Franz Mehring 19090509 Prestigen

Franz Mehring: Prestigen

29. Mai 1909

[Die Neue Zeit, 27. Jg. 1908/09, Zweiter Band, S. 289-291. Nach Gesammelte Schriften, Band 8, S. 206-209]

Das bekannte Wort Moltkes, dass jedes Heer seine Prestigen haben müsse, auch wenn sich längst herausgestellt habe, dass sie – deutsch gesprochen – reiner Schwindel seien, bewährt sich einmal wieder in dem großen Sums, der augenblicklich von dem Prestige des Erzherzogs Karl von Österreich gemacht wird, wegen der Schlacht bei Aspern, die er vor hundert Jahren gewonnen haben soll. Auch die deutschen Patrioten beteiligen sich an dem Spektakel, und ihnen kann man es noch am wenigsten verdenken. Denn verglichen mit der unsagbar jämmerlichen Rolle, die ihr „Heldenkönig" Friedrich Wilhelm III. und seine preußischen Junker im Jahre 1809 spielten, kann sich die Schlacht bei Aspern freilich wohl sehen lassen.

Sonst war sie aber kein österreichischer Sieg, sondern im günstigsten Falle eine unentschiedene Schlacht, die Erzherzog Karl unter den denkbar günstigsten Umständen schlug, so dass er sie gar nicht verlieren konnte, und sie nicht zu gewinnen ein hohes Maß von Unfähigkeit erforderte. Als Napoleon am 21. Mai unterhalb Wiens über die breite Donau setzte, ahnte er nicht, dass das österreichische Hauptheer in seiner unmittelbaren Nähe sei. Sobald ihm gemeldet wurde, dass es in dichten Massen anrücke, befahl Napoleon die beiden nächst der Brücke gelegenen Dörfer Aspern und Eßling zu verteidigen, jedoch als die Österreicher am Nachmittag gegen 4 Uhr mit 87.000 Mann und 258 Geschützen angriffen, hatte er ihnen noch nicht mehr als 22.500 Mann und 48 Geschütze entgegenzustellen, und der plötzliche Bruch der Brücke, die er über die Donau geschlagen hatte, hinderte ihn daran, Verstärkungen heranzuziehen.

Trotz erdrückender Übermacht brachte es der Erzherzog Karl aber nicht fertig, den Franzosen die Dörfer vollständig zu entreißen und sie in den Fluss zu werfen. Vergebens berannte er mit 50.000 Mann das Dorf Aspern, das Massena mit 6400 Mann verteidigte.

In der Nacht stellte Napoleon seine Brücke wieder her und begann schon um 3 Uhr den Angriff, als er etwa 30.000 Mann neue Truppen zur Stelle hatte. Allein ehe der Rest seines Heeres hinübergelangt war, riss die Brücke abermals, und zwar so, dass sie sich nicht sofort wiederherstellen ließ. Inzwischen hatten auch die Österreicher neue Truppen herangezogen, und der Erzherzog Karl verfügte über einige 90.000 Mann mit 379 Geschützen gegen einige 60.000 Mann Franzosen mit 174 Geschützen. Er hatte also immer noch eine sehr starke Übermacht, zumal da Napoleon keine Verbindung nach rückwärts besaß und bald Mangel an Munition zu spüren bekam. Aber auch jetzt behaupteten sich die Franzosen, und das Gefecht schlief allmählich ein, Napoleon zog seine Truppen dann auf die Insel Lobau zurück und musste hier noch im Angesicht der österreichischen Übermacht kampieren, bis die Brücke über den Strom wiederhergestellt war. Und der Erzherzog Karl tat nicht das Geringste, diese für ihn so überaus vorteilhafte Lage auszubeuten.

Mit dem „Siege" von Aspern ist es also recht kümmerlich bestellt, und nur die Notwendigkeit, im Sinne Moltkes die Prestigen zu pflegen, erklärt den Spektakel, der darüber gemacht wird. Vielleicht auch trägt dazu bei, dass binnen weniger Tage ein halbes Jahrhundert abschließt, seitdem Österreich die Schlachten bei Magenta und Solferino verlor, und dass sich aus den hochgeborenen Eseln, die in diesen Schlachten das tapfere Heer kommandierten, selbst mit dem höchsten Aufwand von loyaler Gesinnung kein Prestige herausschlagen lässt. Dafür rüstet sich der italienische Freund und Bundesbruder, zwar auch nicht gerade diese Schlachten zu feiern, bei denen er nur in zweiter Reihe hinter dem Dezembermanne marschierte, dessen Prestige gänzlich erloschen ist, wohl aber die Abschüttlung der österreichischen Oberherrschaft über Italien mit langem Atem zu verherrlichen.

