoleons gekommen, und dafür lässt sich, wenn man sich einmal auf das Wenn- und Aberspiel der Geschichte einlassen will, in der Tat vieles sagen. Aber der militärische Sieg war eine politische Niederlage, denn das preußische Heer wurde in diesem Feldzug so völlig aufgerieben, dass Preußen bei den Verhandlungen des Pariser Friedens sich in völliger Ohnmacht gegenüber den geschonten Kräften Österreichs und Russlands befand und somit sehr schlecht abschnitt. Wenn der alte Blücher damals fluchte, dass die Federn der Diplomaten verdorben, was er und seine Waffenbrüder mit dem Schwert erworben hätten – ein Wort, das ja gewissermaßen sprichwörtlich geworden ist –, so befand er sich in einer verhängnisvollen Selbsttäuschung. Die Sachlage war vielmehr die, dass die Federn der Diplomaten nicht erwerben konnten, was das Schwert Blüchers verdorben hatte.

Diese Beispiele ließen sich häufen. So verdankte Bismarck den größten Erfolg wie den größten Misserfolg seiner auswärtigen Politik dem Umstand, dass er sich das eine Mal vor dem Totsiegen zu hüten verstand, das andere Mal aber nicht.

Dass er nach der Niederlage Österreichs im Jahre 1866 in erbittertem Streit mit den Generalen und selbst mit dem König nach seinem eigenen zutreffenden Ausdruck das „Augenmaß" besaß, sich auf das für seine Zwecke Notwendige zu beschränken, nämlich die Herstellung eines Großpreußens, ist diejenige seiner Leistungen, die ihm am ehesten den Anspruch auf den Namen eines Staatsmanns gibt. Wenn er aber 1871 die Annexion Elsass-Lothringens durchsetzte, so bewies er, dass allerdings die Federn der Diplomaten verderben können, was die Schwerter des Heeres erworben haben, wobei die strittige Frage, ob und inwieweit sich ihm dabei fremde Schuld und eigene Torheit verkettet haben mag, an dieser Stelle auf sich beruhen kann.

Überdies ist der Streit über „Niederlage" oder „Sieg" einigermaßen verfrüht. Wenn anders die Erfahrungen der Geschichte noch etwas gelten, so ist es in höchstem Grade wahrscheinlich, dass es weder zu der einen noch zu dem anderen kommen wird. Koalitionskriege, in denen eine Gruppe von Mächten einer einzelnen Macht gegenübersteht, haben oft genug mit der Niederlage des einen oder des anderen Teiles geendet, so dass ihm der Friede mit der Spitze des Schwertes auf der Brust diktiert werden konnte. Koalitionskriege dagegen, in denen zwei Mächtegruppen miteinander rangen, pflegten an der allgemeinen Erschöpfung zu sterben.

Geschichtliche Beispiele sind im siebzehnten Jahrhundert der Dreißigjährige, im achtzehnten Jahrhundert der Siebenjährige Krieg. Dieser Krieg hat sogar, wenigstens für Europa, mit dem Ergebnis geendet, das sich angeblich nur „Kindsköpfe" vorstellen können, [und] zwar [so], dass nicht ein Grenzstein verrückt wurde, den vermoderte Diplomaten gesetzt hatten. Natürlich soll damit nicht gesagt sein, dass der Dreißig- und der Siebenjährige Krieg überhaupt keine politischen Wirkungen gehabt hätten. Die haben sie in bedeutsamster Weise gehabt: Der Dreißigjährige Krieg führte zur europäischen Hegemonie Frankreichs, der Siebenjährige bahnte die Meerherrschaft Englands und die russische Hegemonie über das europäische Festland an.

Bei der ganzen Umlernerei ist niemand ärger ins Gedränge gekommen als der gesunde Menschenverstand. Durch die Politik des 4. August1 schiffte sich die offizielle Partei mit ein auf das Schlachtschiff des Imperialismus, sei es auch nur als blinder Passagier. Eben als solcher hat sie an Bord aber gar nichts zu sagen, und zwar von Rechts wegen nicht. Wenn man die Selbständigkeit des Handelns einmal einem, wie man annimmt, höheren Zwecke geopfert hat, so muss man auch die Konsequenzen in den Kauf nehmen.

Den Kurs des Schiffes bestimmt nicht die Mannschaft, sondern der Kapitän, und selbst wenn der Kapitän der Mannschaft für das Gelöbnis unverbrüchlicher Treue gestatten sollte, ihre unmaßgebliche Meinung darüber zu äußern, wie eigentlich gesteuert werden solle, so wird er diese unmaßgebliche Meinung auch als solche behandeln und so steuern, wie er nach Gewissen und Pflicht steuern zu müssen glaubt, woraus ihm nicht der geringste Vorwurf gemacht werden kann.

