Franz Mehring 19051026 Ein Wort über Moltke

Franz Mehring: Ein Wort über Moltke

26. Oktober 1905

[Die Neue Zeit, 24. Jg. 1905/06, Erster Band, S. 137-141. Nach Gesammelte Schriften, Band 8, S. 86-90]

Seit einer Reihe von Jahren ist die deutsche Reichshauptstadt eine Stadt der Denkmäler geworden und noch genauer der geschmacklosen Denkmäler. Die Geschmacklosigkeit erstreckt sich nicht nur auf die technische Ausführung der Denkmäler, sondern auch auf die Wahl der Personen, die in solcher Weise gefeiert werden sollen. Es fehlen manche darunter, die nach ihren Verdiensten um die Kulturentwicklung der Nation vertreten sein müssten, soweit überhaupt die Ehrung verdienter Männer durch Erz und Stein berechtigt sein mag, und es sind namentlich außerordentlich viele da, deren Namen am besten in der tiefsten Nacht der Vergessenheit geborgen wären, um ihrer selbst und um der Menschheit willen, der sie nur Schaden gebracht und Schande gemacht haben.

Doch ist dieser Sport des offiziellen Berlins unter den heutigen Verhältnissen zu gleichgültig und nebensächlich, als dass es an seiner gelegentlichen Kritik durch die Tagespresse nicht genug wäre. Wir haben im Allgemeinen dringendere und wichtigere Dinge zu tun, als uns an einem Gerümpel zu ärgern, dessen politische oder selbst nur ästhetisch verbildende Wirkung auf die Arbeiterklasse ja gleich Null ist. Auch heute berühren wir diese Missbildung nur flüchtig, weil sie sich gewissermaßen von selbst aufdrängt bei der Enthüllung der Bildsäule, die Moltke auf dem Königsplatz erhalten hat. Sie ist von hergebrachter Geschmacklosigkeit und hat eine recht unerbauliche Vorgeschichte, namentlich durch die Art, wie die Beiträge zusammengetrieben wurden; dann ist es aber auch charakteristisch, dass Moltke erst an die Reihe gekommen ist, nachdem Krethi und Plethi schon ihr Teil erhalten hatten, nicht nur der unglaubliche Friedrich Wilhelm III., der sogar schon drei Denkmäler in Berlin besitzt, sondern auch der faule Otto und der dicke Wilhelm und sogar ein französischer Admiral aus dem sechzehnten Jahrhundert, dessen Verdienste um Deutschland darin bestehen, dass er zu den Ahnen Wilhelms II. gehört1.

Es ist nicht anders: Der siegreichste Feldherr des preußisch-deutschen Militärstaats ist in den offiziellen Kreisen dieses Staates nicht eben beliebt. Er teilt dies Schicksal mit Gneisenau und Scharnhorst, den beiden nächst und neben ihm namhaftesten Generalen der preußischen Geschichte. Alle drei waren aus der Fremde hergelaufen, blutarmes Volk, von bürgerlichen Müttern geboren, Scharnhorst obendrein auch von einem bäuerlichen Vater erzeugt, aber ein geistig regsamer Schlag, wohl geeignet, um mit dem Alten Fritz zu sprechen, die „faule Art" des ostelbischen Junkertums zu „korrigieren". Einer derartigen Auffrischung haben die eingeborenen Itzenplitze und Zitzewitze von jeher bedurft, auch Bismarck stammte von mütterlicher Seite aus einer bürgerlichen Gelehrtenfamilie, aber solche Eindringlinge werden von den echten Krippenreitern aus der Altmark und Hinterpommern immer scheel angesehen. Wie oft hat sich Bismarck über die unbezwingbare Neidhammelei seiner edlen Geschlechtsgenossen bitterlich beklagt, in einem Tone, dem man den Akzent der Wahrheit unmöglich abstreiten konnte! Und dabei hatte er in militärischen Dingen wenigstens „nix to seggen"; von dieser ihrer eigensten Domäne schlossen ihn die altpreußischen Zaunjunker hermetisch ab. Aber dass sie gerade auf dieser Domäne den Scharnhorst, Gneisenau und Moltke die Ehrenplätze einräumen müssen, das ist ihnen besonders bitter.

In einer Beziehung steht ihnen Moltke freilich näher als der Bauernsohn Scharnhorst oder Gneisenau, mit dessen väterlichem Adel es auch nur soso stand. Moltkes obotritischer Adel ist unanfechtbar, und er hat sich auch niemals „liberaler Neigungen" verdächtig gemacht wie Gneisenau und Scharnhorst. Da er sowenig wie diese Ar und Halm besaß, so war er frei von der feudalen Klassenselbstsucht, aber soweit er politische Neigungen hatte, gehörten sie der äußersten Rechten an. Man entsinne sich nur seiner Reden zum Sozialistengesetz, die den ungeteilten Beifall der Bismarck und Puttkamer verdienten und fanden. Allerdings hatte der dreißigjährige Leutnant in einem Buch über Polen den Widersinn polizeilicher Unterdrückungspolitik mit den Worten gegeißelt: „Weil sie selbst das Unschuldigste nicht öffentlich tun durften, so taten sie das Schuldigste im geheimen." Allein der achtzigjährige Feldmarschall tat pater peccavi wegen dieser Jugendeselei; als nach dem Erlass des Sozialistengesetzes sein Buch in einer neuen Auflage herausgegeben wurde, strich er die kompromittierenden Sätze.

