Franz Mehring 19071225 Eine Geschichtslegende

Franz Mehring: Eine Geschichtslegende

25. Dezember 1907

[Die Neue Zeit, 26. Jg. 1907/08, Erster Band, S. 425-428. Nach Gesammelte Schriften, Band 8, S. 124-128]

Im vorigen Hefte der „Neuen Zeit" behandelt W. van Ravesteijn jun., in Anknüpfung an das Werk von Jaurès über den Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71, die Frage des Angriffs- oder Verteidigungskriegs. Es scheint danach, dass die ideologische Geschichtsauffassung1, der Jaurès huldigt, ihn auch in diesem Buche nicht gut beraten hat; manches von dem, was Ravesteijn daraus mitteilt, mutet eigen an. Doch liegt es uns natürlich fern, aus einer noch so sorgfältigen Kritik über ein Werk abzuurteilen, das wir nicht gelesen haben, und wir beschränken uns darauf, einige Bemerkungen an einen Satz rein tatsächlichen Inhalts zu knüpfen, den Ravesteijn zitiert, ohne ihn selbst zu kommentieren.

Danach hat den Ausschlag bei dem Beschluss der französischen Regierung, vom König von Preußen, auch nach der Zurückziehung der hohenzollernschen Kandidatur für den spanischen Thron, ein pater peccavi zu verlangen, „äußerst wahrscheinlich" die Kaiserin Eugénie gegeben, die „spanische Abenteuerin", ein „bigottes und beschränktes Frauenzimmer", das ja gemeint habe, gegenüber der wachsenden Macht der bürgerlich-republikanischen und proletarischen Opposition sei ein Krieg notwendig, um das Ansehen des Kaiserreichs wiederherzustellen und die Dynastie fester zu begründen.

Was uns an diesem Satze zunächst interessiert, ist die zähe Lebenskraft von Geschichtslegenden, nicht nur solcher, sozusagen echter Legenden, die sich unbewusst aus der dichtenden Phantasie der Volksmassen entspinnen, um irgendwelche abstrakte, nüchterne, weitläufige, verwickelte Vorgänge in einer Person oder einer Szene von volkstümlicher Schlagkraft zusammenzufassen, sondern auch solcher Legenden, die von vornherein nichts weiter sind als plumpe Geschichtslügen, von den jeweiligen Machthabern erfunden, um die Völker zu täuschen. Die „spanische Abenteuerin" ist von jeher das Opferlamm gewesen, das die wahrhaft Schuldigen des Deutsch-Französischen Krieges, die Dezemberbande drüben und das preußische Junkertum hüben, in wahrhaft rührender Gemeinschaft geschlachtet haben, um sich durch sein Blut zu sühnen von der eigenen Blutschuld.

In der richtigen Voraussicht, dass sich der deutsche Philister, dies alte Weib in Hosen, durch nichts so leicht aufhetzen lässt als durch die Denunziation einer wirklichen Frau an den Fond seiner sittlichen Entrüstung, ließ Bismarck schon am 8. Juli 1870, zur Zeit, wo er selbst seine Einfädelung der hohenzollernschen Kandidatur mit eiserner Stirn ableugnete und mehrere Tage vorher, ehe das französische Verlangen des pater peccavi an den König von Preußen gerichtet wurde, durch Bucher und Busch, wie dieser in seinen Tagebuchblättern berichtet, das Leitmotiv für die offiziöse Presse ausgeben: „Eugenie hetzt ihren Mann und die Minister. Als spanischer Parteimann oder Parteifrau würde sie den Intrigen und Gelüsten einer verfaulten Dynastie den Frieden und den Wohlstand Europas opfern." Dies Leitmotiv wurde dann von der offiziösen und bald auch von der ganzen patriotischen Presse in allen möglichen und selbst auch unmöglichen Melodien abgewandelt und dann bereitwillig von der Dezemberbande, als ihre ruchlosen Umtriebe mit einer ruhmlosen Niederlage geendet hatten, in hundert Schichten abgespielt.