Ruberrimus-Heilmann stellt die Frage ganz richtig so: Entweder bekämpft man den Imperialismus auf der ganzen Linie, und dann muss man auf den „Sieg" des eigenen Landes verzichten, oder man will „durchhalten bis zum Siege", und dann muss man sich mit dem „Imperialismus" des eigenen Landes recht und schlecht vertragen. Er gerät aber in die gräulichste Konfusion, wenn er dem „Siege" des deutschen Imperialismus dadurch die Stacheln nehmen will, dass in Deutschland von allen Staaten, die am Weltkrieg beteiligt seien, die Sozialdemokratie weitaus am einflussreichsten und stärksten sei und ihre Macht während des Krieges noch außerordentlich vermehrt habe. Das sei eine genügende Sicherheitskette gegen Eroberungspläne, die den nationalen Bestand anderer Kulturvölker anzutasten wünschten. Um im Bilde zu bleiben, so sagt Ruberrimus-Heilmann damit: Wir schiffen uns auf dem Schlachtschiff des deutschen Imperialismus ein, aber als Mannschaft werden wir schon dafür sorgen, dass der Kapitän keinen Kurs steuert, der den Imperialismus fördert und stärkt.

Das verstehe, wer kann. Wenn irgendwo im Ausland von sozialdemokratischer Seite Versuche gemacht werden, die Internationale wieder aufzurichten – Versuche, an denen doch immer der gute Wille zu loben ist, was immer sonst an ihnen auszusetzen sein mag –, so kommen die Cunow und Genossen mit hochgezogenen Brauen und belehren uns: „Nun ja, da sind wieder ellenlange Resolutionen gefasst worden, wie schon hundert Mal früher, Resolutionen voll der alten Schlagworte, die uns nachgerade zum Halse heraushängen. Das ist doch nicht mehr, als wenn der Wind in den Schornstein fährt." Dieselben Politiker aber bilden sich ein, durch Resolutionen, von denen man doch auch nicht sagen kann, dass sie neue Gedanken enthalten, den Frieden fördern zu können. Wohlgemerkt, indem sie tatsächlich an der „Durchhaltepolitik bis zum Siege" festhalten. Das ist allerdings „Froschmolluskenbreinatur", um mit Heilmann zu sprechen.

Es ist im günstigsten Falle eine heillose Phantasie Heilmanns, wenn er behauptet, dass sich die Macht der deutschen Sozialdemokratie im Kriege außerordentlich vermehrt habe. Genau das Gegenteil ist richtig. Im Grunde ist diese Macht schon am 4. August 1914 zum leeren Schein geworden; eine Arbeiterpartei, die, um mit einem preußischen König zu sprechen, auf „das stolze Vorrecht der Initiative" verzichtet, liefert sich damit ihren Gegnern aus.

Immerhin – wenn im Anfang noch eine gewisse Rücksicht auf die Bedürfnisse der Partei genommen wurde, so ist diese Rücksicht mehr und mehr geschwunden. Auf die Einzelheiten, die ebenso beweiskräftig wie zahlreich sind, kann heute aus bekannten Gründen nicht eingegangen werden. Es war noch eine vereinzelte Stimme, als gleich nach dem 4. August ein konservatives Blatt erklärte: „Was ist denn viel an der Bewilligung der Kriegskredite durch die sozialdemokratische Reichstagsfraktion zu loben? Die Leute haben getan, was sie nicht lassen konnten, wenn sie nicht gewaltig in die Tinte kommen wollten." Heute erklären die Heydebrand und Westarp schon ganz öffentlich, wenn die Sozialdemokratie den Brand des gemeinsamen Hauses habe löschen helfen, so könne man ja künftig darauf verzichten, sie „antinational" zu nennen, aber sonst bleibe alles beim Alten. Es gehören seltsame Ohren dazu, aus diesen Tönen irgend etwas von Respekt vor der gewachsenen Macht der Sozialdemokratie herauszuhören.

Die verlorene Macht lässt sich nur wiedergewinnen, und neue Macht lässt sich nur erobern, wenn die Partei sich in der Kriegs- und Friedensfrage auf die eigenen Füße stellt. Wenn im öffentlichen Leben immer entscheidet, dass man erstens einen Willen und zweitens ein Ziel hat, so raubt die „Durchhaltepolitik" der Partei gleichermaßen den Willen, wie sie ihr das Ziel verwirrt. Man kann sowenig wirksam für den Völkerfrieden kämpfen, ohne jedem Bündnis mit dem Imperialismus, gleichviel in welcher Form, den schroffsten Abschied gegeben zu haben, wie man Feuer und Wasser miteinander vermischen kann.

Ehe diese Bedingung nicht erfüllt ist, wird mit allen Kundgebungen der Partei für den Frieden, so machtvoll und massenhaft sie erscheinen mögen, nichts ausgerichtet werden. Das mag eine bittere Wahrheit sein, aber deshalb braucht sie nicht verschwiegen zu werden. Die Zeit der Selbsttäuschungen sollte nachgerade vorbei sein.

