Franz Mehring 18981026 Über Militärkrisen

Franz Mehring: Über Militärkrisen

26. Oktober 1898

[Die Neue Zeit, 17. Jg. 1898/99, Erster Band, S. 161-164. Nach Gesammelte Schriften, Band 8, S. 31-35]

Die preußischen Landtagswahlen, die morgen mit den Urwahlen beginnen, fallen in Tage traurigster Erinnerungen. Gerade fünfzig Jahre früher erfolgte die Entscheidung, an deren verheerenden Folgen die deutsche Nation heute noch unheilbar krankt.

Freilich wollen diese historischen Erinnerungstage, wie alle ihresgleichen, nicht ohne ein Körnlein Salzes gewürdigt sein. Wer mag sich des Gedankens erwehren: Hätte die preußische Nationalversammlung im November 1848 dem gewaltsamen Angriff der Gegenrevolution den gewaltsamen Widerstand entgegengesetzt, wie es ihr Recht und ihre Pflicht war, wie ganz anders könnten heute die Dinge in Deutschland liegen, wie ganz anders könnte dann das deutsche Volk im Reigen der Kulturvölker stehen! Diese Auffassung ist logisch richtig, aber nicht eigentlich historisch. Mit Wenn und Aber lässt sich keine Geschichte machen und auch keine Geschichtsphilosophie.

Vor fünfzig Jahren erfolgte die Entscheidung in dem ganzen kahlen Sinne dieses kahlen Wortes: Sie trat ein als Folge einer Entwicklung, die eben nur diese Folge haben konnte. Soviel Ehr- und Schamgefühl besaßen die Helden des „passiven Widerstandes" immerhin noch, um ganz gut zu wissen, was ihre Pflicht war; wenn sie dieser Pflicht nicht genügten, so entschuldigten sie sich mit einer höheren Pflicht, indem sie sagten: Da ein gewaltsamer Widerstand bei den weit überlegenen Machtmitteln der Regierung doch aussichtslos sei und den Triumph der Gegenrevolution nur erhöhen könne, so sei die freiwillige Abdankung der Revolution das geringere Übel. Dagegen ist nun oft eingewandt worden, dass bei einem entschlossenen und raschen Handeln der Nationalversammlung ihr Sieg keineswegs ausgeschlossen gewesen sei und dass, selbst wenn er ausgeschlossen gewesen wäre, eine ehrenvolle Niederlage für die Zukunft der Nation ungleich mehr bedeutet haben würde als eine feige Flucht vor dem Kampfe. Diese Einwände sind logisch durchaus zutreffend, aber historisch drehen sie sich doch nur im Kreise herum. Wäre die preußische Nationalversammlung in den Novembertagen eines entschlossenen und kräftigen Handelns fähig gewesen, so hätte noch vieles oder alles gerettet werden können, gewiss: Aber die Novemberkrisis wäre auch nie eingetreten, wenn die preußische Nationalversammlung nur ein bescheidenes Quantum politischer Energie und Klarheit besessen hätte. Kam es einmal soweit, dann war es überhaupt vorbei; der „passive Widerstand" fiel nicht aus den Wolken, sondern war der logische Schluss jener halben und zweideutigen Politik, die immer mit einem ganzen Verrat enden muss.

Wir haben hier immer von einer preußischen Nationalversammlung gesprochen, obgleich dieser Ausdruck an und für sich sinnlos ist. Mit Recht sagt Blos in seiner Geschichte der deutschen Revolution, dass es wohl eine deutsche Nationalversammlung gegeben habe, aber keine preußische; von einer „preußischen Nation" zu sprechen sei eine Gewohnheit der preußischen Junker: „Wie würde man gelacht haben, wenn Hamburg seine konstituierende Versammlung, die doch auch eine neue Verfassung zu beraten hatte, als hamburgische Nationalversammlung bezeichnet hätte!" Das ist logisch vollkommen unanfechtbar, aber wieder nicht historisch. Das schiefe Wort spiegelte vielmehr sehr getreu die schiefe Tatsache ab. Die preußische Nationalversammlung war ein logischer Unsinn, aber ein historischer Sinn: Die historische Entscheidung lag nicht in Frankfurt, sondern in Berlin, und die Täuschung über dies Missverhältnis steht obenan unter den Illusionen, in denen die deutsche Revolution zerronnen ist. Man kann nicht genug erstaunen, wenn man in der Literatur von 1848 verfolgt, wie krampfhaft selbst gescheite Leute in unzweifelhaft guter Absicht, beispielsweise Rodbertus, und überhaupt gerade der bessere Teil der damaligen Bourgeoisie, sich über die wirkliche Lage der Dinge täuschten, wie sie sich von dem Frankfurter Blendwerke um so starrer hypnotisieren ließen, je klarer sich auch dem kurzsichtigsten Blicke die Erkenntnis aufdrang, dass in Berlin die entscheidende Schlacht geschlagen werden musste. Wenn morgen die preußischen Urwähler den sauren Weg an den Wahltisch des Dreiklassenwahlrechts1 antreten, mit dem bescheidenen Ziele, die Macht des rückständigen Junkertums nicht etwa zu brechen, sondern etwas einzuschränken, so zeigt sich abermals, wie lange sich noch an den Kindern und Enkeln die Sünden der Väter rächen, die nicht sehen wollten, da sie doch Augen hatten zu sehen, und nicht hören wollten, da sie doch Ohren hatten zu hören.

