Franz Mehring 18941003 Aus Molochs Reiche

Franz Mehring: Aus Molochs Reiche

3. Oktober 1894

[Die Neue Zeit, 13. Jg. 1894/95, Erster Band, S. 33-36. Nach Gesammelte Schriften, Band 8, S. 21-25]

Das böse Gewissen ist ein schlechter Ratgeber. Wenn es eine Tatsache gibt, die über jeden Zweifel erhaben ist und die auch dem blödesten Verstande längst eingeleuchtet haben sollte, so ist es der vollkommene Verzicht der Sozialdemokratie auf jede Agitation innerhalb des Heeres. Die Gründe für diesen Verzicht brauchen hier nicht ausführlich dargelegt zu werden; sie liegen auf der Hand und sind jedem noch halbwegs zurechnungsfähigen Gegner der Partei, geschweige denn jedem Parteigenossen längst bekannt. Sie sind deshalb nicht weniger stichhaltig, weil sie keineswegs irgendwelcher Ehrfurcht vor den Interessen Molochs entsprungen, sondern einfach durch das Interesse des Proletariats selbst gegeben sind.

Wären die herrschenden Klassen, wir sagen nicht eines gleich klaren Denkens, aber doch einer gewissen Umsicht fähig, so würden sie diese Sachlage annehmen, wie sie ist, und damit ihre bekannte Illusion zu begründen suchen, als ob das „herrliche Kriegsheer" außerhalb der historischen Entwicklung stünde, ein rocher de bronze, eine unerschütterliche Mauer oder wie die patriotischen Redensarten sonst noch lauten mögen. Statt dessen sehen wir sie in quälender Angst beflissen, das rote Gespenst an die Wände der Kasernen zu malen. Seit Jahren ist eine Reihe von Maßregeln getroffen worden, um das Eindringen des Sozialismus in das Heer zu verhindern, von der besseren Dotierung des Unteroffizierskorps als einer Stellvertreterschaft Gottes an bis zur militärischen Boykottierung der Wirtschaften, in denen Arbeiter verkehren. Zu den unglaublichsten Schritten, die in dieser Richtung getan worden sind, gehört die Verurteilung zu sechs Monaten Gefängnis, welcher der Redakteur des „Sozialdemokrat" verfallen ist, weil er, um die freisinnigen Hasenherzen zu verhöhnen, aus den Akten der vormärzlichen Demokratie eine groteske Hetzschrift gegen das Heer teilweise abgedruckt hatte. Es muss angenommen werden, dass sowohl das Land- wie das Reichsgericht, die das Urteil gefällt und bestätigt haben, in gutem Glauben gewesen sind, aber dann bleibt nur der Schluss übrig, dass die patriotische Sorge um Bewahrung des Heeres vor sozialdemokratischen Umtrieben sogar den Blick so hoher Gerichtshöfe in beklagenswerter Weise getrübt hat.

Diese melancholische Betrachtung wird unwillkürlich angeregt durch ein Ereignis, das die hiesige Bevölkerung in weit höherem Grade beschäftigt als aus den Zeitungen ersichtlich ist: durch die bei Nacht und Nebel erfolgte Verhaftung einer Elitetruppe des deutschen Heeres, eines Jahrgangs der Oberfeuerwerkerschule. Fast zweihundert erprobte Soldaten, die es schon zu Stellvertretern Gottes, will sagen Unteroffizieren gebracht hatten und denen als sogenannten Zeug-Offizieren die militärische Laufbahn bis zum Hauptmann offensteht, sind plötzlich aufgehoben und unter scharfer Bewachung in die Kasematten von Magdeburg gebracht worden. Es ist überflüssig, den verblüffenden Eindruck auszumalen, den ein solches Ereignis in dem strammsten Militärstaat der Welt hervorrufen muss. Und wie sehr man immer die widerliche Hetze verurteilen mag, die jedes sensationelle Vorkommnis sofort gegen die Arbeiterklasse ausbeutet, so war es in diesem Falle nicht gerade zu verwundern, wenn auch ganz brave Leute im ersten Augenblicke durch den Gedanken niedergeschmettert wurden: Hier ist also doch eine sozialdemokratische oder gar anarchistische Verschwörung im Heere entdeckt worden. Die Regierung erntete nun die Früchte ihrer eigenen Saat: Sie hatte so lange den Gedanken an eine sozialdemokratische Unterwühlung der militärischen Disziplin genährt, dass in sehr vielen Kreisen der Bevölkerung die Annahme, als habe eine Elitetruppe deutscher Berufssoldaten einen sozialdemokratischen Putsch geplant, als ganz selbstverständlich um sich griff. Und das will in einem Staate der allgemeinen Wehrpflicht etwas bedeuten.