Da der Spektakel von Bismarck ausging, so darf man es dem bürgerlichen Historiker v. Sybel, dessen vielbändiges Werk über die Gründung des neudeutschen Reiches sonst der historischen Wahrheit oft zu nahe tritt, nur [um] Bismarck zu verherrlichen, immerhin zu Ehren anrechnen, dass er sich gegen diese Machenschaft Bismarcks wenigstens aufgelehnt hat. Er widmet der Frage, ob Eugenie den Krieg mit verschuldet habe, ein eigenes Kapitel und weist in bündigster Weise nach, dass sie keine Schuld trifft, namentlich auch nicht an dem pater peccavi, das von dem preußischen König gefordert wurde. Übrigens hat diese Forderung den Krieg auch noch nicht unvermeidlich gemacht, ja selbst nach der Fälschung der Emser Depesche durch Bismarck ist noch einmal der Frieden in Paris beschlossen worden. Erst durch eine neue Gaunerei, über die bisher nichts Sicheres bekannt geworden ist, hat die Dezemberbande dem todkranken Napoleon die Zustimmung zum Kriege entrissen, und vielleicht – denn bewiesen ist auch das nicht einmal – hat im letzten Augenblick auch Eugenie in den Krieg gewilligt; sicher bezeugt ist nur, dass sie sich gleich darauf in Seufzen und Tränen über sein vermeintliches Ende erging. Dieser Nachweis Sybels, den wir hier nicht in allen Einzelheiten wiederholen können, ist auch von denjenigen bürgerlichen Historikern in Deutschland, die seine Auffassung in anderen Dingen scharf bekämpft haben, als durchaus schlüssig anerkannt worden.

Es liegt uns selbstverständlich fern, eine Lanze für die alte Frau zu brechen, die noch die schwere Last ihrer Jahre schleppt und längst die Gunst wie den Hass der Parteien überlebt hat. Unsertwegen mag sie eine „Abenteuerin", mag sie ein „bigottes Frauenzimmer" gewesen sein, soviel sie will. Aber gerade wenn sie es gewesen ist, so ist es nicht „äußerst wahrscheinlich", sondern äußerst unwahrscheinlich, dass sie zum Kriege gegen Deutschland gehetzt hat. Was konnte denn ihr Zweck sein, wenn sie eine „Abenteuerin" war? Doch nur, wie Jaurès nach Ravesteijns Angabe sehr richtig ausführt: das Ansehen des Kaiserreichs wiederherstellen und die Dynastie fester zu begründen. Nun fand gerade in denselben Tagen, wo die Dezemberbande wegen der hohenzollernschen Thronkandidatur den Kriegslärm begann, eine Konsultation von fünf der berühmtesten Ärzte über den Gesundheitszustand Napoleons statt. Sie stellten bei ihm Blutarmut, Hämorrhoiden, gichtische Schmerzen in den Schenkeln und Füßen und das gefährliche Anwachsen eines großen Blasensteins fest, und sie beantragten eine Operation, auf die Napoleon nicht einging, da er davon seinen Tod befürchtete. So konnte er aber nicht fahren und nicht reiten ohne dauernde Schmerzen, und zu Fuß vermochte er sich nur, gestützt auf zwei Adjutanten, mit schleifenden Schritten fortzubewegen. Und mit diesem täglichen Elend vor Augen soll die „spanische Abenteuerin" einen Krieg auf Leben und Tod hervorgerufen haben, um die Dynastie fester zu begründen, der vielmehr der Sieg in diesem Krieg so verhängnisvoll geworden wäre wie die Niederlage. Denn ein triumphierender Bazaine oder MacMahon wäre der Dezemberherrlichkeit ebenso gefährlich geworden wie ein triumphierender Bismarck.

Aber das „bigotte Frauenzimmer"! Ohne Zweifel hat Eugénie die ultramontane Politik begünstigt; sie war eine gläubige Katholikin, eine gehorsame Tochter des Papstes, dem sie unter allen Umständen die weltliche Macht erhalten wollte. Lieber die Preußen in Paris als die Italiener in Rom! so sollte das Bekenntnis der ultramontanen Hofpartei lauten, die sich um Eugénie scharte. Auch in dieser Beziehung wollen wir ihr Sündenkonto keineswegs entlasten, aber in dem Maße, wie es schwerer belastet ist, wird es unwahrscheinlicher, dass die Kaiserin den Deutsch-Französischen Krieg geschürt hat. Denn „beschränkt", wie sie sein musste, so war sie doch nach allem, was von ihr bekannt ist, immerhin gescheiter als der Herzog von Gramont, und selbst dieser berüchtigte Dummkopf, der so blind auf Bismarcks Spieß rannte, sah ein, dass der Krieg gegen Deutschland gleichbedeutend sei mit der Preisgabe Roms.

Es ist nicht recht verständlich, wenn es in dem Artikel Ravesteijns nach Jaurès heißt, Gramont sei der Mann der klerikalen kriegerischen Clique gewesen, die ebenso für Österreichs Revanche wie für die weltliche Macht des Papstes geschwärmt habe; Gramont habe durch sein bloßes Auftreten sofort die Möglichkeit eines Bündnisses mit Italien und Österreich vereitelt.

Zunächst hat Gramont dies Bündnis nicht vereitelt, sondern gerade unter seinem Ministerium ist es fertig geworden. Am 14. Juni 1870 verhandelte darüber der französische General Lebrun als Vertrauensmann Napoleons mit dem Kaiser Franz Josef in Wien und konnte am 23. Juni an seinen Auftraggeber das Versprechen des österreichischen Kaisers überbringen, an einem Kriege gegen Preußen teilzunehmen unter der Bedingung, dass die Franzosen ihn durch einen raschen Vorstoß nach Deutschland in eine Lage versetzten, worin der Krieg auch nach außen als eine Notwendigkeit für Österreich erschiene.