Dasselbe sagen nun freilich auch die Umlerner. Nach ihnen hat die Partei bis zum 4. August 1914 in den kolossalsten Illusionen gelebt. Wie es einer von ihnen jüngst in die Sätze gekleidet hat, die kapitalistische Gesellschaft, wie sie Marx erlebt und beschrieben habe, bestehe heute nicht mehr so. Man habe durchaus von vorn zu beginnen, das heißt nicht mit Lehrsätzen, sondern mit der Erkundung und Ordnung der wirtschaftlichen Tatsachen, mit der alten marxistischen Methode, aber nicht mit den alten Buchzitaten; man habe nichts Altes zu revidieren, sondern Neues zu ergründen.

Kann man sich ärgere Gemeinplätze denken? Und sie rühren noch von einem der gescheitesten Umlerner her. Gewiss besteht die kapitalistische Gesellschaft „nicht mehr so" wie zur Zeit, wo Marx lebte; es ist unzweifelhaft richtig, dass sie an seinem Todestag nicht der Versteinerung verfallen ist. Gewiss ist es notwendiger und nützlicher, in der Weise des Meisters zu denken als seine Worte nachzuplappern, aber diese Weisheit ist so alt, dass sie schon im Altertum sprichwörtlichen Klang hatte. Gewiss soll man nicht mit Lehrsätzen beginnen, sondern mit der Erkundung der Dinge, aber das haben auch schon die griechischen Naturphilosophen gewusst.

Dazu kommt dann noch die ganze Litanei von „versteinerten Dogmen", „engstirnigen Orthodoxen" und dergleichen mehr, die schon vor dem Kriege gang und gäbe war, aber jetzt im Kriege auch von manchen Leuten hergebetet wird, die ehedem nur ein verächtliches Achselzucken dafür hatten. Statt diese Trivialitäten, mit denen sich schließlich doch kein Hund mehr vom Ofen locken lässt, ewig breitzutreten, sollten die, die es angeht, endlich einmal eine einzige kleine Tatsache anführen, durch die der Weltkrieg auch nur ein Atom von dem widerlegt hat, was vor ihm unser politisches und soziales Programm war.

Gewiss hat er eine Reihe von Erscheinungen gezeitigt, die bisher mehr oder weniger unbekannt oder doch nicht genügend erkannt waren und die mit aller Gründlichkeit und Sorgfalt studiert werden müssen. Wo gäbe es aber auch einen Narren, der das bestritte und den Weltkrieg für eine Episode hielte, nach der man die Fäden nur gerade da, wo er sie zerrissen hat, wieder anzuknüpfen brauche, um sie in aller Seelenruhe weiterzuspinnen? Ebenso wenig bestreitet irgend jemand, der noch im Besitz seiner fünf Sinne ist, dass der Weltkrieg die Partei vor gewaltige Aufgaben stellt, deren Lösung ihre ganze Kraft beansprucht. Aber was – um's Himmels willen! – hat alles das mit der Behauptung zu tun, dass die Erfahrungen des Weltkriegs uns zum „Umlernen" zwingen sollen, das heißt zur Opferung der Grundsätze, die seit fünfzig Jahren die Leitsterne der deutschen Arbeiterpolitik gewesen sind?

Kraft dieser Grundsätze haben soundso viele sozialdemokratische Kongresse den Weltkrieg vorausgesagt und vorausgesehen und die Taktik festgelegt, die bei seinem Eintritt von dem internationalen Proletariat zu beobachten sei. Solange man nicht behaupten will oder gar beweisen kann, dass alle diese Kongresse sinnbetört gewesen seien, so lange lässt sich die Notwendigkeit irgendeines Umlernens nur daraus ableiten, dass der Weltkrieg in ganz anderen Formen ins Leben getreten ist, als die internationale Sozialdemokratie vorausgesehen und vorausgesagt hat. Etwa so, dass die kriegführenden Mächte zunächst das Gemeineigentum hergestellt, damit die Lohnfesseln der arbeitenden Klassen gesprengt und nun erst miteinander gekämpft hätten, was danach freilich keinen rechten Sinn und Zweck mehr gehabt haben würde. Die Unterstellung einer solchen Möglichkeit ist gewiss Unsinn, aber dieser Unsinn ist nur die auf die Spitze getriebene Logik, wonach das politische und soziale Wesen des Weltkriegs uns zu einer Umwälzung unserer politischen und sozialen Grundsätze zwingen oder auch nur veranlassen soll.

Ohne hier in die verschiedenen Auffassungen des Umlernens näher einzugehen, so ist darüber kein Streit möglich, dass der Imperialismus eine historisch vorgeschrittene Form des Kapitalismus ist. Wie der Ursprung, so sind auch die Mittel und die Ziele des Krieges kapitalistischer Art und ändern nicht das Geringste an dem Verhältnis von Kapital und Lohnarbeit. Dies Verhältnis ist aber der Angelpunkt des sozialdemokratischen Programms, und alle Schlussfolgerungen, die sich daraus ergeben, sind heute so unangefochten wie je.

