Franz Mehring 19061013 Jena

Franz Mehring: Jena

13. Oktober 1906

[ungezeichnet, Leipziger Volkszeitung Nr. 238, 13. Oktober 1906. Nach Gesammelte Schriften, Band 8, S. 108-110]

Morgen werden es hundert Jahre, dass das alte Preußen der bürgerlichen Revolution erlag. Wenige Monate früher war das „Monstrum", wie Pufendorf das Deutsche Reich genannt hatte, endgültig zerfallen. Der österreichische Kaiser hatte im Juli 1806 die jahrtausendalte deutsche Kaiserwürde niedergelegt, die süddeutschen Fürsten waren zu einer napoleonischen Schutzgemeinschaft unter dem Namen: Der Rheinbund1 vereinigt. Die ganze verfaulte Herrlichkeit des alten Reiches war unter dem Eisengriff des großen Korsen wie morsches Gebälk zerbröckelt und hatte noch im Niederfallen viele der kleinen Duodezstaatspielschachteln zerschmettert. Leider nicht alle. Noch heute zeigt die Karte Norddeutschlands einen stattlichen Überrest davon, und hätte Napoleon, wie er selbst sagte, als er im November 1806 zu Posen diese Karte revidierte, nur eine Ahnung gehabt, wo die Reuß, Waldeck und Lippe eigentlich lagen, wir hätten heute mehrere „Vaterländer" weniger im Deutschen Reich.

So stand von den deutschen Staaten dem französischen Eroberer nur noch Preußen gegenüber, selber bereits eine verfallene Ruine, durch deren Löcher und Ritzen der revolutionäre Sturmwind bedenklich pfiff. Finanziell stand der Staat am Rande des Bankrotts. Die Heldenkriege des dicken Wilhelm gegen die Französische Republik und gegen Polen hatten den mit ängstlicher Gier angesammelten Staatsschatz Friedrichs II. aufgebraucht, die Mobilmachung des Jahres 1805 vollends, die die letzten roten Heller davontrug, hatte es vor aller Welt deutlich gemacht, dass Preußen unfähig war zu einem großen Kriege. Nichtsdestoweniger dachte kein Mensch an eine ernsthafte Reform. Geflissentlich wird es jetzt so dargestellt – und das Buch des Generals v. d. Goltz, dessen Würdigung die Leser an anderer Stelle des heutigen Blattes finden, gefällt sich ganz besonders darin –, als ob man in Preußen vor 1806 mit den wichtigsten Reformen beschäftigt war, die aus der alten muffigen Junkerrepublik einen modernen Verfassungsstaat hätten machen sollen. Man kennt die Weise, man kennt den Text, man kennt auch die Verfasser. Es sind dieselben Leute, die im Jahre 1848 ausriefen, die Revolution habe den König gerade in dem Augenblicke überrascht, als er im Begriffe stand, alles das dem Volke freiwillig zu geben, was es sich in der Revolution erkämpfte. Und auch jetzt in Russland hören wir ja dasselbe Lied. Jede Revolution „überrascht" die herrschenden Klassen, und die sogenannten Reformbestrebungen, die wir unter ihnen jedes Mal kurz vor dem Zusammenbruch antreffen, sie sind nur ein Zeichen dafür, dass die herrschenden Klassen selber das Empfinden haben, am Rande des Abgrunds zu stehen.

Immerhin waren diese Reformversuche vor keiner welthistorischen Katastrophe so schwächlich wie vor Jena. Im Grunde beschränkten sie sich auf einige Bogen Makulatur, die der gekrönte Gamaschenknopf Friedrich Wilhelm III. über das Heerwesen anfertigen ließ. An die Wurzel des Übels, die Steuerfreiheit des Adels und die Erbuntertänigkeit seiner Bauern, hat er niemals zu rühren gewagt. Und es wäre ihm auch herzlich schlecht bekommen. Musste er doch die bescheidenen Reformedikte, durch die er nach dem Frieden von Tilsit2 die Trümmer seines Staates wieder mühselig zusammenzuflicken suchte, sogar noch unter der französischen Fremdherrschaft zum Teil wieder zurücknehmen. Und als vollends die Schlachten bei Leipzig und Waterloo geschlagen waren, da setzte die junkerliche Reaktion mit vollen Segeln wieder ein. Die Bauern blieben fronpflichtig, im Heere kramte man die Exerzierspielerei wieder aus, und von den Reformen, mit denen man sich angeblich schon vor 1806 getragen hatte, wurden die meisten erst 1848, viele noch später und einige überhaupt nicht durchgeführt.

