Franz Mehring 19141200 Kriegsgeschichtliche Streifzüge

Franz Mehring: Kriegsgeschichtliche Streifzüge

Dezember 1914/Januar 1915

[Die Neue Zeit, 33. Jg. 1914/15, Erster Band, S. 341-352, 427-436, 461-465, 493-495, 520-533, 591-596, 664-670. Nach Gesammelte Schriften, Band 8, S. 303-367]

In höherem Grade als jemals in einem früheren Kriege ist in dem gegenwärtigen Weltkriege ein sachgemäßes Urteil über die Kriegsvorgänge erschwert. Die offiziellen Mitteilungen vom Kriegsschauplatz reichen für solch ein Urteil nicht entfernt aus, was von ihnen auch nicht beansprucht werden kann, da sie sich den Zwecken der Kriegführung anpassen müssen.

Unter diesen Umständen läuft es auf reine Kannegießerei hinaus, sich kritisch über die Entwicklung der Kriegsereignisse zu äußern, die heute einen so großen Teil der gesitteten Menschheit in atemloser Spannung erhalten. Aber wenn das brennende Bedürfnis nach Erkenntnis sich in Bezug auf diesen Krieg einstweilen bescheiden muss, so kann es sich wenigstens befriedigen in Bezug auf den Krieg, und das ist auch eine notwendige Aufgabe. Denn was hilft schließlich die genaueste Kunde selbst der geringsten Einzelheiten, wenn man sie nicht leitenden Gesichtspunkten unterzuordnen und in ihrem inneren Zusammenhange zu erkennen weiß? Kaum auf einem anderen Gebiete der Wissenschaft hat oberflächlicher Dilettantismus so arg gehaust wie in der Lehre vom Kriege, obgleich die Kriegswissenschaft in gewissem Sinne die einfachste aller Wissenschaften ist. Clausewitz, einer ihrer berühmtesten Vertreter, sagt darüber: „Die Grundsätze an sich sind höchst einfach, liegen dem gesunden Menschenverstande ganz nahe, und wenn sie in der Taktik etwas mehr als in der Strategie auf einem besonderen Wissen beruhen, so ist doch auch dies Wissen von so geringem Umfange, dass es sich kaum mit einer anderen Wissenschaft an Mannigfaltigkeit und Ausdehnung vergleichen lässt. Gelehrsamkeit und tiefe Wissenschaft sind also hier durchaus nicht erforderlich, selbst nicht einmal große Eigenschaften des Verstandes." Und so hat man wohl denselben Gedanken in die epigrammatisch scharfe Form gefasst, die berühmtesten Manöver, die in der Geschichte als Werke echten Genies gelten, könne jeder Regimentsschreiber auf der Karte erfinden.

Worauf es im Kriege wirklich ankommt, sind nach Clausewitz nicht die Grundsätze, sondern die Fähigkeit, in der Ausführung diesen Grundsätzen treu zu bleiben. „Das ganze Kriegführen gleicht der Wirkung einer zusammengesetzten Maschine mit ungeheurer Friktion, so dass Kombinationen, die man mit Leichtigkeit auf dem Papier entwirft, sich nur mit großen Anstrengungen ausführen lassen." Diese „großen Anstrengungen" und die „ungeheure Friktion im Kriege" versinnbildlicht der bedeutendste Kriegshistoriker der Gegenwart in dem Vergleich: „Auf freiem Felde geht man ganz gemütlich die Meile in anderthalb Stunden. Wenn man aber bis an den Hals im Wasser steht, so kann dieselbe Bewegung des Gehens nur langsam und mit Anstrengung vollzogen werden, und wohl nur ein außergewöhnlich starker Mann würde überhaupt eine Meile vorwärts kommen. Ist der Grund gar mit spitzen Steinen bedeckt oder morastig und das Wasser undurchsichtig, so hört die Möglichkeit der Vorwärtsbewegung nahezu auf. Nicht anders ist der Unterschied zwischen einer Kombination oder einem Entschluss am Studiertisch und auf dem Schlachtfeld oder im Feldherrnzelt." Am kürzesten und treffendsten hat Moltke den entscheidenden Gesichtspunkt in seinem Wahlspruch hervorgehoben: Erst wägen, dann wagen. Aber schon Napoleon hat das Gleichgewicht zwischen Einsicht und Kühnheit, mögen beide auch nur in mäßigem Grade vorhanden sein, also in Moltkes Sinn zwischen „Wägen und Wagen", die wertvollste Eigenschaft eines Generals genannt. Gneisenau war ein großer Feldherr, obgleich er nach dem Zeugnis seines. Freundes Clausewitz kein „guter Logiker" war; umgekehrt hat sich Clausewitz selbst als praktischer Kriegsmann durch seine von sachverständigen Urteilern bezeugte „Schwarzseherei" geschadet, will sagen durch seine „großen Eigenschaften des Verstandes", die ihn alle denkbaren schlimmen Folgen eines Wagnisses so klar und schnell übersehen ließen, dass seine Entschlusskraft dadurch gemindert wurde.

