Franz Mehring 19131020 Der erste Aasgeier

Franz Mehring: Der erste Aasgeier

20. Oktober 1913

[gezeichnet, Leipziger Volkszeitung Nr. 244, 20. Oktober 1913. Nach Gesammelte Schriften, Band 8, S. 280-283]

Noch bellt der Kamptz- und Schmalzgesell,

Beel- und Kotzebue.

Burschenlied

Uff! Der Völkerschlachtrummel ist vorbei, und die gute Stadt Leipzig atmet auf, einer großen Plage los und ledig.

Die Geschichte verlief just so ledern, wie sie verlaufen musste. Doch geben wir zu, dass es der „Weiherede" des Herrn Clemens Thieme nicht an Feinheiten fehlte. Er war von der Stadt Leipzig als Vorsitzender des Deutschen Patriotenbundes mit dem Ehrenbürgerrecht ausgestattet worden, der höchsten Ehre, die sie zu vergeben hat, von der sächsischen Krone aber mit dem nicht seltenen Titel eines Geheimen Hofrats und von der preußischen Krone gar nur mit dem roten Vogel vierter Güte, dessen jeder freisinnige Überläufer sicher sein darf.

In der „Weiherede" des Herrn Thieme war nun zwar kein Sterbenswörtchen zu hören von den Arbeitern, Bauern und Handwerkern, die die Schlacht bei Leipzig geschlagen haben, aber um so mehr von dem eigentlichen Besieger Napoleons, dem Leipziger Universitätsrektor Krug und dessen Studenten, einer Heldengestalt, deren Andenken für die profane Welt nur in dem Komödienverse erhalten ist:

Freilich in Kollegien hatten Langeweile wir genug,

Aber sonderlich bei Gottsched – jetzo hat man sie bei Krug.

Dann aber schwor Herr Thieme bei dem „Gott, der mit unseren Vätern war", dem „angestammten Fürstenhause" ewige Treue, und des preußischen Anteils an den Befreiungskriegen gedachte er nur durch die abermalige Aufwärmung der uralten Mär, dass Friedrich Wilhelm III. durch seinen Aufruf am 17. März 1813 den „teutonischen Geist wieder lebendig gemacht" habe. Die Festberichte der patriotischen Zeitungen melden, dass der Kaiser diese „Weiherede" ohne ein Zeichen des Beifalls angehört habe, was uns durchaus glaubwürdig zu sein scheint. Aber wer hätte auch in dem Deutschen Patriotenbund soviel Salz vermutet.

Nicht so witzig, aber doch menschlich verständlich war die Rede, durch die der König von Sachsen dem Herrn Thieme antwortete. Wir sind Gegner der Monarchie als politischer Einrichtung, allein deshalb empfinden wir doch menschlich mit den Menschen, die das Unglück gehabt haben, als Thronerben geboren zu sein. In der Leipziger Schlacht gingen die sächsischen Truppen, ihres Fahneneides vergessend, zum Feinde über, der sächsische König wurde als Kriegsgefangener abgeführt, nicht aus tobender Schlacht, sondern aus kugelsicherem Versteck, und er musste mit dem Verlust seines halben Landes dafür büßen, dass ein deutscher Fürst einmal Treue gehalten habe, und sei es auch nur einem fremden Eroberer – und nun hatte sein Nachfahr ein Denkmal zu Ehren dieser Schlacht in seinen königlichen Schutz zu nehmen. Es wäre wider alles natürliche Empfinden gewesen, wenn er diese vaterländische Pflicht in flammender Begeisterung erfüllt hätte, und so hat er sie wirklich nicht erfüllt.

Mit diesen beiden Reden war die Feier erschöpft, und nun bedeckte sich das Schlachtfeld mit Tausenden von Leichen, glücklicherweise nur Bier- und Sektleichen, aber gleichwohl kreiste alsbald der erste Aasgeier über dem Gefilde, das nicht mit unzähligen Toten, sondern nur mit unzähligen Scherben übersät war.