Florenz hat damit begonnen, indem es am 27. April die sehr gemütliche und unblutige Revolution ehrte, durch die es vor fünfzig Jahren seinen österreichischen Großherzog vertrieb. Der Turm des Palazzo Vecchio strahlte in bengalischem Feuer, und von der Piazza Michelangelo stiegen die Raketen, auf jenem wundervollen Hügelwege, den sich Florenz als Residenz des Königs von Italien zugelegt hat; es war eine kurzatmige Ehre, die die Stadt mit ihrem völligen Bankrott bezahlt hat. Denn königliche Prestigen sind immer eine kostspielige Sache.

Rom will seine Jubelfeier des Königreichs Italien erst im Jahre 1911 begehen, hat aber jetzt auch schon den Kopf voll Sorgen damit, wie sein Prestige dabei ungerupft davonkommen soll. Was es jetzt schon im Sacke hat oder doch zu haben glaubt, ist die gräuliche Geschmacklosigkeit, womit sich die Ewige Stadt ihr Bild verunzieren will: das ungeheuerliche Denkmal für Viktor Emanuel, seinem rohen und wüsten Unteroffizier, der dem Volkshelden, der ihm zwei Königreiche geschenkt hatte, dafür die Knochen zerschießen ließ1. Eben jetzt läuft eine Notiz durch die Zeitungen mit Angaben über die noch nie dagewesene Schwere der Metallmassen, aus denen die einzelnen Teile des geplanten Denkmals zusammengesetzt werden sollen. Die Kunst spielt dabei sowenig eine Rolle wie bei dem Denkmal des alten Wilhelm in Berlin, der um die deutsche Einheit etwa ebenso verdient gewesen ist wie Viktor Emanuel um die italienische: Nur dass durch das Berliner Denkmal zunächst das königliche Schloss verunziert wird, was am Ende die Sache des Königtums ist, während sich das römische Ungetüm am Nordabhang des Kapitols erheben soll, wo es die malerischen Ruinen des antiken Rom mit ihren weltgeschichtlichen Erinnerungen gänzlich erdrücken wird.

Mit anderem Klimbim, womit die italienische Monarchie an ihrem fünfzigsten Geburtstag ihr Prestige zu erweisen beabsichtigt, stockt es bedenklich; an einer Industrieausstellung will sich namentlich nicht der österreichische Freund und Bundesbruder beteiligen, der auch noch immer den Gegenbesuch im Quirinal schuldet, aus ehrfurchtsvoller Rücksicht auf den Vatikan. Es ist darüber viel Jammerns und Wehklagens in den Zeitungen, was jedoch an der Sache nicht viel ändern wird. Denn in Sachen des Prestiges lässt die römische Kirche ihrer am wenigsten spotten, und sie braucht es auch nicht, da sie in diesem Punkte allen weltlichen Mächten überlegen ist. Ein kleiner Humbug, wie die Seligsprechung der Jungfrau von Orleans, genügt ihr, um 40.000 französische Pilger nach Rom zu treiben, und wie viel wohlfeiler ist diese Methode als eine Industrieausstellung!

Voltaire freilich mag sich im Grabe umgedreht haben, als seine Pucelle zu so hohen kirchlichen Ehren emporstieg. Aber darüber zu spotten, hätte er keinen Anlass, denn wer so eifrig wie er für das Prestige eines weltlichen Despoten gearbeitet hat, der muss auch die Konsequenzen in den Kauf nehmen. Und einen höheren Anspruch auf die ewige Seligkeit hat das Mädchen von Orleans am Ende doch als Ludwig XIV. oder Viktor Emanuel II. Die Konsequenz ist eine so schöne Sache, dass sie auch auf dem Gebiet des Unsinns ihre Rechte durchsetzt; je konsequenter der Unsinn ist, um so sicherer überwindet er seine inkonsequenten Spielarten.

Mit seinem berufenen Worte von den Prestigen, die geschont werden müssten, auch wenn sie eitel Lug und Trug seien, hat Moltke das Geheimnis aller herrschenden Klassen verraten. Sie müssen von der Geschichtsfälschung leben, und es macht moralisch keinen Unterschied, ob Janssen die Geschichte zu Ehren der Päpste oder Treitschke sie zu Ehren der Hohenzollern fälscht. Aber ein Unterschied, und zwar ein tröstlicher Unterschied, besteht eben darin, dass die Beine dieser Geschichtslügen immer kürzer werden, je länger man sie zu strecken sucht.

Quantitativ ist über den Erzherzog Karl als Sieger von Aspern oder über die Königin Luise von Preußen als Heroine und Prophetin oder über den alten Wilhelm und Viktor Emanuel als Befreier der deutschen und der italienischen Nation mehr zusammengelogen worden als über irgendeinen mittelalterlichen Heiligen. Jedoch das spöttische Lachen der Massen verweht diese Makulatur, und auch wo die Lüge in Erz oder Stein gegraben wird, darf man sich ihres Schicksals getrösten mit den Worten des proletarischen Dichters: Ei, wie man doch für künftige Ruinen sorgt!

1 Gemeint ist, dass Garibaldi auf seinem Zuge zur Befreiung Roms im Gefecht bei Aspromonte am 29. August 1862 gegen die Truppen Viktor Emanuels verwundet und gefangen wurde.

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