Aus alledem erhellt, dass sich das Wesen des Krieges nicht aus einigen allgemeinen und im Grunde dürftigen Sätzen erkennen lässt, sondern nur aus dem geschichtlichen Verlauf der Dinge selbst, der sich nicht an einem grauen Faden der Theorie abhaspelt, sondern eine mannigfache Fülle von Erscheinungen zeitigt, aus denen sich in ihren Grundzügen die Gesetze des Krieges erkennen lassen. Um noch einmal Clausewitz zu zitieren, so gebraucht er historische Beispiele nicht nur in erläuterndem, sondern auch in beweisendem Sinne. Er schreibt: „Historische Beispiele machen alles klar und haben nebenher in Erfahrungswissenschaften die beste Beweiskraft. Mehr als irgendwo ist dies in der Kriegskunst der Fall. Der General Scharnhorst, welcher in seinem Taschenbuch über den eigentlichen Krieg am besten geschrieben hat, erklärt die historischen Beispiele für das wichtigste in dieser Materie, und er macht einen bewundernswürdigen Gebrauch davon." In der Tat stellt Scharnhorst in seinen militärischen Schriften den „historischen Beweis" obenan, und es tut dem „bewundernswürdigen Gebrauch", den er davon macht, auch keinen Eintrag, dass er manches Mal seine militärischen Reformen dem widerstrebenden Könige als mittelalterliches Erbgut der Hohenzollern „bewiesen" hat.

Wenn nun hier einige Streifzüge in die Kriegsgeschichte unternommen werden sollen, um irrige Ansichten über den Krieg zu beseitigen, so empfiehlt sich nicht nur aus räumlichen Rücksichten eine Beschränkung auf die neuere Kriegsgeschichte. Da der Krieg eine unvermeidliche Begleiterscheinung jeder Klassengesellschaft ist, so lässt sich das Wesen des Krieges in manchen Grundzügen schon aus der Geschichte des Altertums, zumal der Griechen und Römer erkennen, zum Teil schwieriger wegen der Lückenhaftigkeit der geschichtlichen Überlieferung, zum Teil aber auch leichter wegen der größeren Einfachheit der geschichtlichen Voraussetzungen und Zusammenhänge. Allein die Klassengesellschaft steht im Flusse der geschichtlichen Entwicklung, und die kapitalistische Produktionsweise hat sie so gründlich umgestaltet, dass eine vergleichende Betrachtung des Kriegswesens, soweit sie praktischen Bedürfnissen der Gegenwart dienen soll, sich wohl oder übel auf das kapitalistische Zeitalter beschränken muss.

Man kann dies Zeitalter von der Wende des fünfzehnten auf das sechzehnte Jahrhundert rechnen, als die Schweizer Urkantone im Solde des Kapitals die moderne Infanterie schufen und Machiavelli über die Kriegskunst schrieb.

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