Oder hat die kapitalistische Gesellschaft in diesem Weltkrieg ein anderes Gesicht gezeigt als vor ihm? Das wäre zwar ein Wunder, aber der Wunderglaube hat mitunter eine ansteckende Kraft. Jedoch auch für die, die nach dem bekannten Wort nicht alle werden, genügt ein Hinweis auf den Lebensmittelwucher, um ihnen klarzumachen, dass dieser Krieg den Kapitalismus zu Leistungen angespornt hat, die selbst in seiner grausamen Geschichte bisher unerhört gewesen sind. Und alle sittliche Entrüstung über einzelne Wucherer, die es besonders arg getrieben haben und von Haus aus bösartig angelegte Individuen sein mögen, ändert nicht das geringste an der Tatsache, dass der Lebensmittelwucher als solcher in der kapitalistischen Produktionsweise wurzelt, wie ja gerade diejenigen ihrer Vorkämpfer anerkennen, die sich mit dem Nachweis abmühen, dass er zwar eine sehr beklagenswerte, aber leider vom menschlichen Willen unabhängige Tatsache sei, die nun einmal als unvermeidliche Schickung ertragen werden müsse. Und dies düstere Gorgonenhaupt verliert nichts, sondern gewinnt nur an versteinerndem Schrecken, wenn ihm gegenüber ein von seinem Genius besonders gesegneter Umlerner die groteske Fratze des „Kriegssozialismus" an die Wand malt.

Unter all seinen furchtbaren Zerstörungen hat der Weltkrieg auch nicht ein Tüttelchen unseres Programms zu erschüttern [vermocht]. Um diese Tatsache zu verwischen, tun die Umlerner das, was sie uns vorwerfen: Sie arbeiten mit „Buchzitaten" aus Marx und Engels, um zu beweisen, dass die Mehrheit der Reichstagsfraktion am 4. August im Sinne dieser Männer gehandelt habe. Es lohnt nicht, darüber zu streiten, selbst wenn ganze Traktätchen voll solcher „Buchzitate" auf Regimentsunkosten massenhaft verbreitet werden. Wer von dem Geiste, der in Marx und Engels und nicht minder in Lassalle lebte, je auch nur einen Hauch gespürt hat, der weiß, wo unsere Altmeister heute stehen würden, und das muss gegenüber dem noch so lärmenden Unverstand genügen. Sie waren keine Halbgötter, geschweige denn Götter, aber gleichwohl soll man ihre Namen nicht unnütziglich führen. Ob die Bibliothek voll blühenden Unsinns, der über sie schon zusammengeschrieben ist, noch um einige Schränke voll Makulatur vermehrt wird, kann uns so gleichgültig sein, wie es ihnen sein würde, wenn sie noch lebten.

Jedoch auf einen Punkt, an dem unser Erbe von den Umlernern mit einigem Recht angenagt worden zu sein scheint, sei mit einigen Worten eingegangen. Namentlich in den ersten Wochen des Krieges erklang gar laut die Melodie: „Sehet da, wie sich die Marx und Engels und ihnen nach die Liebknecht und Bebel verrechnet haben, wenn sie von dem Ausbruch eines Weltkriegs den Zusammenbruch der kapitalistischen Gesellschaft erwarteten. Mit dem ersten Schuss hat sich diese Prophezeiung als ein leeres Phantom erwiesen. Zumal der deutsche Kapitalismus ist längst nicht überlebt; er feiert Sieg auf Sieg, im Felde wie an der Börse; er steht nicht auf tönernen Füßen, sondern ist ein Kerl von Granit, an dem wir uns vergebens die Zähne ausbeißen würden. Sehen wir also, wie es Männern geziemt, den Tatsachen ins Auge und verabschieden wir die Illusionen, in denen wir bisher gelebt haben. Holen wir von dem allmächtigen Kapitalismus heraus, was sich im Interesse der arbeitenden Klassen herausholen lässt, aber verzichten wir darauf, uns die Köpfe an seinen Mauern einzurennen." Diese Unkenrufe konnte man in Parteikreisen vor zwei Jahren hundertfach hören.

Inzwischen haben die Erfahrungen des Weltkriegs sie schon wesentlich herab gestimmt. Die kapitalistische Herrlichkeit ist sehr fadenscheinig geworden, und unter ihren überzeugten Bewunderern mehrt sich von Tag zu Tag die Zahl derer, die mit Grauen in die Zukunft sehen. Und auch die angeblich „falschen Propheten" sind schon zu ihrem Rechte gekommen. Man lese zum Beispiel die Einleitung zu Borkheims Schrift über die „Mordspatrioten2, die Engels vor dreißig Jahren geschrieben hat, und man hat ein Bild des heutigen Krieges vor sich, das an Naturtreue nichts zu wünschen übrig lässt und höchstens daran leidet, dass die Farben nicht kräftig und satt genug aufgetragen sind. Und übrigens ist die Annahme, ein Weltkrieg werde die internationale Weltwirtschaft sehr bald in einen wüsten Trümmerhaufen verwandeln, nicht nur von Engels oder Bebel allein verkündet worden, sondern oft genug auch gerade von den erfahrensten Kennern der bürgerlichen Ökonomie.