Der Leutnant Moltke, der aus dänischen in preußische Dienste übertrat und gar keine sogenannten Konnexionen hatte, hat seinen Weg über höfische Adjutanturen gemacht, zunächst bei einem halb irrsinnigen Hohenzollernprinzen, der in Rom lebte, also in einer Stellung, in der sich Kriegshelden nicht zu entwickeln pflegen. Später, in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, als der Prinz von Preußen, der spätere Kaiser Wilhelm, gegen seinen Bruder, den König Friedrich Wilhelm IV., den „liberalen" Frondeur spielte, wurde Moltke von der reaktionären Kamarilla Gerlach-Manteuffel gerade wegen seiner hochkonservativen Gesinnung dem Prinzen Friedrich Wilhelm, dem späteren Kaiser Friedrich, gegen den Willen von dessen Vater als erster Adjutant aufgedrängt, um den jungen Mann in Potsdamscher Art zu „strammen". Diesen sauberen Auftrag scheint Moltke immerhin nicht zur Zufriedenheit seiner Auftraggeber erfüllt zu haben, aber sie entzogen ihm deshalb ihre Gunst nicht, und es war wieder die reaktionäre Kamarilla Gerlach-Manteuffel, die ihn auf den damals allerdings ziemlich einflusslosen Posten des Generalstabschefs schob. Das geschah im Herbste 1857, als eben die Regentschaft des Prinzen von Preußen proklamiert worden war, jedoch nur erst in der Form, dass der Prinz nach den ihm bekannten Intentionen seines geisteskranken Bruders, das heißt nach dem Willen der Kamarilla, zu regieren habe.

Neben der alleroffiziellsten Lesart, wonach Wilhelm der Große ein alles überwältigendes Genie gewesen sein soll, dem die Bismarck und Moltke nur als Handlanger gedient hätten, während die Alexander und Cäsar als biedere Mittelmäßigkeiten neben ihm erblassen, gibt es noch die halboffizielle Lesart, dass besagter Wilhelm kein so übermäßiges lumen mundi gewesen sei, aber die echteste Fähigkeit eines Königs von Gottes Gnaden besessen habe, nämlich die wirklichen Genies zu entdecken und die Bismarck und Moltke auf den richtigen Platz zu stellen. Daran ist aber auch kein wahres Wort. Zu Bismarck hat Wilhelm erst in einer Notlage gegriffen, in der nach dem bekannten Sprichwort selbst der Teufel Fliegen zu fressen pflegt, und er ist auch ganz unschuldig daran, dass Moltke zum Chef des Generalstabs ernannt wurde. Wilhelm hat zugelassen, was er nicht hindern konnte, und nur insofern mag sein Herz bei der Sache gewesen sein, als der ihm verhasste Moltke dadurch aufhörte, der Adjutant seines Sohnes zu sein. Der eingefleischten Mittelmäßigkeit Wilhelms widerstanden die Bismarck und Moltke schon deshalb in der Seele, weil sie über diese Mittelmäßigkeit emporragten; die militärischen Lieblinge dieses Kommisshelden waren jener Feldmarschall v. Wrangel, der den schleswig-holsteinischen Feldzug verhudelte, oder der General v. Flies, der sich bei Langensalza selbst von dem blinden König von Hannover aufs Haupt schlagen ließ, oder der General v. Bonin, der das Treffen bei Trautenau in viel feigerer und schmählicherer Weise verlor, als je ein dänischer oder ein österreichischer oder ein französischer General in den damaligen Kriegen ein Treffen verloren hat.

