Franz Mehring 18970407 Der Marine-Roon

Franz Mehring: Der Marine-Roon

7. April 1897

[Die Neue Zeit, 15. Jg. 1896/97, Zweiter Band, S. 65-68. Nach Gesammelte Schriften, Band 8, S. 26-30]

Unsere neuliche Annahme, dass die Regierung sich zunächst in die Abstriche fügen werde, die der Reichstag an ihren Marineforderungen vorgenommen hat, aber dass diese Forderungen wiederkehren müssten, hat ihre Bestätigung gefunden. Herr Hollmann, der Staatssekretär für die Marine, ist über das Votum des Reichstags gestolpert, aber an seine Stelle tritt Herr Tirpitz, der Marine-Roon, wie ihn die konfliktslüsternen Blätter nennen.

Es ist merkwürdig, aber nicht unbegreiflich, dass bei dieser Gelegenheit an den verschiedensten Stellen die Erinnerung an die preußischen Konfliktsjahre lebhaft erwacht. Auf den ersten Blick mag man meinen, dass die Analogie sehr oberflächlich sei; die Finger einer Hand würden nicht ausreichen, um alle die Verschiedenheiten aufzuzählen, die zwischen der damaligen und der heutigen Krisis bestehen. Wenn sich dennoch der Vergleich unwillkürlich aufdrängt, und nicht bloß an den Stellen, die in kurzsichtiger Weise ihre historischen Vergleiche an den Haaren herbeiziehen, um eine vorgefasste Meinung zu bekräftigen, so muss irgendein springender Punkt der Gleichheit vorhanden sein, und einen solchen Punkt gibt es allerdings. Er besteht, wie wir schon vor vierzehn Tagen sagten, in der Frage, ob der Reichstag den Mut haben wird, den Marineforderungen der Regierung ein: bis hierher und nicht weiter! zuzurufen, und ob er die Kraft haben wird, diesen Standpunkt siegreich durchzufechten. Insofern steht der deutsche Reichstag heute vor demselben Problem, vor welchem im Anfang der sechziger Jahre das preußische Abgeordnetenhaus stand.

Für den praktischen Politiker gibt es in der Zwischenzeit, die noch verfließen wird, bis der Marine-Roon auf dem parlamentarischen Schauplatz erscheint, kaum eine lehrreichere Lektüre als die Verfassungsreden Lassalles. Sie sind heute über Gebühr vergessen, und gewiss waren sie auch nur einer bestimmten politischen Situation angepasst, die in derselben Weise nicht wiederkehrt und nicht wiederkehren kann. Aber sie enthalten klar den Weg vorgezeichnet, auf dem die damalige Opposition des preußischen Abgeordnetenhauses die Regierung hätte besiegen können, den einzigen Weg, der, konsequent beschritten, zu diesem Ziele hätte führen müssen. Und in dem Punkte, in dem eine vollkommene Gleichheit zwischen damals und heute besteht, treffen sie eben auch noch vollkommen zu. Auf dem Boden der modernen bürgerlichen Gesellschaft hat die bürgerliche Klasse die Macht, die, rücksichtslos angewandt, allen Absolutismus und Militarismus lahmlegen muss. Der Knopf des Geldbeutels ist in ihrer Hand, und sie braucht diese Hand nur zur Faust zu ballen, um die Herrin der politischen Lage zu sein. Kein politischer Kalkül ist sicherer als der sich einfach auf ein Rechenexempel reduzieren lässt.

Als der Militär-Roon anfing, seine verfassungswidrigen Sprünge zu machen, riet Lassalle der Fortschrittspartei den parlamentarischen Streik an. Er meinte damit natürlich nicht, wie ihm die aberweisen Kammerherren unterstellten, ein System des Maulens und Nichtstuns, sondern er wollte dem Absolutismus und Militarismus einfach die Temporalien sperren. Dieselbe Meinung äußerte Engels mit den Worten, die europäischen Finanzkönige diskontierten nur Wechsel mit drei Unterschriften, wenn neben der Regierung nur das Herrenhaus, ohne das Abgeordnetenhaus, darauf unterzeichnet hätte oder ein Abgeordnetenhaus von Strohmännern, so sähen sie das für Wechselreiterei an und dankten für das Geschäft.1 Und in der Schrift von Marx über die deutsche Revolution und Konterrevolution2 kann man nachlesen, wie der Absolutismus schon in den verhältnismäßig noch sehr einfachen Zuständen der vierziger Jahre durch die Finanznot kirre gemacht wurde. Ja, man darf noch weiter zurückgehen – bis auf das preußische Staatsschuldengesetz von 1820, worin sich die Regierung den Staatsgläubigern verpflichtete, keine neuen Anleihen aufzunehmen ohne die Genehmigung von Landständen. Der Absolutismus hat auf dem modernen Geldmarkt keinen Kredit: Dies ist das Geheimnis aller modernen Verfassungsgeschichte.