Dem kurzsichtigsten Blicke, so meinten wir, habe sich vor fünfzig Jahren je länger, je mehr die Erkenntnis aufdrängen müssen, dass die Entscheidung in Berlin und nicht in Frankfurt lag, und der Himmel weiß, wie schmählich es gelogen sein würde, wenn man den damaligen Junkern nachrühmen wollte, dass sie einen in irgendwelchem Sinne des Wortes weitsichtigen Blick gehabt hätten. Die ganze Politik, die sie im Jahre 1848 trieben, ließ sich in dem einen Satze zusammenfassen: Da die Bourgeoisie uns nicht zu entwaffnen wagt, so wollen wir die Bourgeoisie entwaffnen. Und nichts wäre auch verkehrter, als der vor fünfzig Jahren siegenden Gegenrevolution ein Übermaß an Energie und Entschlossenheit zuzuschreiben. Armseligere Tröpfe als die Brandenburg und Wrangel hat es auf der Welt nicht gegeben, es sei denn, dass sie an dem gegenwärtigen Generalstabsklüngel in Frankreich ihresgleichen haben.

In der Tat erinnert die augenblickliche Krisis in Paris2 in einem entscheidenden Punkte sehr lebhaft an die Berliner Novemberkrisis vor fünfzig Jahren, und zwar in der ungeheuren Gefahr, die der Militarismus als organisiertes Machtmittel für alle moderne Kultur in sich birgt. Als organisiertes Machtmittel, denn wenn sich im Allgemeinen jeder zivilisierte Mensch über den Militarismus als ein Überbleibsel barbarischer Zeitalter mehr oder minder klar ist, so wird doch im Allgemeinen die unmittelbare Gefahr unterschätzt, womit er in jedem Augenblick jede bürgerliche Rechtsordnung bedroht. Die Tatsache, dass hier eine furchtbare Maschine vorhanden ist, deren Kurbel nur von irgendwelchen Narren oder Verbrechern gedreht zu werden braucht, um die mühsame Kulturarbeit von Jahrzehnten niederzuschmettern, tritt freilich nicht in jedem Augenblicke sinnenfällig hervor, und ebendeshalb wird sie nicht richtig gewürdigt, aber um so notwendiger ist es, auf sie hinzuweisen, sobald sie in heftigen Krisen des Völkerlebens mit Händen zu greifen ist.

Gewiss sind es wie im November 1848 in Berlin so heute in Paris ökonomische Klassen, die miteinander ringen. Aber in beiden Fällen ist ein unnatürliches, das heißt den ökonomischen Machtverhältnissen nicht entsprechendes Übergewicht auf Seiten der rückständigen Klassen, weil sie über ein rückständiges, aber furchtbares Machtmittel, nämlich über das Heer, verfügen. Das Berliner Proletariat war durchaus auf dem richtigen Wege, als es im März 1848 die preußische Garde aus der Stadt jagte und die Volksbewaffnung durchsetzte. Dagegen verfiel die Berliner und überhaupt die preußische Bourgeoisie einer verhängnisvollen Verblendung, als sie sich einbildete, den Militarismus mit liebenswürdigen Schmeicheleien oder im äußersten Falle mit sanften Ermahnungen, wie dem bekannten Septemberbeschluss der Berliner Versammlung3, bändigen zu können. Dazu weiß er viel zu gut, dass er ein historisch-rückständiges Lebewesen ist, das seine Nahrung aus historisch-rückständigen Klassen zieht und deshalb diesen Klassen stets hold und gewärtig sein muss, wie es in den preußischen Offizierspatenten heißt. Wird er nicht von dem bürgerlichen Rechtsstaat entwaffnet, so erdrückt er durch seine eigene Wucht den bürgerlichen Rechtsstaat, eine Tatsache, die gerade dann schlagend hervortritt, wenn so armselige Patrone wie vor fünfzig Jahren in Berlin die Brandenburg und Wrangel oder heute in Paris die Generalstäbler die Kurbel der militärischen Maschine drehen.