Immerhin mag man zugeben, dass die Schwindsucht ein anderes Leiden ist als der Schlagfluss und dass wir uns den Zusammenbruch der kapitalistischen Welt anders vorgestellt haben, als er sich vollzieht. Dies ist der eine Punkt, auf den Umlerner sich mit einem gewissen Recht berufen, und gerade in diesem Punkt haben sie nicht am wenigsten unrecht. Diejenigen „Illusionen", vor denen sie warnen, gehören zum Sozialismus, der sich selbst aufgeben würde, wenn er je auf sie verzichtete, wie denn vom Sozialismus der Umlerner verzweifelt wenig übrigbleibt.

Denn ihr ganzer Gedankengang, dass der Kapitalismus noch zu mächtig sei, als dass die Arbeiterklasse darauf rechnen dürfte, ihn zu überrennen, und dass man sich bis auf eine unabsehbare Zukunft darauf beschränken müsse, aus dem Kapitalismus herauszuholen, was sich im Interesse der arbeitenden Klassen aus ihm herausholen lasse, ist gar nicht mehr sozialistisch. Das kann der erste beste bürgerliche Sozialreformer auch unterschreiben. Was den Sozialisten macht, ist die unbedingte Siegeszuversicht und die unerschütterliche Überzeugung, eine neue Welt schaffen zu können. Das gilt keineswegs bloß von den Marxisten, sondern von allen Sozialisten, die sich je in der Geschichte einen Anspruch auf diesen Ehrennamen erworben haben: von dem sterbenden Saint-Simon, der die Begeisterung für notwendig erklärte, um große Dinge zu vollbringen, bis zu dem sterbenden Rodbertus, der die Zukunft „in wundersam rosigem Lichte" sah. Das waren gewiss „Illusionäre", aber solche „Illusionäre" bringen es gewöhnlich weiter als die braven Philister, denen die Vorsicht der bessere Teil der Tapferkeit ist.

In dem wissenschaftlichen Sozialismus, wie ihn Marx und Engels begründet haben, tritt diese „Illusion" noch schärfer hervor, da er mit ungleich schärferen Waffen als die früheren Sozialisten den Kapitalismus zu bekämpfen weiß. Wie lässt sich eine größere „Illusion" denken als [die,] in der ihr Bund der Kommunisten lebte, ein paar hundert armselige Handwerksburschen, die sich den „Umsturz der kapitalistischen Gesellschaft" zum Ziele gesetzt hatten! Man hat sich zwar darauf berufen, Marx und Engels hätten sich im Herbst 1850 von allen „revolutionären Illusionen" frei gemacht, und damit die Politik des 4. August in beschönigenden Vergleich gestellt, aber dabei lief eine kleine Verwechslung mit unter. Im Herbst 1850 sagten Marx und Engels den Versuchen der bürgerlichen Emigranten ab, sich über das einstweilige Ebben des revolutionären Stromes trotz der handgreiflichsten Tatsachen hinwegzutäuschen, aber deshalb hielten sie – wie ihre Briefe und Schriften aus der damaligen Zeit auf jeder Seite zeigen – an der „Illusion" fest, dass der revolutionäre Tanz demnächst wieder losgehen werde, und richteten danach ihre politische Tätigkeit ein.

Ähnliches gilt von Lassalle. Als er im Jahre 1863 seine Arbeiteragitation begann, schilderte ihm sein Freund Bucher in beredter Weise, dass er sich auf ein höchst „illusionäres" Abenteuer einlasse; er greife eine Übermacht an, die ihn mit einem Griff zermalmen könne. Bucher berief sich auf ein Wort Lessings, wonach Leute, denen es gegeben sei, tiefe Blicke in die Zukunft zu tun, diese Zukunft viel zu nahe sähen und in Jahren erreichen wollten, was sich erst in Jahrhunderten verwirklichen ließe. Lassalle verstand seinen Lessing aber besser als Bucher; er wusste wohl und hat es gelegentlich selbst ausgesprochen, dass sein Ziel erst in einem oder zwei Jahrhunderten zu erreichen sei, aber deshalb ging er nicht weniger mutig ans Werk, als ob er es schon morgen erreichen könne.

Lassalle vertrat damit den Standpunkt der heutigen Quertreiber, während die heutigen Umlerner nach dem Muster Buchers handeln, der ja freilich auch ein gewaltiger Umlerner gewesen ist.