Niemals zeigte es sich so deutlich, dass keine herrschende Klasse auf ihre Vorrechte verzichtet, solange sie noch die geringste Möglichkeit besitzt, diese Vorrechte zu verteidigen. Und die preußischen Junker haben diese Möglichkeiten immer zu benutzen gewusst. Sie haben die Alchimie, aus dem Staate Kapital zu schlagen, aus dem Grunde verstanden, und zwar dergestalt, dass der Staat die Schläge bekam und sie das Kapital. Die Niederlage von Jena wurde für sie eine Quelle berauschender Bereicherung, die es ihnen ermöglichte, dem preußischen Bauerntum die kapitalistischen Schröpfköpfe anzusetzen, die noch ganz anders zogen als die alten feudalistischen. Und selbst nach der Gründung des Reiches, der sie aus sehr gesundem Klasseninstinkt heraus mit allen Leibeskräften widerstrebten, hat sich die Position der Junker dauernd verbessert. Sie selber fürchteten damals, dass die bürgerliche Kultur Süddeutschlands störend auf ihre ostelbischen Idyllen einwirken möge, und deshalb wollten sie von der Reichsgründung nichts wissen. Aber sie haben es verstanden, aus ganz Deutschland ein Ostelbien zu machen. Die Getreidezölle, der Fleischwucher, die Verteuerung aller Lebensmittel durch die indirekten Steuern, was sind sie anders als ein Zeichen dafür, dass die Junker herrschen in Deutschland, dass ihre Macht gewachsen ist im selben Maße, wie die Grenzen des Reiches sich ausdehnten und die Ausbeutungsmethoden sich raffinierter gestalteten! Freilich! Sie haben ihre Macht teilen müssen mit der Bourgeoisie, aber es war eine Teilung, wie sie der Löwe mit dem Schakal vornimmt. Heute ist das Bürgertum der demütige Steigbügelhalter für die Junkerklasse, der ihr allenthalben, im Heer wie in der Verwaltung, bereitwillig den Vorrang lässt und, wie erst das Beispiel der Nationalliberalen in diesem Jahre wieder bewiesen hat, sogar die eigenen Interessen verrät, wenn es gilt, dem Junkertum hold und gewärtig zu sein. Heute kann sich auch der strohköpfigste Junker nicht über „Humanitätsdusel" und „Aufklärung" im Heer beschweren. Es wird geprügelt im Heere Wilhelms II. so herrlich wie im Heere Friedrichs II., nur dass es damals in Übereinstimmung und heute im Widerspruch mit der Vorschrift geschieht. Und ein Skandal wie der Bilse-Prozess kann sich auch gegen die schärfsten Skandalgeschichten der Helden von Jena sehen lassen.

Das Reich, in dem wir leben, hat seine politische Gestaltung von einer siegreichen Kriegerkaste erhalten, deren wichtigster Teil Junker waren. Ohne die Siege von Gravelotte und Sedan3 wäre es niemals möglich gewesen, die „Verfassung eines kurzlebigen Militärstaats", wie im Jahre 1867 Miquel die Verfassung des Norddeutschen Bundes4 nannte, auf das Deutsche Reich zu übertragen mit ihrer totalen Nichtachtung selbst der geringsten bürgerlichen Rechte. Von dieser Verfassung ist heute noch fast nichts geändert. Der Opiumrausch von 1870 hält heute noch an, genauso wie der Opiumrausch der Schlacht bei Roßbach in Preußen anhielt, bis die Katastrophe von Jena hereinbrach. „Es sind immer noch die alten Roßbacher!" höhnte damals das preußische Junkertum und Blücher an der Spitze, als die Franzosen heranrückten, sie meinten, sie könnten die Soldaten der Französischen Revolution genauso leicht besiegen, wie sie 50 Jahre früher die dressierten Truppen Ludwigs XV. bei Roßbach besiegten. Sie täuschten sich. Und sie werden sich wieder täuschen, wenn sie in zukünftigen Schlachten die Soldaten der sozialen Revolution niederzumachen hoffen. Dann wird ihnen aus Millionen Kehlen der Donnerruf entgegen hallen: Es sind immer noch die Helden von Jena!

1 Der am 12. Juli 1806 in Paris geschlossene Bund von zunächst 16 deutschen Staaten unter dem Protektorat Napoleons I. Fürst-Primas wurde der Kurfürst von Mainz, von Dalberg. Der Bund sollte Truppen und Mittel für die napoleonischen Kriege sichern. Er bedeutete das Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Am 6. August 1806 legte Franz II. die deutsche Kaiserkrone nieder. In den Staaten des Rheinbundes wurde der Code civil eingeführt und die Leibeigenschaft abgeschafft. Nach 1807 schlossen sich alle weiteren deutschen Staaten dem Rheinbund an (außer Preußen und Österreich). Er löste sich nach der Völkerschlacht bei Leipzig auf.

2 Der Frieden von Tilsit vom 9. Juli 1807 beendete den Krieg zwischen Frankreich und Preußen. Preußen, trat mehr als die Hälfte seines Gebietes und seiner Einwohner ab. Das Königreich Westfalen und das Herzogtum Warschau wurden zum großen Teil aus ehemaligen preußischen Gebieten gebildet.

3 Die Siege des deutschen Heeres bei Gravelotte und St. Privat am 18. August 1870 über die französische Rheinarmee unter Marschall Bazaine und am 1. September bei Sedan über die eingeschlossene französische Armee unter Marschall MacMahon waren entscheidend für den Ausgang des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71. (Siehe auch Anm. 2.)

4 Norddeutscher Bund – nach dem Preußisch-Österreichischen Krieg von 1866 gegründeter Bundesstaat, dem 22 deutsche Staaten nördlich der Mainlinie angehörten. Nach der Verfassung des Norddeutschen Bundes vom April 1867 leitete der preußische König das Bundespräsidium, das Bundesheer und die Außenpolitik, Bismarck war als Bundeskanzler der einzige Bundesminister. Der Reichstag des Norddeutschen Bundes wurde nach allgemeinem, gleichem, direktem und geheimem Wahlrecht gewählt.

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