Wie wenig jedoch die Revanche Österreichs mit der weltlichen Macht des Papstes zusammenhing, geht am kürzesten und schlagendsten aus einem Briefe hervor, den Beust, das Haupt der österreichischen Revanchemänner, am Tage nach der französischen Kriegserklärung an den österreichischen Botschafter in Paris richtete. Erschreckt durch die tölpelhafte Art, womit Gramont den Krieg überstürzt hatte, erklärte Beust zwar, Österreich müsse neutral bleiben, aber nur, um sich für den Krieg zu rüsten; vorläufige Neutralität sei für Österreich das einzige Mittel, seine Rüstungen zu vollenden, ohne sich einem vorzeitigen Angriff Preußens oder Russlands auszusetzen. Aber von Frankreich verlangte Beust, dass es sofort seine Truppen aus Rom zurückzöge; „an demselben Tage, wo die Franzosen den Kirchenstaat verlassen, müssen die Italiener mit Zustimmung Frankreichs und Österreichs einrücken. Niemals werden wir die Italiener von Herzen für uns haben, wenn wir ihnen nicht den römischen Stachel ausziehen." Und so viel begriff auch der Herzog von Gramont in all seiner Stupidität, dass die französische Brigade in Rom die weltliche Macht des Papstes nur insoweit schützte, als sie die Vorhut des französischen Heeres war; führten die Franzosen einen großen Krieg, so mussten sie darauf verzichten, Rom zu schützen. Nach Gramonts Angabe hat das auch die Kurie eingesehen; ein Abkommen mit den Italienern wäre fertig geworden, wenn nicht die Schnelligkeit der deutschen Siege alles vereitelt hätte.

Die Überstürzung, womit die Dezemberbande in den Krieg taumelte, trug die Schuld daran, dass Frankreich das Opfer brachte, ohne doch den Gewinn einzuheimsen. Man versteht diese Vabanquepolitik eines Lumpenproletariats, das mit dem unaufhaltsamen Verfall des zweiten Kaiserreichs das Messer immer näher an seine Kehle rücken und in Bonaparte immer nur sein Werkzeug sah. Aber man versteht diese Politik nicht an der Kaiserin Eugenie. Wenn sie „bigott" genug war, vor allem anderen die weltliche Macht des Papstes zu erhalten, so musste sie sich mit Händen und Füßen gegen jeden großen Krieg sträuben, in den Frankreich verwickelt werden konnte; war sie aber „Abenteuerin" genug, selbst dem Papst ihre persönlichen Interessen zu opfern, so musste sie darauf bedacht sein, auch die Ware für den Preis zu erhalten, nämlich das Bündnis Italiens und Österreichs, das vielmehr durch die Überstürzung des Krieges, dessen Haupturheberin sie gewesen sein soll, einfach weggefegt wurde. Ist bisher nicht der geringste Beweis dafür erbracht worden, dass Eugénie zum Kriege gehetzt habe, so spricht jede denkbare psychologische Erwägung in der entschiedensten Weise gegen diese Möglichkeit.

Um es noch einmal zu wiederholen, so soll Eugénie hier gar nicht „gerettet" werden; auch ist zuzugeben, dass es sich um eine verhältnismäßig nebensächliche Frage handelt, wenn man den Ursprung des Deutsch-Französischen Krieges untersuchen will. Aber eben in ihrer Nebensächlichkeit lässt sich diese Frage ohne weitläufige Auseinandersetzungen klarstellen, und rein als Paradigma ist sie allerdings geeignet, das Problem des Angriffs- oder Verteidigungskriegs hell zu beleuchten. Dies Problem muss schon seine eigenen Schwierigkeiten haben, wenn nach 37 Jahren, nach unzähligen Prüfungen des Tatbestandes ein kriegshetzerischer Trick Bismarcks in dem Werke eines so gescheiten, so unterrichteten und an so verantwortlicher Stelle stehenden Sozialdemokraten, wie Jaurès ist, wenn auch nicht als absolut gewisse, so doch als „äußerst wahrscheinliche" historische Tatsache wiederkehren kann.

Jedoch um überhaupt davon zu reden, so ist das ganze Problem des Angriffs- und Verteidigungskriegs nichts als ein letzter Rest bürgerlicher Auffassung, der unbewusst in unseren Vorstellungen von Krieg und Kriegswesen mitspielt. Es wird sich lohnen, hierauf zurückzukommen.

1 Mehring gebraucht das Wort „ideologisch" im Sinne von „idealistisch".

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