Was bieten uns nun die Umlerner für das, was sie uns nehmen wollen? Ein ihnen sehr wohlgesinnter Mann, Gustav Mayer, der Biograph Schweitzers, handelt darüber im „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik", allein wenn man den gelehrten, mit anderthalbhundert Anmerkungen gespickten Aufsatz gelesen hat, so ist man so klug wie zuvor.

Herr Mayer vergleicht die Umlernerei mit einer kräftigen Brise, die vom sturmgepeitschten Meere durchs Land fege und allem Morschen gram sei, und in der „Mannigfaltigkeit ihrer Wege und Motive" erblickt er nicht ein „Zeichen der Armut, sondern der Fülle". Aber diese wohlwollende Umschreibung einer heillosen Konfusion genügt Herrn Mayer doch selbst nicht. Er meint, eine Arbeiterpartei, die nicht auf kirchlichem Boden stehe, bedürfe auch hinfort einer Theorie und dürfe sich nicht einem Eklektizismus ausliefern, dem jedes geistige Band fehle. Endlich tröstet sich Herr Mayer mit einem Blick in die Zukunft, wo die Theorie von Karl Marx nur noch ein gewaltiger Steinbruch sein werde, aus dem die Baumeister der Zukunft sich ihre Blöcke holen würden wie einst vom Kolosseum und vom Forum die Baumeister der römischen Basiliken.

Sehr tröstlich ist dieser Trost nicht. Denn die Theorie von Karl Marx haben die Umlerner ja längst als einen „gewaltigen Steinbruch" angesehen, aus dem sie ihre „Blöcke" holten, nicht freilich um Basiliken zu bauen, sondern um sie ihren Gegnern an den Kopf zu werfen, aber die Wirkung dieses Bombardements ist doch nur gewesen, dass ihre gescheiteren Köpfe vor den „alten Buchzitaten" aus Marx warnen. Was dabei an abgeschmackter Gaukelei ans Tageslicht gekommen ist, lässt sich schließlich nicht auf eine Kuhhaut schreiben, und auch Herr Mayer gesteht gepressten Herzens, es gehöre „einige Kühnheit" dazu, zu behaupten, dass Marx und Engels, wenn sie heute noch lebten, die Politik des 4. August gebilligt haben würden.

So begreift man den Jubel in manchen Kreisen der Umlerner, als einer von ihnen wirklich mit einer neuen Theorie hervortrat, Paul Lensch mit seiner Schrift über das Ende und das Glück der deutschen Sozialdemokratie; so begreift man, dass Heinrich Cunow und Heinrich Schulz und Konrad Haenisch und andere mehr in den jubelnden Ruf ausbrechen: Habemus papam. Freilich nicht überall erscholl dieser Jubel, denn der Nebel der Konfusion vermag sich nie so zusammenzuballen, dass er um einen festen Mittelpunkt kreist. Und so fehlte es nicht an Umlernern, die sofort von der unheilschwangeren Ahnung geplagt wurden, diese neue Theorie werde sie vollends ins Unglück bringen, und deshalb heftigen Protest gegen sie erhoben.

Die Schrift Lenschs ist bereits in der „Neuen Zeit" besprochen worden, so dass auf ihren Inhalt hier nicht eingegangen zu werden braucht. Herr Mayer scheint sie noch nicht gekannt zu haben, sonst würde er sicherlich bemerkt haben, dass sie aus dem „gewaltigen Steinbruch" der marxistischen Theorie keinen Block entlehnt und nicht einmal ein Bröcklein, sondern die Steine, mit denen sie die Basilika der Zukunft erbaut, aus bürgerlichen Trümmerstätten bezieht. Zum Teil aus den moosüberwachsenen Ruinen des verfallenden Hegeltums; was ein verschollener Hegeling im vierten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts schrieb: Der preußische Staat ist eine Riesenharfe, aufgespannt im Garten Gottes, um den Weltchoral zu leiten, das lautet bei Lensch im zweiten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts: Ein neues soziales Ideal zieht herauf: die sozialisierte Gesellschaft, ihr Degen aber ist Deutschland, und ihr Bahnbrecher heißt Bethmann Hollweg. Zum anderen Teil holt Lensch die Steine für seinen Bau aus der kathedersozialistischen Literatur preußischer Observanz, wie sie namentlich durch Schmoller vertreten ist. Doch will ich darauf nicht eingehen, zumal da ich es schon an anderem Orte getan habe.

