Franz Mehring 19060721 Die Spuren schrecken

Franz Mehring: Die Spuren schrecken

21. Juli 1906

[ungezeichnet, Leipziger Volkszeitung Nr. 166, 21. Juli 1906. Nach Gesammelte Schriften, Band 8, S. 101-104]

Vor einigen Tagen haben wir den unter jedem Gesichtspunkt verfehlten Versuch eines Parteigenossen zurückgewiesen, eine große Parteiaktion vorzubereiten, für den vorausgesetzten Fall, dass die deutsche Regierung gegen die russische Revolution mit Gewalt der Waffen einschreiten werde, um die „Freundschaft" des Zaren zu gewinnen. Der Vorschlag wurde durch die Ähnlichkeit der heutigen Situation mit der Situation von 1863 zu begründen versucht, worüber wir das Nötige schon ausgeführt haben.

Wir kommen heute auf die Sache nur zurück, um einige historische und in ihrer Art lehrreiche Rückblicke auf diejenige Episode der preußischen Geschichte zu werfen, die in der Tat eine gewisse Ähnlichkeit mit der gegenwärtigen Lage haben würde. Eine gewisse Ähnlichkeit, denn die Geschichte wiederholt sich nie. Aber einmal hat wirklich ein preußischer König sich beikommen lassen, gegen die revolutionäre Erhebung einer benachbarten Nation einzuschreiten, aus Freundschaft für deren „angestammten" Herrscher, und es ist gerade jetzt nicht ohne Interesse, daran zu erinnern, was daraus wurde. Die Quittung nämlich über dieses famose Abenteuer erhielt die preußische Monarchie bei – Jena.

Es war im Jahre 1792, als die anschwellenden Fluten der Französischen Revolution den König Ludwig XVI. und die Königin Marie-Antoinette zu der landesverräterischen Politik bewogen, die Hilfe auswärtiger Mächte anzurufen, namentlich die Hilfe des österreichischen und des preußischen Hofes. Eine solche landesverräterische Politik ist gewiss auch dem Zaren Nikolaus zuzutrauen, und in Wien wie in Berlin anzuklopfen läge ja auch für ihn am nächsten. Indessen selbst damals, wo man noch gar keinen Begriff von der elementaren Kraft einer modernen Revolution hatte und der Absolutismus noch in ungeschwächter Kraft auf deutschem Boden bestand, hatte man an den „maßgebenden" Stellen in Berlin und in Wien den sehr feinen Instinkt: Weit davon ist gut vorm Schuss! Namentlich der österreichische Kaiser blieb zunächst ganz ungerührt von den flehentlichen Bitten des französischen Königspaares, obgleich die Königin seine leibliche Schwester war.

Eher hatten zwar nicht die preußischen Minister, so unfähig sie im Übrigen waren, aber der preußische König eine gewisse Neigung, sich auf das Abenteuer einzulassen. Es war der „dicke Wilhelm", ein Dummkopf ersten Ranges, dazu ein leichtfertiger Verschwender und Wollüstling, der die „Heiligkeit" der Ehe ehrte, indem er sich neben seiner rechtmäßigen Gattin noch zweimal eine Nebenfrau von seinen Berliner Hofpredigern antrauen ließ, was die teuren Gottesmänner aus dem Handgelenk besorgten. Dieser traurige Patron war so „ritterlich" gesinnt, sich für die Hilfe des französischen Königspaares und einen antirevolutionären Kreuzzug für Thron und Altar zu begeistern. Indessen trotz seiner absoluten Herrschergewalt hatte er keineswegs die Macht, so mir nichts dir nichts einen Krieg mit der Revolution vom Zaune zu brechen.

Jedoch gelang es den geschickten Umtrieben der Zarin Katharina, die beiden Tölpel in Berlin und Wien bis zu einem gewissen Grade aufs Glatteis zu locken. Diese hergelaufene Person, die aus einem der kleinsten deutschen Fürstenhäuser stammte, war mit dem russischen Thronfolger vermählt worden, hatte aber ihren Mann nach dessen Thronbesteigung ermorden lassen und sich selbst auf den russischen Thron gesetzt, auf den sie nicht das geringste Anrecht besaß. Sie suchte nun ihre usurpierte Herrschaft durch Eroberungskriege in Polen und der Türkei zu befestigen, und um hier freie Hand zu haben, hatte sie das höchste Interesse daran, Österreich und Preußen in einen Krieg mit Frankreich zu verwickeln. Deshalb spielte sie sich als fanatische Gegnerin der Französischen Revolution auf und mahnte in Berlin und Wien unablässig an die gemeinsame Pflicht aller Souveräne, an die Unterstützung des französischen Königs. Schließlich hatte sie auch so weit Erfolg, dass der damals noch deutsche Kaiser und der König von Preußen bei einer Zusammenkunft in Pillnitz1 eine Erklärung vereinbarten, worin sie die Sache des französischen Königs für die gemeinsame Sache aller Souveräne erklärten, immerhin aber hinzufügten, zu einer Einmischung in Frankreichs Händel nur dann schreiten zu wollen, falls alle europäischen Mächte zustimmten.