Er ist ein alter, guter Bekannter, jener Falstaff, der bei seiner zoologischen Wiedergeburt zwar viel an Witz, aber nichts an Stoff eingebüßt hat. Wer den ganzen Rummel in all seiner Widerlichkeit einmal sozusagen in der Nussschale genießen will, der lese die „Deutsche Tageszeitung", Abendausgabe vom 18. Oktober. Auf der ersten Seite spritzt der agrarische Molch sein Gift gegen die Industrie- und Handelsstadt Leipzig aus. Er schwatzt da von den alten Leipzigern und fährt dann fort:

Ich vermute, ihre Enkel erzeigen sich der Vorväter bei dem Massenansturm der Feiernden durchaus würdig; sie lassen sich nicht verblüffen, sondern sehen zu, was von den Lebenden zu holen ist. So etwas an Andenkenhandel hat die Welt noch nicht gesehen. Taschentücher mit eingedruckten, eingewebten, eingestickten Völkerschlachtdenkmälern, Unterröcke mit eingedruckten, eingewebten, eingestickten Völkerschlachtdenkmälern. Unterh – Verzeihung, das darf man nur sehen, nicht schreiben. Wer nicht wenigstens zwei ,Vivatbänder' auf seine Brust heftet, wird überhaupt nicht gesehen. Chausseeschottersteine pflegt man nicht aufzuheben. Etwas anderes ist es, wenn sie aus dem Granit des Völkerschlachtdenkmals bestehen, dann kosten sie drei Mark und sind ,offiziell'."

So wird noch eine ganze Strecke weiter der patriotische Schacher in einer Weise verhöhnt, wie es in keinem sozialdemokratischen Blatte geschehen ist. Auf der zweiten Seite wird der Kerl dann fromm, getreu dem Worte Shakespeares:

Das ist die listige Ausstattung der Hölle, Den frechsten Schalk verkleidend einzuhüllen In fromme Tracht -

Und auf der dritten Seite hetzt er gegen die Sozialdemokratie, weil sie dem Geßlerhut des Völkerschlachtrummels nicht die gebührende Ehrfurcht erwiesen habe.

In seiner Weise verfährt er dabei ganz schlau. Er will nicht in „diesen Pfuhl pöbelhafter Rohheit" hinabsteigen. Nun ist ganz glaublich, dass ein Dreckmichel, der seit Jahrzehnten in allen Lug und Trug des Brotwuchers eingefitzt ist, einen unüberwindlichen Abscheu vor klarem Wasser hat, aber ebenso sehr liegt ihm daran zu verheimlichen, dass der „Pfuhl pöbelhafter Rohheit" zusammengeflossen ist aus den Briefen und Schriften der Boyen und Gneisenau, der Arndt und Stein, der Fichte und Schleiermacher, der Platen und Uhland, genug der Männer, denen aller wirklicher Ruhm der Befreiungskriege gebührt. Wenn von dem offiziellen Spektakel gilt: Ein großer Aufwand schmählich ward vertan, so muss die Sozialdemokratie ehrlicherweise gestehn, dass sie den reichen Gewinn, den sie in diesen Tagen allerdings eingeheimst hat, der geringen Mühe dankt, die ehrlichen Zeugen der Zeit von 1813 abgehört zu haben.

Die Kamptz und Schmalz und Kotzebue und wie die schuftigen Denunzianten sonst heißen, die vor hundert Jahren hinter den Arndt und Stein und Schleiermacher herhetzten, verfolgten ihre Opfer nur, solange diese lebten. Die „Deutsche Tageszeitung" aber verlangt Ausnahmegesetze noch gegen die Toten; sie verlangt gesetzlichen Schutz gegen „die völlige Vergiftung und Verwirrung des Volks", die dadurch hervorgerufen werden soll, dass die sozialdemokratische Presse an der Hand der Arndt und Stein und Fichte den offiziellen und offiziösen Geschichtsfälschungen entgegentritt, womit sie eine Pflicht erfüllt, die für jeden ehrliebenden Deutschen einfach selbstverständlich sein sollte. Gegen solche Aasgeier sind die wirklichen Aasgeier, die vor hundert Jahren über dem Leipziger Schlachtfelde kreisten, wirklich noch ganz saubere Tiere.

Ob dieser erste Aasgeier der einzige bleiben wird, können wir nicht wissen, und ebenso wenig, ob sein heiseres Krächzen den ersehnten Erfolg haben wird. Als Deutsche dürfen wir es eigentlich nicht wünschen, denn man mag doch nicht gern, dass jeder hergelaufene Ausländer einen über die Achsel ansehen darf, bloß weil man ein Deutscher ist. Soll es denn ewig dabei bleiben, was einer der echten Schwurzeugen für 1813 vor bald hundert Jahren gesungen hat: Du weißt es längst, man kann hienieden nichts Schlechteres als ein Deutscher sein?

Als Sozialdemokraten stehen wir der Sache allerdings viel wohlwollender gegenüber. Was sollten wir dagegen einwenden, dass uns der Völkerschlachtrummel nicht nur hundert-, sondern selbst tausendfältige Frucht beschert? Es wäre nicht das erste Mal, dass es die Todfeinde der Sozialdemokratie viel besser mit ihr meinen als sie selbst.

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