Als Moltke zum Chef des Generalstabs ernannt wurde, stand er an der Schwelle des Greisenalters, hatte nie in seinem Leben weder einen großen noch einen kleinen Truppenteil kommandiert, sondern höfische Dienste getan und wissenschaftliche Arbeit geleistet; nun galt er als der gelehrte Chef eines gelehrten Büros, aber niemand sah in ihm den Führer der deutschen Heere, nicht einmal im Frieden, geschweige denn im Kriege. Diese Stellung hat Moltke sich allein geschaffen mit einer Konsequenz und einer Kraft, die namentlich in seinem Lebensalter schon etwas besagen wollten. An dem harten Holze von Wilhelms Beschränktheit hat er ebenso zu bohren gehabt wie Bismarck, aber er war ein feinerer Bohrer, der weniger Späne machte. Schon zur Zeit des italienischen Feldzugs von 1859 entwarf er sein Programm deutlich genug, indem er den Satz verfocht, dass dem Kommandierenden im Felde durchaus nur eine Meinung von einer Person vorgetragen werden dürfe. „Möge auch das Angeratene nicht jedes Mal das unbedingt Beste sein – sofern nur folgerecht und beständig in derselben Richtung gehandelt wird, kann die Sache immer noch einer gedeihlichen Entwicklung zugeführt werden. Man umgebe aber den Feldherrn mit einer Anzahl voneinander unabhängigen Männern – je mehr, je vornehmer, je gescheiter, um so schlimmer –, er höre bald den Rat des einen, bald des anderen; er führe eine an sich zweckmäßige Maßregel bis zu einem gewissen Punkte, eine noch zweckmäßigere in einer anderen Richtung aus, erkenne dann die durchaus berechtigten Einwürfe eines dritten an und die Abhilfevorschläge eines vierten, so ist hundert gegen eins zu wetten, dass er mit vielleicht lauter wohlmotivierten Maßregeln seinen Feldzug verlieren würde." Die herbe Satire auf die allerdings mehr vornehmen und zahlreichen als gescheiten Generaladjutanten Wilhelms war schwer zu verkennen.

Es ist klar, dass ein Mann, der sich solche Ziele steckte und solche Ziele auch zu erreichen wusste, nicht der „Musterknabe im Großen" gewesen sein kann, den die bürgerliche Geschichtsschreibung, worüber selbst einer von der Zunft spottet, in Moltke zu erblicken pflegt. Er muss Ehrgeiz, Leidenschaft und namentlich zähe Energie in hohem Maße besessen haben. Denn leicht ist es ihm bei alledem nicht geworden. Den schleswig-holsteinischen Feldzug, den er auf einen schnellen und vernichtenden Schlag angelegt hatte, hat ihm der unfähige Wrangel noch ganz verdorben, und er selbst kam gerade nur noch zurecht, um die Karre wieder aus dem Sumpfe zu schieben. Durchgesetzt hat er sich erst im Jahre 1866, als der alte Wilhelm in eigener Person den böhmischen Feldzug schon in der Anlage durch jene famose Politik halb ruiniert hatte, die der wütende Bismarck mit dem Worte kennzeichnete, kaum habe man den alten Schimmel mühsam an den Graben gespornt, so scheue er mit einem mächtigen Satze zurück. Moltke rettete im letzten Augenblick noch die Situation durch den kühnen Entschluss, die verlorene Zeit dadurch wieder einzubringen, dass er die preußischen Truppen nicht erst irgendwo rückwärts im Lande versammelte, sondern sie konzentrisch, zuletzt in zwei großen Gruppen aus der Lausitz und aus Schlesien nach Böhmen führte. Es geschah unter dem Zittern Wilhelms und dem Gezeter seiner sämtlichen Generaladjutanten, deren einer an einem Tage nicht weniger als drei ängstliche Briefe an Moltke richtete. Aber Moltkes Strategie bewährte sich glänzend, obgleich sie im Einzelnen auf manche unerwartete Hemmnisse stieß, und seitdem hatte er gewonnenes Spiel.

Sowenig wie ein „Musterknabe im Großen", sowenig war Moltke ein „Schlachtendenker" in dem herkömmlichen Sinne des so oft auf ihn angewandten Wortes. „Schlachtendenken" in diesem Sinne kann jeder Regimentsschreiber, der ein Blatt Papier, einen Bleistift und ein Lineal besitzt. Es gibt nichts Einfacheres, als die gelungensten strategischen und taktischen Operationen zu entwerfen. Will man dem unglücklichen Wort überhaupt einen historisch vernünftigen Sinn geben, so war Moltke ein „Schlachtendenker" insoweit, als er die Clausewitzsche Theorie des Krieges völlig bis auf den kleinsten Rest praktisch zu machen und namentlich auch das unberechenbare Element, das nach Clausewitz allem Kriegführen anhaftet, mit voller Überlegung in seine Rechnung zu stellen wusste. So durfte er sich den treffenden Wahlspruch wählen: Erst wägen, dann wagen! Unter diesem Gesichtspunkt, wie sich nämlich eine vollendete Theorie in eine vollendete Praxis umwandeln lässt, ist das Studium von Moltkes Leben und Schriften auch von unserem Standpunkt aus sehr zu empfehlen.

Aber es begreift sich nach alledem auch, weshalb der Mann dem offiziellen Deutschland von heute nicht übermäßig sympathisch ist.

1 Gemeint ist Gaspard de Coligny (1519-1572), Hugenottenführer, seit 1552 Admiral von Frankreich.

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