Franz Mehring 18921026 Die Vernunft der Unvernunft

Franz Mehring: Die Vernunft der Unvernunft

26. Oktober 1892

[Die Neue Zeit, 11. Jg. 1892/93, Erster Band, S. 161-164. Nach Gesammelte Schriften, Band 8, S. 12-15]

Ein großes Bourgeoisblatt, dessen geschäftliches Interesse in üblicher Weise seine loyalen und patriotischen Pflichten über den Haufen gerannt hat, ist durch die Veröffentlichung der neuen Militärvorlage1 dem offiziösen Lug- und Trugspiel arg in die Parade gefahren. Ein panischer Schrecken geht durch das ganze Volk, und die Presse aller Parteien ruft ziemlich einmütig: Das ist unmöglich; wir können diese ungeheuren Lasten nicht auf die Schultern nehmen; der Militarismus muss umkehren. An der Wahrhaftigkeit dieses Protestes ist kaum ein Zweifel erlaubt; der Wanderer, dem ein greller Blitz in dunkler Nacht den fürchterlichen Abgrund zeigt, an dessen schmalem Rande sein Fuß sich tastend vorwärts schieben muss, heuchelt nicht, wenn sich ein jäher Schrei des Entsetzens von seinen Lippen ringt. Eine ganz andere Frage ist, ob dieser allgemeine Protest eine Bürgschaft dauernden oder gar siegreichen Widerstandes in sich schließt, und wer nicht fatalen Überraschungen ausgesetzt sein will, muss sie rechtzeitig prüfen.

Soviel steht fest, dass nur die Sozialdemokratische Partei auf dem grundsätzlichen Standpunkte steht: keinen Mann und keinen Groschen! Alle anderen Parteien, soweit sie in ihren einzelnen Forderungen auseinandergehen mögen, sind zum Feilschen und Schachern entschlossen. Damit hat aber der Militarismus von vornherein gewonnenes Spiel. Bei einem so großen Geschäfte wird es ihm auf kleine Geschenke nicht ankommen, und mit seiner ganzen Konsequenz ist er all seinen halben Gegnern überlegen. Selbst aber wenn vom gegenwärtigen Reichstage die Militärvorlage abgelehnt werden sollte, so würde diese parlamentarische Körperschaft sofort aufgelöst werden, und der Militarismus würde die Frage stellen, wie sie schließlich ja auch liegt: ich oder die Sozialdemokratie? Was aber darauf kommen müsste, das brauchen wir niemandem zu sagen, der die bürgerlichen Klassen des Deutschen Reichs seit ein paar Jahrzehnten oder auch nur seit ein paar Jahren auf ihr Können und Wollen studiert hat.

Es ist schon ein verdächtiges Zeichen, dass die bürgerliche Presse ihre Geschosse gar so zornig gegen den Grafen Caprivi richtet. Wer den bitteren Ernst der Sache versteht, wird die Personen gerne aus dem Spiele lassen. Bismarck oder Caprivi oder Waldersee oder Major Hintze – das ist alles eins. Von allen Personen gilt, was vor hundert Jahren der damals berühmteste preußische Feldherr von sich zu sagen pflegte: c'est plus fort que moi, das ist stärker als ich! Der Militarismus greift um sich gemäß der Dialektik seiner historischen Entwicklung, und kein großer oder kleiner Mann kann ihm gebieten: bis hierher und nicht weiter! Er wird sich selbst forttreiben bis auf die höchste Spitze der Unvernunft, um dann von selbst in die Vernunft umzuschlagen. Er ist längst in die Entwicklung getreten, wo jeder neue Erfolg nur ein weiterer Schritt zu seinem Untergang ist. Aber er kann nicht anders mehr leben als so, und da rennt er mit sehenden Augen in sein Verderben.

Mit sehenden Augen oder vielleicht auch mit geschlossenen; auf diesen Unterschied käme nicht eben viel an. Es ist möglich, dass den Vätern der Militärvorlage selbst angst und bange wird beim Anblick ihres Kindleins; es ist auch möglich, dass sie sich daran erfreuen als an einer wohlgelungenen Geburt. Aber sei dem so oder so: voran müssen sie in ihr Verderben. Das entschuldigt die Personen, vorausgesetzt, dass uns das „sachverständige" Urteil dieser Personen nicht als maßgebende Instanz für die ungeheuerlichste Belastung des Volkes aufgeredet werden soll. Allen Respekt vor dem Generalstab und dem Kriegsministerium, aber nirgends ist die menschliche Fehlbarkeit größer als in einer abgeschlossenen Offizierskaste, die sich im Kreise ihrer einseitig-technischen Vorstellungen bewegt.