Das war auch noch nicht so sehr heroisch, da alle Welt wusste, dass England für die Riesendummheit nicht zu haben sein würde. Aber die Französische Revolution hatte den legitimen Trödel satt und nicht Lust zu warten, bis der Landesverrat Ludwigs XVI. und seiner Junker gemeinsam mit den Narreteien in Berlin und Wien eine wirkliche Gefahr für sie schüfen. Sie verlangte eine Zurücknahme der Pillnitzer Erklärung, und da ihre Urheber sich dagegen sträubten, erklärte sie ihnen selbst den Krieg,

Nun wallte der „ritterliche" Sinn des „dicken Wilhelm" mächtig auf, und sein Generalissimus, der Herzog von Braunschweig, jener unfähige Kamaschenknopf, der zu den berüchtigtsten Menschenverkäufern unter den deutschen Duodezdespoten gehörte, erließ das famose Manifest2, worin das revolutionäre Frankreich mit Tod und Verwüstung bedroht wurde. Natürlich gab es gar kein besseres Mittel, ganz Frankreich auf die Beine zu bringen. Die letzten Reste des französischen Königtums wurden spurlos weggefegt, die Landesverräter Ludwig XVI. und Marie-Antoinette erst ins Gefängnis und dann aufs Blutgerüst gewirbelt, und die Freiwilligen strömten zur Grenze, um die fremden Söldlinge zurückzuschlagen.

Militärisch war die Partie sehr ungleich, und es ist ganz richtig, wenn sich loyale Historiker zu ergötzen pflegen, dass nämlich diese Freiwilligen bunt zusammengewürfelte Haufen waren und keineswegs jene heldenhaften Kämpfer, die später die revolutionäre Legende aus ihnen gemacht hat. Um so schmählicher aber für die wohlgedrillten österreichischen und preußischen Truppen, die auf der höchsten Stufe der damaligen Kriegskunst standen, mit diesen Haufen gleichwohl nicht fertig wurden. Es ist eben eine eigene Sache um ein großes Volk, das alle seine Lebensinteressen gegen eine fremde Invasion verteidigt; es kann in einzelnen Gefechten und Schlachten besiegt werden, aber es ist dennoch unüberwindlich, weil es immer neue Kräfte aus sich gebiert. Nach drei Jahren einer kläglichen Kriegführung war nicht Frankreich, sondern Preußen bankrott und wusste keine andere Rettung, als dass es nichts weniger als „ritterlich" seinen österreichischen Bundesgenossen verriet und im Jahre 1795 den Separatfrieden von Basel3 schloss, worin es obendrein das Deutsche Reich verriet. Preußen erklärte sich zur Abtretung des linken Rheinufers an das revolutionäre Frankreich bereit und sicherte sich nur für diesen Fall eine Entschädigung auf rechtsrheinischem Gebiete durch Beraubung seiner deutschen Mitfürsten.

In der Tat – ein „ritterliches" Ergebnis einer „ritterlichen" Politik. Es würde zu weit führen, den Weg im Einzelnen zu verfolgen, den die preußische Monarchie von Basel bis Jena nunmehr wandeln musste; genug, dass selbst die preußischen Historiker einstimmig darin sind, der Friede von Basel habe die Niederlage von Jena im Schoße getragen. Diese Spuren schrecken sogar die Ära Bülow. Gerade die Vorgänge von 1792 zeigen, wenn man sie in ihren genauen urkundlichen Zusammenhängen studiert, wie die damaligen preußischen Minister, heute längst vergessene Strohköpfe, sich das ganz klarzumachen wussten. Der Selbsterhaltungstrieb führt eine sehr beredte Sprache. Das bewaffnete Einschreiten gegen die Französische Revolution hat die friderizianische Monarchie Kopf und Kragen gekostet; das bewaffnete Einschreiten gegen die russische Revolution würde auch der neureichsdeutschen Herrlichkeit verteufelt schlecht bekommen.

Man mag sagen: um so besser, und wir wären sicherlich die letzten, dem Bankrott der heutigen Reichspolitik eine Träne nachzuweinen. Aber es tut niemals gut, sich über das Maß von Kraft zu täuschen, das der Gegner noch anzuwenden hat, und wir billigen der Ära Bülow am Ende auch nur ein geringes Maß von Verstand zu, wenn wir annehmen, dass sie sich durch die Spuren von 1792 mehr schrecken als zu einem verzweifelten Spiel antreiben lässt, bei dem es sich um Kopf und Kragen handelt.

1 Gemeint ist die Zusammenkunft des Kaisers Leopold II. mit Friedrich Wilhelm II. von Preußen am 27. August 1791 auf Schloss Pillnitz. In Anwesenheit der geflohenen Brüder Ludwigs XVI. wurde hier die „Pillnitzer Deklaration" beschlossen, die dem revolutionären Frankreich mit der militärischen Intervention zugunsten des französischen Königs drohte.

2 Als Oberbefehlshaber der Interventionstruppen hat der Herzog von Braunschweig am 25. Juli 1792 ein Manifest erlassen, das im Namen des Kaisers von Österreich und des Königs von Preußen verkündete, dass die „vereinten Armeen beabsichtigen, der Anarchie in Frankreich ein Ende zu bereiten, … die rechtmäßige Macht des Königs wiederherzustellen" und die Rebellen zu bestrafen; dass, wenn dem König und seiner Familie auch nur das geringste Leid geschähe, die Stadt Paris einer „militärischen Strafexpedition" unterworfen und „dem Erdboden gleichgemacht werden würde".

3 Im Frieden von Basel am 5. April 1795 zwischen der Französischen Republik und Preußen schied Preußen aus dem Koalitionskrieg gegen die Französische Republik aus. Es wollte seine Kräfte frei haben für die beabsichtigten Annexionen bei der 3. Teilung Polens. Preußen trat seine linksrheinischen Gebiete an Frankreich unter der Bedingung ab, sich später an den rechtsrheinischen geistlichen Territorien schadlos halten zu können. Ein Zusatzabkommen erklärte Deutschland nördlich der Mainlinie und den fränkischen Reichskreis für neutral.

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