Hier nur einige Worte zur Kennzeichnung der Scherze, die mit dieser Schrift von ihrem Verfasser und ihren Bewunderern getrieben werden. Lensch selbst hat mich in den Streit gezogen, indem er mich als den Hauptschuldigen nennt, der die Partei durch entstellte Darstellungen der deutschen und namentlich der preußischen Geschichte in die Irre geführt habe. Gegen diesen Vorwurf mich zu rechtfertigen ist mir natürlich nicht der Mühe wert; hätte ich irgendein Bedürfnis dazu, so brauchte ich nur die begeisterten Kritiken abzudrucken, die Heinrich Cunow, Heinrich Schulz, Konrad Haenisch, das „Hamburger Echo" usw. meinen Schriften über deutsche Geschichte gewidmet haben. Sie werden sagen: Wir haben eben umgelernt, und ich bin der letzte, ihr Recht dazu zu bestreiten, aber zum Umlernen gehört hoffentlich doch auch noch das Lernen, und das Lernen hat nichts zu tun mit der blitzschnellen Erleuchtung, womit sie die preußische Geschichte, die sie jahrzehntelang in dunklem Lichte gesehen haben, nun plötzlich in blütenweißem Glänze erblicken; das grenzt doch schon an ein Pfingstwunder. Historische Fragen gründlich zu studieren, gründlich schon, wenn man sie erkennen will, und noch viel gründlicher, wenn man sie unrichtig erkannt zu haben glaubt, gehört offenbar auch zu den üblen Angewohnheiten der „engstirnigen" Orthodoxie.

Lensch selbst hat sich mit einer genialen Wendung aus der Affäre zu ziehen gewusst. In den „Leipziger Neuesten Nachrichten" hat er sich auf dem Stuhle, den der selige Liman leer gelassen hat, mit Würde gefasst und ihren alldeutschen Lesern erzählt, er habe im besonderen meine „Lessing-Legende"3 nie bewundert, sondern diese Bewunderung nur geheuchelt, um meiner greisenhaften Eitelkeit auf den Zahn zu fühlen, und sich desselbigen Tages noch im Kreise seiner Kumpane darüber ergötzt, dass ihm dieser himmlische Streich wirklich gelungen sei.

Etwas schwieriger liegt die Sache für seinen Bewunderer Heinrich Schulz. Ich habe nämlich über preußisch-deutsche Geschichte nicht nur Bücher geschrieben, sondern auch fünf Jahre lang an der Parteischule unterrichtet. Mehr der Not gehorchend als dem eigenen Triebe, denn ich denke sehr gering von meinen pädagogischen Fähigkeiten. Ich sage das nicht aus gezierter Bescheidenheit, sondern aus ehrlicher Selbsterkenntnis. Wenn ich daran erinnere, dass Heinrich Schulz, als er in die Partei eintrat, zuerst bei mir anklopfte und um mein geistiges Patronat bat, und dass Paul Lensch, Konrad Haenisch, Hermann Wendel unter meiner Leitung in der Redaktion der „Leipziger Volkszeitung" gearbeitet haben, so wird der Leser mir aufs Wort zugeben, dass es mit meinen pädagogischen Fähigkeiten nicht weit her sein kann, wenn man sie anders an dem Bibelwort misst: An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Mit jedem neuen Kursus der Parteischule wollte ich denn auch die Flinte ins Korn werfen, aber wer mich jedes Mal, ich möchte sagen an den Haaren festhielt und meinen Unterricht in deutscher Geschichte für ganz unersetzlich erklärte, war ihr Geschäftsführer, und der hieß Heinrich Schulz.

Dass er so gehandelt hat nur aus ulkiger Spekulation auf meine greisenhafte Eitelkeit, wird er hoffentlich selbst nicht behaupten wollen. Kein Zweifel, dass er in gutem Glauben war, als er die historische Vergiftung der Partei durch mich an seinem Teile kräftiglich gefördert hat. Aber nachdem er zur Erkenntnis des Unheils gekommen ist, das er mit angerichtet hat, da sollte er doch ein wenig in seinem Kämmerlein Reu' und Leid tun, statt wie ein munterer Hahn auf dem neuen Gedankenschatz seines Freundes Lensch zu krähen. Umlernen – na ja, wenn es denn durchaus sein soll, aber umreden lassen sich so verschmitzte Sachen nicht wie preußische Geschichte, antike Kultur und dergleichen mehr. Da muss man sich schon auf die Hosen setzen und arbeiten, bis einem der Kopf dampft; mit schulmeisterlichen Orakeln kommt man nicht an sie heran.

Wären die Schrift von Lensch und ähnliche Geisteserzeugnisse in der Tat ein zutreffender Maßstab für die wissenschaftliche Diskussion innerhalb der Partei, dann in der Tat könnte man befürchten, dass ihr „Ende" da sei. Aber sie sind ein solcher Maßstab nicht, denn zu einer Diskussion gehören zwei, und dem anderen ist es nicht möglich, zu sprechen, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Sollte diese Möglichkeit wieder gegeben sein, dann werden die Lenschiaden verschwinden wie die Gespenster beim ersten Hahnenschrei, und man kann ihnen dann Goethes Wort mit auf den Weg geben:

Wanderer! Gegen solche Not

Wolltest du dich sträuben?

Wirbelwind und trocknen Kot,

Lass sie drehn und stäuben.