Weshalb machte die Gegenrevolution der fünfziger Jahre nicht einfach reinen Tisch mit dem ganzen Konstitutionalismus? Wer die damaligen Zustände jemals genauer studiert hat, der weiß, dass ihr die Macht dazu nicht gefehlt hat. Sie konnte das „Blatt Papier" in aller Gemütsruhe zerreißen, ohne dass auch nur ein Pflasterstein in Berlin oder sonstwo aufgerissen worden wäre. Sie vernichtete alle möglichen „Märzerrungenschaften", kehrte sich keinen Pfifferling an die feierlichen Versprechungen, welche in den Tagen der Not gegeben worden waren, tat ohne alle Gewissensbedenken, was sie wollte. Und hätte es nur an ihrem Willen gelegen, so hätten die Manteuffel und Genossen sicherlich mit der ganzen Verfassung aufgeräumt. Aber sie konnten ohne den nervus rerum nicht existieren, und so ließen sie den preußischen Landtag als eine Geldbewilligungsmaschine bestehen. Er hatte sonst nicht das geringste zu bedeuten und zu sagen; die paar Volksvertreter, die überhaupt noch den Mund aufzutun wagten, mussten es sich gefallen lassen, sich wie Schulbuben zausen zu lassen, und liberale Schwätzer des seichtesten Kalibers, wie der Freiherr v. Vincke, wurden etwa wie rote Revolutionäre behandelt. Dennoch war das preußische Abgeordnetenhaus ein sehr wichtiges und in gewissem Sinne selbst das wichtigste Organ im Staatsorganismus; es musste das Geld bewilligen, um den Absolutismus zu nähren, der in den fünfziger Jahren sich durch diesen Apparat behaglich auswuchs, wie er sich in den vierziger Jahren ohne diesen Apparat beharrlich abgezehrt hatte.

Dann erschien der Militär-Roon mit ausschweifenden Forderungen für den Militäretat, und die Volksmassen bekamen das Maul halten, Steuern zahlen und Soldat werden einmal satt. Das Abgeordnetenhaus wollte nicht mehr bloß auf Kommando Gelder bewilligen, sondern einen Ton, einen immerhin bescheidenen Ton dabei mitreden. Der Militär-Roon machte darauf seinen Kladderadatsch, und Bismarck wurde berufen, ein verfassungswidriges Regiment zu führen. Man muss nun anerkennen, dass Bismarck als gerissener Geschäftsmann ganz gut wusste, wo der Hase im Pfeffer lag. Anfangs bemühte man sich sehr um eine Einigung mit der fortschrittlichen Opposition. Jedoch sie wollte nicht heran, und das war auch sehr gut so, wenn sie anders entschlossen war, ihre Sache durchzufechten. Damals sagte ihr Lassalle: Gegen die Zündnadelgewehre könnt ihr keine gewaltsame Revolution machen, und eine Steuerverweigerung hätte nur Sinn als Proklamation einer gewaltsamen Revolution, wie ihr im Herbste 1848 zur Genüge erfahren habt; also bleibt euch nur der eine Weg, zu streiken und dadurch die Regierung des Kredits zu berauben, ohne den sie auf die Dauer nicht leben kann; sie muss euch kommen, wenn ihr sie finanziell lahmlegt. Lassalle riet der Fortschrittspartei, den Hebel an dem Punkte anzusetzen, an dem sie wirklich eine Macht war.

Bekanntlich schlug die Fortschrittspartei aber einen mittleren Weg ein. Sie wollte weder mit Bismarck kompromittieren noch mit Lassalle revolutionieren. Sie glaubte an ihr Ziel kommen zu können, indem sie jahraus, jahrein einem Budget von etwa 134 Millionen Talern etwa 6 Millionen Taler abstrich, alles Übrige bewilligte und auch sonst den ganzen konstitutionellen Apparat mit peinlicher Genauigkeit aufrechterhielt. Statt den Stoß nach dem Herzen des Absolutismus zu führen, ritzte sie ihm leicht die Haut, in der wunderlichen Meinung, dass er daran verbluten werde. Sie diskontierte den Wechsel nach wie vor, bis auf einen verhältnismäßig geringen Betrag, den einige Jahre hindurch zu decken Bismarck finanzielle Hilfsquellen genug hatte. Trotzdem sicherte er sich jedes Jahr vor den Staatsgläubigern durch einen feierlichen, im amtlichen Blatte veröffentlichten Ministerialbeschluss, der die Staatsausgaben aufs genaueste regelte, und trotz seiner großen Erfolge im Kriege von 1866 beeilte er sich, um Indemnität für das budgetlose Regiment zu ersuchen, sobald er mit Sicherheit darauf rechnen konnte, sie vom Abgeordnetenhause zu erhalten. Das tat er wahrhaftig nicht aus irgendwelcher Vorliebe für den Liberalismus und Parlamentarismus, sondern unter dem Zwange einer unerbittlichen Notwendigkeit, unbekümmert um das lebhafte Murren seiner alten Parteifreunde, der verbohrten Junker, die sich einbildeten, in den Tagen moderner Finanzwirtschaft könne so ohne weiteres die feudal-patriarchalische Herrlichkeit wiederhergestellt werden.

