Franz Mehring 19060404 Militärische Streiflichter

Franz Mehring: Militärische Streiflichter

4. April 1906

[Die Neue Zeit, 24. Jg. 1905/06, Zweiter Band, S. 41-45. Nach Gesammelte Schriften, Band 8, S. 91-95]

In die jüngsten Verhandlungen des Reichstags über den Militäretat hat mehrfach das Gespenst von Jena gespukt. Das ist insofern auch nicht zu verwundern, als in einem halben Jahre der Säkulartag der Schlacht wiederkehrt, die den altpreußischen Staat zerschmetterte. Eher zu verwundern ist, dass sich die militärischen Autoritäten bemühten, die junkerlichen Helden von Jena herauszupauken, so gut oder so schlecht es ihnen gelingen wollte.

Um überhaupt davon zu reden, so deutete auch sonst schon manches darauf hin, dass der Geist von Jena im deutschen Reichsheer wieder lebendiger geworden ist, als man nach der fürchterlichen Lektion annehmen sollte. Wir wollen ganz von der jahrzehntelangen Fehde darüber absehen, ob der Alte Fritz bereits die napoleonische Strategie und Taktik angewandt habe; die schlechthin sinnlose Vorstellung ist vorzugsweise von Generalstabsoffizieren vertreten und in erster Reihe von bürgerlichen Militärschriftstellern totgeschlagen worden. Eigentümlicher fast noch ist ein Vorgang aus neuester Zeit.

Ein österreichischer Gelehrter, der Professor Kromayer in Czernowitz, hat ein Buch über antike Schlachtfelder in Griechenland herausgegeben. Es ist dem bisherigen Chef des Großen Generalstabs, dem Grafen Schlieffen, gewidmet und stellt gewissermaßen die Quintessenz offizieller Gelehrsamkeit dar; es ist im Auftrag der Berliner Akademie der Wissenschaften geschrieben worden; der Große Generalstab hat den Verfasser gefördert, indem er ihm zwei Offiziere mitgab, um ihn bei seinen topographischen Studien in Griechenland zu unterstützen, und das preußische Kultusministerium hat das Werk allen Gymnasialbibliotheken zur Anschaffung empfohlen. Nun hat aber eine Reihe bürgerlicher Kriegshistoriker, Delbrück, Lammert, Roloff, bis ins Einzelne hinein nachgewiesen, dass Kromayers Arbeit voll schülerhafter Fehler stecke und als kriegshistorische Leistung völlig wertlos sei. Roloff sagt in einer besonderen Gegenschrift: „Kromayer vertritt irrige Anschauungen von dem strategischen und taktischen Fundament des griechischen Kriegswesens und hat keine klare Vorstellung, welche Truppenbewegungen möglich oder nicht möglich sind; er ist in der Quellenforschung höchst willkürlich und verwirft bald hyperkritisch nach Gutdünken begründete Angaben der antiken Berichte, bald nimmt er widerspruchslos unsachliche und schlecht bezeugte Mitteilungen auf, bald übersieht er wichtige Quellenstellen, bald liest er zu viel aus ihnen heraus, und endlich fehlt es nicht an falschen Übersetzungen wichtiger Zeugnisse." Gegen diese und ähnliche, wie gesagt bis ins Einzelnste hinein begründete Kritiken verteidigt sich Herr Kromayer ebenso bündig wie schlagend durch den Abdruck eines höchst schmeichelhaften Urteils, das ihm der Große Generalstab über seine Leistung ausgestellt hat.

Mehr denn je gilt heute das Wort, das der alte Ziegler über die militärischen Sachverständigen zu äußern pflegte: „Sie haben sich immer blamiert." Dafür lieferten die neulichen Verhandlungen des Reichstags über den Militäretat schlagende Beweise. Was soll man dazu sagen, wenn der Kriegsminister bestritt, dass die Exklusivität, die kastenmäßig-junkerhafte Abschließung des Offizierskorps, eine der Ursachen gewesen sei, die die Niederlage von Jena herbeigeführt haben? Der Herr sprach sogar von einer „Legende von Jena", und Herr v. d. Goltz, der gegenwärtige kommandierende General in Königsberg, wird demnächst mit einer zweiten Auflage des Buches hervorkommen, worin er schon vor zwanzig Jahren, als Major im Generalstab, diese „Legende" zu zerstören versucht hat, indem er sich nachzuweisen bemühte, dass die preußischen Junker bei Jena wesentlich ganz zu Unrecht windelweich geprügelt worden seien.