Die Regierung erkannte alsbald den Bock, den sie geschossen hatte, und beeilte sich, offiziös zu erklären, dass die mit so gewaltigem militärischen Pomp in Szene gesetzte Verhaftung der 180 Oberfeuerwerker keineswegs durch hochverräterische oder sozialdemokratische oder anarchistische oder überhaupt politische Gründe veranlasst sei. Es liege nur ein ziemlich leichtes Disziplinarvergehen vor, eine Kundgebung gegen die straffere Disziplin, die ein neuer Direktor der Schule eingeführt habe; um die Rädelsführer und Teilnehmer an der Ausschreitung zu ermitteln, sei die Internierung des ganzen Jahrgangs als die zweckmäßigste Maßregel erachtet worden. Der abwiegelnde Zweck dieser Mitteilung passt nun aber gewissen Organen der bürgerlichen Hetzpresse durchaus nicht in den Kram; aus höchsteigener Machtvollkommenheit fahren sie fort, sozialdemokratische Umtriebe in der Oberfeuerwerkerschule zu entdecken, und so erleben wir das ergötzliche Schauspiel, dass die Regierung selbst sich schützend vor die „Partei des Umsturzes" stellen und ihre mehr noch tölpel- als boshaften Freunde abwehren muss, die namentlich in der „Nationalliberalen Korrespondenz" den Zwischenfall ebenso ausbeuten möchten, wie ihrerzeit die Attentate von Hödel und Nobiling1 ausgebeutet worden sind. Aber dies tragikomische Schicksal ereilt die Regierung nicht ohne eigene Schuld. Sie selbst hat durch nervöse Angst den Schein hervorgerufen, als wolle die Sozialdemokratie durch äußere Agitation besorgen, was die innere Dialektik des Militarismus viel gründlicher von selbst besorgt, und sie mag nun erkennen, dass ein böses Gewissen ein schlechter Ratgeber ist.

Ein böses Gewissen, denn so harmlos, wie das Kriegsministerium jetzt die Verhaftung der Oberfeuerwerker darstellen möchte, liegt sie allerdings wohl nicht. In den Tagesblättern ist schon auf einen analogen Fall hingewiesen worden, der sich vor etwa dreißig Jahren in Graudenz abgespielt hat: auf die Verhaftung einer ganzen Kompanie, die ihrem Hauptmann unter den Waffen den Gehorsam verweigerte. Es stellte sich damals heraus, dass der Hauptmann irrsinnig geworden war und die Kompanie durch die ausgesuchtesten Torturen bis über die Grenzen des Kadavergehorsams getrieben hatte, den der preußische Militarismus noch härter fordert als der römische Jesuitismus. Nun ist es aber eine etwas oberflächliche Analogie, wenn loyale Blätter aus dem früheren auf den jetzigen Fall folgern, dass solche Dinge „glücklicherweise sehr selten" in dem preußischen Heere vorkämen. Sehr viel näher liegt und sehr viel tiefer greift die Schlussfolgerung, dass, wenn in dem früheren Falle erst die unerhörtesten Quälereien eines geisteskranken Befehlshabers einen Widerstand in der Truppe hervorgerufen haben, auch in dem jetzigen Falle arge Dinge vorgekommen sein müssen, ehe es zu „Kundgebungen" der untergebenen Mannschaft kam. Die verhafteten Unteroffiziere sind seit Jahren auf der Waage des preußischen Militarismus gewogen und nicht zu leicht befunden worden, ehe sie in die Oberfeuerwerkerschule eintreten durften; es sind Leute von einer gewissen Bildung, Berufssoldaten, die mit verhältnismäßig günstigen Aussichten sich dauernd der militärischen Laufbahn widmen wollten, die sehr genau wussten, dass ihnen das kleinste „Disziplinarvergehen" ihre ganze Zukunft verderben konnte, und die sicherlich nicht aus bloßer Lust an einem „Talmi-Studententum", wie jetzt von offiziöser Seite behauptet wird, aus reinem Vergnügen am Kommersieren und Pokulieren sich zu Widersetzlichkeiten haben hinreißen lassen, über deren für sie furchtbaren Folgen sie sich unmöglich im unklaren befinden konnten. Da müssen noch ganz andere Dinge mitgespielt haben, und in einer Darstellung der Sache, welche die „Kreuz-Zeitung" aus den beteiligten Offizierskreisen veröffentlicht, schielt denn auch das böse Gewissen zwischen jeder Zeile hervor.