Aber auch jetzt beginnt es schon zu tagen. Wenn Gottes Mühlen langsam, aber trefflich fein mahlen, so mahlen des Teufels Mühlen viel rascher, aber deshalb nicht weniger fein. Die Lehren des Weltkriegs fangen an, den Umlernern die verlorene Dialektik wieder einzupauken. Sie beginnen einzusehen, dass sich trotz des 4. August furchtbare Wetterwolken über der deutschen Arbeiterklasse empor türmen, und so sagen sie: Verlieren wir die kostbare Zeit nicht mit theoretischen Haarspaltereien, sondern schließen wir unsere Reihen, denn nur als geschlossene Phalanx können wir hoffen den drohenden Stürmen siegreich zu widerstehen.

Das ist soweit sehr schön, wenn sich nur die „geschlossene Phalanx" herstellen ließe, ehe die „prinzipiellen Haarspaltereien" in einer Weise erledigt sind, die den alten und unveräußerlichen Prinzipien der Partei entspricht. Oder genauer: Sie lässt sich wohl äußerlich herstellen, aber nicht als ein siegreiches, sondern als ein kampfunfähiges Heer, das, so geschlossen es immer gedrillt sein mag, doch bei dem ersten ernsthaften Zusammenstoß auseinander stiebt.

Ein geschichtliches Beispiel dafür bietet das Schicksal der Fortschrittspartei in der preußischen Konfliktszeit. Sie hatte – im Verhältnis der Umstände und Zeiten – noch viel mehr hinter sich als die heutige Sozialdemokratie, wenn auch in ihrem Schoße die größte prinzipielle Unklarheit herrschte. Aber man kann ihr nicht abstreiten, dass sie sich von allen „prinzipiellen Haarspaltereien" mit eiserner Konsequenz frei hielt und den höchsten Wert darauf legte, als „geschlossene Phalanx" gegen das System Bismarck zu marschieren. Sie ging darin so weit, dass Berlin, die stolze „Stadt der Intelligenz", einmal eines ihrer durch eine Doppelwahl frei gewordenen Mandate einem dunklen Ehrenmann aus der Kassubei übertrug, dessen einziger Anspruch auf diese Auszeichnung darin bestand, dass er bei der Wiederwahl in seinem heimatlichen Wahlkreis unterlegen war. Es sollte eben auch nicht ein Mann aus der „geschlossenen Phalanx" fehlen. Wie dann diese Phalanx bei dem ersten ernstlichen Zusammenstoß nach allen Windrichtungen auseinanderstob, ist aus der Geschichte bekannt genug.

An diese Praxis der damaligen Fortschrittspartei wird man lebhaft erinnert durch die Lamentationen der Umlerner über das „pöbelhafte" und „undankbare" Gebaren der braunschweigischen Genossen, die ihrem bisherigen parlamentarischen Vertreter das Mandat für die nächste Wahl gekündigt haben, weil er durch seine Zustimmung zu der Politik des 4. August die alten Grundsätze der Partei preisgegeben habe. Es kommt nicht auf den konkreten Fall an: Wir haben nichts gegen die Ehrenqualitäten einzuwenden, die auf den Scheitel des von dem Misstrauensvotum betroffenen Genossen gehäuft werden; wir wollen auch zugeben, dass die braunschweigischen Genossen mit ihrer endgültigen Entschließung vielleicht besser bis zur Heimkehr der im Felde stehenden Wähler gewartet hätten: Alles das berührt nicht den springenden Punkt, den Anspruch der Umlerner, dass, wer einmal im Besitz eines Mandats sei, zumal wenn er sonst ein guter Kerl ist, um der Einigkeit willen darin erhalten werden müsse, mag er es mit den Prinzipien der Partei sonst halten, wie er will. Setzt sich dieser Anspruch durch, so dass er allgemein berücksichtigt wird, so geraten wir allerdings auf die schiefe Ebene, auf der die einst so starke Fortschrittspartei in den Abgrund geglitten ist. Aber er wird sich nicht durchsetzen; es ist hinlänglich dafür gesorgt, dass die Bäume der Umlerner nicht in den Himmel wachsen. Wie auch der böseste Wind noch etwas Gutes heran zu blasen pflegt, so war der Zusammenbruch viel zu schrecklich und schwer, als dass die Scherben, die den Boden bedecken, wieder mit Mühe und Not zurecht gekittet werden können.

Jede praktische Frage, von denen demnächst eine Unzahl an die Partei herantreten wird, führt auf den Urgrund der Prinzipien zurück, die in ihrer Klarheit und Wahrheit wiederhergestellt werden müssen, wenn die Partei – was nach ihrer ehrenreichen Geschichte von fünfzig Jahren glücklicherweise eine Unmöglichkeit ist – nicht in hadernder Ohnmacht verkommen soll.

1 Gemeint ist die Bewilligung der Kriegskredite durch die sozialdemokratische Fraktion in der Sitzung des Reichstags am 4. August 1914, mit der sich die sozialdemokratische Parteiführung offiziell zum sogenannten Burgfrieden bekannte.

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