Seitdem hat weder das preußische Abgeordnetenhaus noch der deutsche Reichstag eine gleich starke Kraftprobe auf das parlamentarische Budgetrecht gemacht, wie die fortschrittliche Opposition zu machen versuchte. Uneingedenk des Dichterwortes, dass man das Leben einsetzen müsse, um das Leben zu gewinnen, verschütteten sie um des Lebens willen vielmehr die Quellen des Lebens. Denn ein Parlamentarismus, der in Militärfragen nicht durchzugreifen wagt, ist zu ewiger Ohnmacht verdammt. Ob der Reichstag alljährlich ein paar kleine Abstriche am Militär- und Marineetat macht, entscheidet gar nichts für den Kampf zwischen Absolutismus und Parlamentarismus. Diese kleinen Vorpostenscharmützel, in denen Herr Eugen Richter die Bewunderung aller Philister erworben hat, die hinter dem Ofen ihr Leben für das Vaterland opfern, nützen dem Absolutismus sogar mehr, als sie ihm schaden. Sie helfen den Schein aufrechterhalten, als ob wirklich ein konstitutionelles Regiment bestände, wo doch nur ein kaum verhüllter Absolutismus besteht. Gewiss können die Steuerzahler auch die Million mitnehmen, die an einer Milliarde abgestrichen wird, aber man soll sich nur nicht einbilden, dass der Absolutismus dies geringfügige Striegeln anders empfindet als ein angenehmes Kitzeln seiner Elefantenhaut.

Wie sehr sich der Absolutismus heutzutage aufzublähen wagt, braucht niemandem auseinandergesetzt zu werden, der die Zeitungen in den letzten Wochen aufmerksam verfolgt hat. Allein schon die Art, wie der Marine-Roon angekündigt wird, sagt in dieser Beziehung genug. Eine so dreiste Sprache wäre einfach unmöglich, wenn der deutsche Parlamentarismus einige Macht hinter sich zu sammeln gewusst hätte. Indessen, was nicht ist, kann noch werden. Zwar die Hoffnung, dass der Reichstag sich in den Militärfragen noch einmal aufraffen wird, muss nach allen traurigen Erfahrungen des letzten Menschenalters aufgegeben werden. Die Redensart vom „Wehrlosmachen des Vaterlandes" genügt, um die bürgerliche Opposition bis in ihre radikalsten Richtungen hinein in wilde Flucht aufzulösen; hat sich doch Herr Quidde von der süddeutschen Volkspartei dieser Tage schon bereit erklärt, die neuen Artillerieforderungen „unter Umständen" zu bewilligen. Solche „Umstände" wird es in Militärfragen stets geben. Dagegen fällt bei den uferlosen Flottenplänen jene Redensart auch für die beschränkte Auffassung des Spießbürgers fort; hier handelt es sich einfach um die Abwehr einer abenteuerlichen Weltpolitik, und der Reichstag hat noch einmal die vermutlich letzte Gelegenheit, sich ein Stück Macht zu erobern, indem er dem Absolutismus die Marinemucken gründlich austreibt.

Wir wissen wohl, dass eine gründliche prinzipielle Aufklärung der Sachlage eher ängstigend als anfeuernd auf die bürgerlichen Helden wirkt. Umso notwendiger ist sie aber. In einen Konflikt hinein zu taumeln, ohne sich klar darüber zu sein, wie weit man gehen kann und will, hat überhaupt keinen Zweck; wer nicht mehr beabsichtigt, mag sich gleich lieber dem Marine-Roon ergeben, der aus den ostasiatischen Gewässern her gedampft kommt. Entschließt sich der Reichstag aber wirklich, in zwölfter Stunde noch ein für seine bürgerlichen Verhältnisse großes Spiel zu wagen und damit auch zu gewinnen, so wird der Marine-Roon von allen Freunden historischen Fortschritts herzlich bewillkommt werden, sobald er den Fuß auf deutschen Boden setzt.

2 Siehe Friedrich Engels: Revolution und Konterrevolution in Deutschland. (Erst 1913 wurde im Zusammenhang mit der erstmaligen Herausgabe des Briefwechsels zwischen Marx und Engels bekannt, dass Engels diese Artikelserie geschrieben hat.) In: Marx/Engels: Werke, Bd. 8, S. 3-108, besonders S. 18-23.

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