Wenigstens so viel hatte die deutsche Bourgeoisie aus ihrem Schicksal in den Revolutionsjahren gelernt, dass sie ein paar Jahrzehnte lang eine sehr bestimmte Ahnung davon hatte, woran die Frage des bürgerlichen Rechtsstaats denn nun eigentlich hängt. Selbst ein so weit rechtsstehender Liberaler, wie Treitschke, führte noch in den sechziger Jahren aus, in England besitze das Parlament nur dadurch die politische Herrschaft, dass es die starke Hand über der Militärmacht des Landes halte, auf dem Kontinent sei das politische Schicksal der bürgerlichen Klassen überall in der Frage enthalten, wie sich Konstitutionalismus und Militarismus vereinigen ließen. Diese Stellung der Frage war allerdings eine echt liberale Halbheit, denn da sich Konstitutionalismus und Militarismus eben nicht vereinigen lassen, wie das englische Vorbild zeigt, so ist der Versuch, sie dennoch zu vereinigen, von vornherein mit gänzlicher Unfruchtbarkeit geschlagen; der Sieg bleibt dann immer da, wo die wirkliche Macht ist, nämlich beim Militarismus, wie wir das seit fünfzig Jahren wieder und wieder erfahren haben. Immerhin hatte die Bourgeoisie bis zu dem Deutsch-Französischen Kriege doch noch ein gewisses Bewusstsein des tatsächlichen Zusammenhanges; danach ist ihr auch dies Bewusstsein entschwunden, und seitdem die Blüte ihrer Jugend keinen höheren Ehrgeiz kennt, als ihre Frage an das Schicksal im schnarrenden Reserveleutnantstone zu stellen, treibt sie eine Äfferei, wie sie gleich grotesk sonst selten in den Klassenkämpfen der Geschichte zu finden sein mag.

Umso dringenderen Anlass hätte sie, aus der gegenwärtigen Krisis in Frankreich ein wenig zu lernen. Welche Torheit, wenn die liberalen Blätter sich damit brüsten, dass solche Dinge, wie sie sich gegenwärtig in Paris abspielen, in Berlin unmöglich sein würden. Diese Behauptung mag einen Schein von Wahrheit haben, wenn man den Dreyfus-Handel als einen isolierten Kriminalfall betrachtet, was freilich schon aus anderen durchsichtigen Gründen im Interesse der kapitalistischen Presse liegt; im übrigen aber hat der deutsche Militarismus ebenso schlimme oder noch schlimmere Sünden auf dem Gewissen, und gerade die deutschen Patrioten, die der Annexion Elsass-Lothringens so frenetisch zugejauchzt haben, sind am wenigsten zu Sittenrichtern über die Auswüchse des französischen Militarismus berufen. Stelle man sich doch einmal vor, dass im deutschen Reichstag ein Antrag eingebracht würde, er solle prinzipiell der Zivilgewalt den unbedingten Vorrang vor der Militärgewalt geben, so wird man alles mögliche erleben, nur nicht, dass der Reichstag den Antrag einstimmig annimmt, wie es die französische Kammer doch eben getan hat.

Also bleibe man mit allen großsprecherischen Redensarten hübsch zu Hause. Jeder Freund moderner Kultur muss wünschen, dass die Krisis in Paris den entgegengesetzten Ausgang nimmt, als vor fünfzig Jahren die Krisis in Berlin nahm; sonst aber lehrt die heutige wie die damalige Krisis, dass Franzosen wie Deutsche gar keinen Anlass haben, sich in lächerlichen Prahlhansereien zu überbieten, wohl aber den dringendsten Anlass, die furchtbare Geißel des Militarismus zu zerbrechen.

1 Das reaktionäre Dreiklassenwahlrecht war in Preußen nach der Verfassung von 1850 für die Landtagswahlen bis 1918 gültig; es beruhte auf einem indirekten System: Die Urwähler jedes Wahlbezirks wurden nach der Höhe der von ihnen entrichteten Steuern in drei Klassen eingeteilt, deren jede die gleiche Anzahl von Wahlmännern wählte, diese wählten die Abgeordneten.

2 Aus der Forderung nach einer Revision des Dreyfus-Prozesses erwuchs 1897 eine heftige Auseinandersetzung zwischen den progressiven und den reaktionären Kräften Frankreichs, die zu einer tiefgehenden politischen Krise des gesamten politischen Lebens führte und bis 1899 anhielt. In ihrem Verlauf setzten sich die bürgerlichen Republikaner gegen die antisemitisch und klerikal orientierte reaktionäre Militärpartei durch.

3 Nach blutigen Ausschreitungen preußischer Truppen in Schweidnitz hatte die preußische Nationalversammlung am 9. August 1848 zwei Resolutionen angenommen, in denen sie einmal den Kriegsminister aufforderte, allen Offizieren zu befehlen, sich jeder reaktionären Agitation zu enthalten, und zum anderen von den Offizieren verlangte, dass sie, sofern sie dazu nicht bereit wären, ihr Abschiedsgesuch einzureichen hätten. Diese Forderungen stießen auf den erbitterten Widerstand des Hofes und der Militärs. Da die Regierung ihre Verwirklichung hinausschob, kam es am 7. September zu einem erneuten Beschluss der Nationalversammlung über die baldige Ausführung der Resolutionen vom 9. August. Daraufhin trat am 10. September die Regierung Auerswald-Hansemann zurück; neuer Ministerpräsident wurde General Pfeul. Dieser ließ tatsächlich die Resolutionen der Nationalversammlung in der Armee bekanntgeben, die konterrevolutionäre Aktivität des preußischen Offizierskorps wurde dadurch jedoch in keiner Weise unterbunden.

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