Gerade die Geschichte des preußischen Heerwesens ist überaus reich an Beweisen für diese Tatsache. So waren in den späteren Zeiten Friedrichs II. die genialsten Offiziere des preußischen Stabes der Kapitän v. Steuben und der Major v. Berenhorst. Beide wurden in Ungnaden entlassen, denn wie alle großen Männer konnte Friedrich fähige Leute in seiner Umgebung nicht ertragen. Steuben ging nach Amerika, wo er sich bekanntlich große Verdienste um die militärische Organisation der Rebellen erwarb. Hier sagte er schon 1793 einem deutschen Besucher, dem Militärschriftsteller Dietrich v. Bülow, die französischen Freiwilligen, über deren Untüchtigkeit ihre eigenen Generale, so namhafte Berufssoldaten wie Carnot, Dumouriez, Hoche, Gouvion St. Cyr, nicht genug klagen konnten, führten denselben Krieg, den die amerikanischen Farmer geführt hätten, und sie würden ebenso unüberwindlich sein. Berenhorst trat nicht wieder in militärische Dienste, aber er schrieb seine berühmten Betrachtungen über die Kriegskunst, worin er das preußische Heer einer scharfen Kritik unterwarf, die „äußerste Grobheit, Härte und Dienstsklaverei der Disziplin", „die Mikrologie und den Minutismus der Paradekünste" usw. mit einer vielfach noch heute zutreffenden Bitterkeit geißelte. Und dieser scharfsichtige und für seine Verhältnisse äußerst vorurteilsfreie Offizier verstand doch so wenig, worauf es ankam, dass er noch zwei Jahre nach der Schlacht bei Jena schreiben konnte, der „Genius der Taktik" müsse ein „höheres Hilfsmittel" erfinden, um die napoleonische Kriegführung unschädlich zu machen. Wer von beiden sah nun schärfer: Steuben, den sein Schicksal in eine Miliz von Bauern warf, oder Berenhorst, der im Rocke des Berufsoffiziers zu den höchsten Autoritäten der damaligen Kriegswissenschaften gehörte?

An ähnlichen Beispielen ist die preußische Kriegsgeschichte überaus reich, doch können wir hier nicht näher darauf eingehen. Der entscheidende Gesichtspunkt ist immer, dass die „technischen Sachverständigen" ihr Handwerk vortrefflich, aber weiter auch nichts verstehen. „Die sogenannten Autoritäten haben sich immer blamiert", wie der alte Ziegler einmal in einer Militärdebatte des Reichstags sagte. Es ist erklärlich, dass die wütende Konkurrenz zwischen den Militärstaaten den unheimlichen Gedanken der neuen Militärvorlage geboren hat. Es ist ebenso erklärlich, dass die Angst vor den unter den unerschwinglichsten Lasten mehr und mehr erliegenden Massen um so hartnäckiger an dem strammen Drill des stehenden Heeres festhalten lässt. Aber es ist unerklärlich, wie „technische Sachverständige" sich darüber täuschen können, dass der wachsende Widerspruch zwischen dem Wesen einer immer allgemeineren Volksbewaffnung und der Form einer aus den Söldnerheeren überkommenen Disziplin und Dressur auf die Dauer den Militarismus so rettungslos in die Luft sprengen muss, wie auf ökonomischem Gebiete der wachsende Widerspruch zwischen den Produktivkräften und den Formen zu einer sozialen Umwälzung führen wird.