Gegenüber dem Wiederauftauchen der vorjenaischen Überhebung berief sich Genosse Bebel mit Recht auf Scharnhorst. Die Erwiderung eines Junkers, dass Scharnhorst auf das heutige deutsche Kriegsheer mit höchster Befriedigung blicken würde, fällt platt zu Boden. Es versteht sich, dass Scharnhorst nicht den Standpunkt vertrat, den heute die Sozialdemokratische Partei in Militärfragen vertritt. Er war sogar der namhafteste Verteidiger der stehenden Heere zu einer Zeit, wo – gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts – Scharen der glänzendsten Geister, in Frankreich die Montesquieu, Voltaire, Quesnay, Turgot, Helvetius, Holbach, Rousseau, in Deutschland die Kant, Fichte, Herder, Moser, Schlözer, W. v. Humboldt, Berenhorst, gegen die stehenden Heere mit aller Leidenschaft kämpften. Berenhorst, der damals berühmteste Militärschriftsteller Deutschlands, ein Offizier des Alten Fritz und ein natürlicher Sohn des Alten Dessauers, war vielleicht der grimmigste Gegner der stehenden Heere, und gegen ihn namentlich richtete sich die Polemik Scharnhorsts. Aber Scharnhorst ist auch nach Jena seiner Meinung treu geblieben; so lebhaft er eine nationale Miliz befürwortete, so hat er doch auch damals an den stehenden Heeren festgehalten ebenso wie seine Mitarbeiter, von denen sie höchstens einmal Gneisenau scharf verurteilt hat.

Daraus folgt jedoch nicht im Entferntesten, dass Scharnhorst heute die stehenden Heere verteidigen würde. Ein wesentlich historisch gebildeter Kopf, stand er den wesentlich doch nur philosophischen Anklagen, die von französischen und deutschen Denkern gegen die stehenden Heere erhoben wurden, und ebenso der beschränkt-fachmännischen Kritik eines Berenhorst gegenüber. Er glaubte nicht an den Ewigen Frieden, den Kant am Vorabend eines eisernen Kriegszeitalters verkündete, und er sah ein, dass der Krieg doch etwas anderes sei als das blinde Würfelspiel, als das ihn Berenhorst brandmarkte. Um die Nation als solche wehrhaft zu machen, galt es vor allem, den schlimmsten Fluch der Söldnerheere zu beseitigen: die Wehrlosigkeit gerade der entwickeltsten nationalen Schichten, der gebildeten und gewerbfleißigen Stände. Sie waren von der Kantonpflicht eximiert und seit Jahrhunderten daran gewöhnt, den Soldatenstand als den verächtlichsten Stand unter der Sonne zu betrachten. Hat sich doch noch Kant geweigert, jemanden für eine Stelle zu empfehlen, weil er allzu lange die Niederträchtigkeit besessen habe, den Soldatenstand zu ertragen, und als Scharnhorst nach Jena die allgemeine Wehrpflicht einführen wollte, stieß er auf den stärksten Widerstand nicht nur beim König und den Junkern, sondern auch bei Leuten, die sich sonst zu den Reformern zählten, wie Gentz, Vincke und Niebuhr.

So hat Scharnhorst neben der nationalen Miliz ein stehendes Heer für notwendig gehalten, auf Grundlage der allgemeinen Wehrpflicht, als eine Erziehungsschule der Nation zur Wehrhaftigkeit. Im Grunde also ein stehendes Heer, dessen einziger Zweck gewesen wäre, sich selbst überflüssig zu machen. Das hat Scharnhorst nicht mit dürren Worten ausgesprochen, einmal weil er überhaupt kein spekulativer Kopf war, und dann weil er in den wenigen Jahren seiner praktischen Wirksamkeit mit so unendlichen Hindernissen zu kämpfen hatte, dass er froh war, wenn er seine Absichten ruck- und stoß- und auch nur teilweise durchsetzen konnte. Aber es ergibt sich aus den Plänen der Heeresreform, die er in seinen zahlreichen Denkschriften niedergelegt hat. Wären sie je systematisch durchgeführt worden, so würden wir heute eine nationale Miliz von der höchsten Wehrhaftigkeit besitzen, denn auch wo sie nicht ausdrücklich auf dies Ziel lossteuern, würden sie in dem Gange, den sie einschlugen, über sich selbst hinausgetrieben haben.

Allein sie sind niemals systematisch ausgeführt worden, und in dem heutigen Heere würde Scharnhorst am allerwenigsten eine Verwirklichung seiner militärischen Ab- und Ansichten erblicken. Vieles von dem, was er im letzten Jahrzehnt des achtzehnten Jahrhunderts an den Söldnerheeren zu tadeln hatte, liest sich so, als wäre es heute geschrieben. Wie sehr er das „Prinzip der stehenden Heere" anders verstanden hat, als es heute verstanden wird, zeigt seine unaufhörliche Forderung, dass alles nicht im Kriege Brauchbare, alles auf den Schein Berechnete rücksichtslos beseitigt werden müsse. So spottet er über die unnützen Paraden, so geißelt er die spielerischen Evolutionen bei den Manövern: „Wer Kenntnisse vom Feldkrieg hat, weiß, dass es auf künstlich ausgedachte Manöver am Tage der Schlacht nicht ankommt." Gegen den Vorschlag, das Gewehr braun zu färben, hatte ein Kritiker eingewandt: Dann würde der Soldat nichts zu polieren haben und sein point d'honneur die Reinlichkeit verlieren. Hierzu bemerkt Scharnhorst: „Dieses point d'honneur mag er immer verlieren, es verdirbt den Soldaten. Man lehre ihn sein Gewehr kennen und so im Stande erhalten, dass er's gebrauchen kann; dafür erwecke man sein point d'honneur." Ebenso bekämpfte Scharnhorst die törichte Annahme, als habe der Soldat eine Freude an einer prunkenden, aber für den Kriegszweck zwecklosen oder selbst gefährlichen Uniform. Scharnhorst versichert, beständig sehr aufmerksam auf den gemeinen Mann gewesen zu sein, dabei habe er aber die Beobachtung gemacht, dass der Soldat keineswegs so großen Wert lege auf unnütze Verzierungen, an denen er Tag und Nacht arbeiten müsse, um sie rein zu erhalten. Er sagt: „Ich habe schon lange geglaubt, dass durch die übertriebene Aufmerksamkeit auf das Äußere der Soldat von seiner eigentlichen Bestimmung entfernt würde, dass dadurch ein nachteiliger Plis sich in ein Korps Truppen einschleiche… Es kommt nur darauf an, dass die Vorgesetzten jene Pointillen verachten; der Geringere bildet sich nach denen, welche im Ansehen stehen." Alles das sitzt dem heutigen Reichsheer wie angegossen, aber im Reichstag wird diese Kritik nur noch von der „vaterlandslosen" Sozialdemokratie geltend gemacht.