In dem Graudenzer Falle wurde die widerspenstige Mannschaft mit entsetzlicher Strenge bestraft; den Wahnsinn eines Wüterichs als mildernden Umstand gelten zu lassen widersprach Molochs barbarischen Geboten. Was sich aus der gegen die Oberfeuerwerker gerichteten Untersuchung entwickeln wird, das spielt sich hinter den verschwiegenen Mauern des heimlichen Militärgerichts ab. Die getroste Zuversicht der freisinnigen Presse, dass die Regierung „ganze und volle" Aufklärung über die Sache geben „müsse" und „werde", kann nur leichtfertige Selbsttäuschung teilen. Die Regierung wird das mitteilen, was sie für gut befindet, und was sie immer mitteilen mag, wird nichts als die einseitige Ansicht einer Partei sein. Wenn schon am grünen Holze der bürgerlichen Rechtspflege solche Dinge möglich sind, wie die vorhin erwähnte Verurteilung des „Sozialdemokrat", was soll man dann am dürren Holze des Militärgerichtsverfahrens erwarten, sobald die ureigensten Interessen des Militarismus ins Spiel kommen? Ein erschöpfendes Urteil über die Sache kann die Öffentlichkeit erst fällen, wenn sie beide Teile gehört hat; die Stimme des einen Teils wird in der Öffentlichkeit aber niemals gehört werden oder höchstens so, wie der andere Teil will, dass sie gehört werde. Nur Schlafmützen, die es gar nicht erwarten können, genasführt zu werden, und sich deshalb lieber gleich selbst nasführen, können von einer „Aufklärung" durch offiziöse oder auch offizielle Darstellungen faseln. Wäre vor dreißig Jahren an dem Menschenquäler von Hauptmann der Wahnsinn nicht so lichterloh ausgebrochen, dass er in ein Irrenhaus gesteckt werden musste, so wäre der Graudenzer Fall auch heute noch nicht „aufgeklärt".

Ganz so wie vor einem Menschenalter liegen die Dinge aber doch auch nicht mehr. Die Massen des Volkes haben seitdem, allerdings dank der sozialdemokratischen Agitation, ungleich schärfer denken gelernt, und Gedanken sind glücklicherweise auch im Deutschen Reiche noch zollfrei. Kein Ding in der heutigen Welt hat den Glauben an seine Unverwundbarkeit so notwendig wie der Militarismus; der Glaube daran ist in einem Zeitalter der allgemeinsten Wehrpflicht so gut wie die Sache selbst. Unter betäubendem Lärm fast zweihundert bis dahin vorwurfsfreie Männer in das Grabesschweigen der Kasematten zu werfen, als handle es sich um die schwersten Staatsverbrechen, und dann mit harmloser Miene zu erklären, tatsächlich handle es sich um einen beiläufigen Dummejungenstreich, das ist jene innere Dialektik des Militarismus, die sich selbst ins Absurde treiben muss. Solche Fälle, die jeder einzelne in all ihren Voraussetzungen und Schlussfolgerungen durchdenkt, als beträfen sie ihn selber, wie sie ihn denn selber betreffen können, nützen mehr, als die schönsten Reden gegen den Militarismus nützen können.

Das müsste schon ein rechter Hans Taps sein, der in diesen hoffnungsvollen Prozess mit vorwitzigem Übereifer eingreifen wollte. Die Sozialdemokratie ist so töricht nicht. Um so mehr steigert die nervöse Angst vor ihr Molochs selbstmörderisches Gebaren.

1 Bismarck suchte das Attentat Hödels am 11. Mai 1878 auf Wilhelm I. von Preußen zu nutzen, um sein Sozialistengesetz (siehe Anm. 18) im Reichstag durchzubringen. Dieser lehnte aber ab. Die Neuwahl des Reichstags stand unter der von Bismarck demagogisch erzeugten antisozialistischen Hysterie, zu der ein zweites Attentat – des Anarchisten Nobiling – am 2. Juni herhalten musste. Jetzt ging das Sozialistengesetz mit den ausschlaggebenden Stimmen der Nationalliberalen im Reichstag durch, obwohl die Sozialdemokratie mit den Attentaten nicht das mindeste zu tun hatte.

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