Je allgemeiner die Volksbewaffnung, umso mehr verfügt der Soldat über das Heer und nicht der Offizier. Das weiß der preußische Generalstab auch recht gut, soweit es sich nämlich um die Vergangenheit handelt. Einer seiner begabtesten Angehörigen, der Major Jahns, schreibt über die Entstehung der modernen Taktik in den französischen Revolutionskriegen des vorigen Jahrhunderts: „Es ist ganz zutreffend, dass das Tiraillieren bei den damaligen Franzosen in keiner Weise durch das Reglement vorgeschrieben war, denn dies war in allen wesentlichen Zügen dasselbe wie das preußische. Das zerstreute Gefecht der Franzosen war nicht verordnet, sondern geworden; man hatte aus der Not eine Tugend gemacht, und diese wurde, weil sie den realen Verhältnissen entsprach, eine Macht." Wenn aber Engels, beiläufig zehn Jahre vor Jahns, in ganz ähnlicher Weise darlegte, wie bei St. Privat unter dem furchtbaren Feuer der Chassepots die reglementsmäßige Kompaniekolonne auf deutscher Seite sich in einen dichten Schützenschwarm auflöste, und dann hinzusetzte: „Der Soldat war wieder einmal klüger gewesen als der Offizier; die einzige Gefechtsform, die bis jetzt im Feuer des gezognen Hinterladers sich bewährt, hatte er instinktmäßig gefunden und setzte sie trotz des Sträubens der Führer erfolgreich durch",2 so war das natürlich „sozialdemokratische Afterwissenschaft", die denn auch der echt wissenschaftlichen Zensur des Sozialistengesetzes3 verfiel. Es ist das Vorrecht der „technischen Sachverständigen", immer so einhundert Jährchen hinter der geschichtlichen Entwicklung einher zu traben.

Doch wenn nur nicht auf das ehrliche Gesicht dieser Herren hin das deutsche Volk wieder mit den ungeheuerlichsten Lasten überbürdet werden soll, so darf man ihnen wohlwollende Teilnahme schenken. Sie müssen nun einmal tanzen, wie ihnen die Dialektik des Militarismus aufspielt; da hilft kein Sperren und Sträuben. Und so hülfe auch wohl dem Volke kein Sperren und Sträuben gegen die neue Militärvorlage? Allerdings nicht, solange die politisch organisierte Arbeiterklasse erst die relative, aber noch nicht die absolute Mehrheit der Wähler hinter sich hat und falls sie nicht soviel Unterstützung von den bürgerlichen Klassen erhält, um den Stier des Militarismus bei den Hörnern packen und rücksichtslos niederwerfen zu können. Bei diesen Wenn und Aber muss man vorläufig stehenbleiben, zwar das Beste hoffen, aber auch das Schlechteste nicht fürchten.

Eine solche Resignation erscheint vielleicht etwas nüchtern gegenüber der allgemeinen Entrüstung, in der die neue Militärvorlage augenblicklich ertrunken zu sein scheint. Allein sie ist keineswegs einer Politik der Bosheit entflossen, die immer vom Übel ist. Kann die Vorlage mit Hilfe der bürgerlichen Klassen gestürzt werden, umso besser; vernünftige Menschen werden die Unvernunft deshalb nicht minder scharf bekämpfen, weil die Unvernunft durch ihren vorläufigen Sieg nur umso sicherer zum endgültigen Falle kommen muss. Aber in dem Fall einer doch möglichen parlamentarischen Niederlage möchten wir uns nicht mit der fliehenden Bourgeoisie und dem sterbenden Talbot an dem Stoßseufzer genügen lassen: Unsinn, du siegst; wir können den Kampf gegen die neuesten und beispiellos verwegenen Anmaßungen des Militarismus nur um so entschlossener führen, wenn wir wissen, dass uns als letzte und am Ende auch gründlichste Retterin in der Not immer noch bleibt die Vernunft der Unvernunft.

1 Mehring wendet sich hier gegen die Heeresvermehrung, die der Reichskanzler im November 1892 im Reichstag verlangte. Graf Caprivi forderte eine Verstärkung um 84.000 Mannschaften und Unteroffiziere, das war mit einem Male so viel, wie die Armee von 1871-1890 insgesamt vermehrt worden war. Darüber hinaus sollte die dreijährige Dienstzeit auf zwei Jahre herabgesetzt werden (außer bei der Kavallerie und der reitenden Artillerie).

3 Gemeint ist das „Gesetz wider die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie" vom 21. Oktober 1878, das die Polizei ermächtigte, sozialdemokratische Vereine überall aufzulösen, Sozialdemokraten auszuweisen, alle sozialdemokratischen Zeitungen und Schriften zu verbieten und den sogenannten kleinen Belagerungszustand zu verhängen. Trotz terroristischer Anwendung des Gesetzes erstarkte die illegale Sozialdemokratische Partei ständig. Ursprünglich auf drei Jahre befristet, wurde das Gesetz immer wieder verlängert. Es fiel am 1. Oktober 1890. Der Fall des Sozialistengesetzes war einer der Hauptgründe für den Sturz Bismarcks.

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