Vor allem begegnet sie sich im Kampfe gegen die Soldatenmisshandlungen mit Scharnhorst. Er war weit entfernt davon, mit den nationalliberalen Schwätzern in den Soldatenmisshandlungen nur „Sonnenflecke" eines herrlichen Kriegsheers oder mit dem gegenwärtigen Kriegsminister nur „sadistische Neigungen" zu sehen, wie sie sich unter dem Zwange der militärischen Disziplin einstellen. Scharnhorst wusste, dass die Soldatenmisshandlungen im Wesen des Söldnerheers wurzeln, und er wollte sie beseitigen, indem er das Ehrgefühl weckte bei den Offizieren wie bei den Mannschaften, statt des verbohrten Kastendünkels, der die Vorgesetzten, und des knechtischen Sinnes, der die Untergebenen des Söldnerheers beseelt. Ein solches Heer konnte nur durch strenge Strafen zusammengehalten werden, und da die Beschaffung der Söldner mit großen Kosten verknüpft war, so war man gezwungen, solche Strafen zu verhängen, die den Soldaten nicht seinem Beruf entzogen, also nicht Freiheitsstrafen, sondern körperliche Misshandlungen, wie man aus dem gleichen Grunde auch bürgerliche Verbrechen und Vergehen der Soldaten der bürgerlichen Justiz entriss, die auf Gefängnisstrafen hätte erkennen müssen. Dies ist beiläufig der glorreiche Ursprung der Militärgerichtsbarkeit, die Moloch heute noch als seinen Augapfel hütet. Die ganze Disziplin des Söldnerheers beruhte auf den entsetzlichsten Misshandlungen, deren Ausrottung mit Stumpf und Stiel demgemäß das vornehmste Bestreben Scharnhorsts sein musste. Rottete er die Misshandlungen nicht aus, dann war nie an ein „Volk in Waffen" zu denken; umgekehrt, wenn es ihm gelang, ein „Volk in Waffen" zu schaffen, dann war die sicherste Probe aufs Exempel, dass die Misshandlungen der Soldaten aufhörten.

Scharnhorst hat nun die Soldatenmisshandlungen, soweit sie an ein vorhergehendes, mit rechtlichen Formen umkleidetes Verfahren geknüpft waren, zu beseitigen gewusst, obschon auch sie nur mit unzureichendem Erfolge. An Stelle des entsetzlichen Spießrutenlaufens ist der kaum minder entsetzliche strenge Arrest getreten, bei dem es viel weniger auf die verhältnismäßig kurze Freiheitsentziehung als auf die furchtbaren körperlichen Qualen abgesehen ist, die dem Verurteilten zugefügt werden. Aber das ungesetzliche Misshandeln der Soldaten, diese echteste Überlieferung des Söldnerheeres, hat Scharnhorst nicht zu beseitigen vermocht, und zwar aus dem Grunde nicht, weil er seine Pläne zur Umwälzung des Söldnerheeres in eine nationale Miliz nur zum geringsten Teile durchführen konnte. Darüber, dass bloße Verbote der Soldatenmisshandlungen, die nicht erst im neunzehnten und zwanzigsten, sondern schon im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert zahlreich erlassen wurden, dem Übel nicht im geringsten steuern können, war sich niemand so klar wie Scharnhorst. Trotz aller dieser Verbote durfte, wie er offen bekannte, jeder sechzehnjährige Fähnrich und jeder rohe Unteroffizier jeden alten Soldaten wegen eines unbedeutenden, unschuldigen Exerzier- oder Putzfehlers halb zu Tode prügeln.

Wie eng für Scharnhorst die Soldatenmisshandlungen mit dem Wesen der nationalen Wehrkraft zusammenhingen, beweist auch das Wort, das er nach Jena sprach: „Kein Soldat ist so erbärmlich gepeitscht worden wie der preußische, und keine Armee hat weniger geleistet." Aber für den heutigen Kriegsminister wird dies Urteil Scharnhorsts auch nur zur „Legende von Jena" gehören.

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