Franz Mehring 19040220 Die japanische Sache

Franz Mehring: Die japanische Sache

20. Februar 1904

[ungezeichnet, Leipziger Volkszeitung Nr. 42, 20. Februar 1904. Nach Gesammelte Schriften, Band 8, S. 64-66]

Unter den geistigen Waffen, womit die Bourgeoisie tagtäglich die Sozialdemokratie vernichtet, nimmt die Antisozialdemokratische Korrespondenz des Herrn Max Lorenz1 einen absonderlichen Platz ein. Der Herausgeber dieses Wisches hat einmal selbst unsrer Partei angehört, und davon ist ihm so viel hängengeblieben, dass er die ganz dummen Schlagworte, die sonst zum Hausbedarf der kapitalistischen Tintenkulis gehören, nicht gern gebraucht, nicht aus moralischen Skrupeln, denn davon ist er eher noch freier als seinesgleichen sonst, sondern weil er ihre gänzliche Wirkungslosigkeit kennt. Er arbeitet „staatsmännischer" und entdeckt alle Augenblicke die kompliziertesten Verschwörungen innerhalb unsrer Partei, was denn seinen Auftraggebern nicht wenig imponiert.

Seine neueste Leistung in diesem Genre ist ein mit staatsanwaltlichem Scharfsinn geführter Indizienbeweis dafür, dass die deutsche Sozialdemokratie mit ihrer Stellung zum japanisch-russischen Kriege nur die Geschäfte der englischen Regierung besorgt. Zu diesem Zwecke hat Herr Lorenz „Die Neue Zeit", den „Vorwärts" und die „Leipziger Volkszeitung" durchstöbert und dabei die Entdeckung gemacht, dass unser Londoner Korrespondent ein sehr feiner, uns deutschen Eseln weit überlegener Kopf sei, der uns nach allen Regeln der Kunst einseife, seinerseits aber im Interesse des englischen Kapitals arbeite. Leider hindert uns der Mangel an Raum, die famose Leistung niedriger zu hängen; man kann sie in den Scharfmacherblättern finden, die im höchsten Grade über diese neueste Enthüllung aus dem sozialdemokratischen Lager entzückt sind.

Jedoch so verwünscht gescheit sie im Übrigen ist, so berührt sie einen Punkt, der in den bisherigen Erörterungen unsrer Presse nicht genügend klargestellt worden ist. Es herrscht nicht nur in der deutschen, sondern auch in der europäischen Sozialdemokratie die vollkommenste Übereinstimmung darüber, dass der Sieg Russlands verhängnisvoll für die Sache des internationalen Sozialismus sein würde, dagegen sind über die Stellung des Proletariats zu dem andern kriegführenden Teile sozialistische Ansichten laut geworden, die allerdings mehr in der Form als in der Sache voneinander abweichen. Während die einen den japanischen Imperialismus mit seinen ausgreifenden Tendenzen ebenso scharf verurteilen wie die gleichen Tendenzen der russischen Eroberungspolitik, sagen die andern, dass Japan die Kultur gegenüber der Barbarei des Zarismus vertrete. Wenn wir sagen, dass diese Ansichten mehr in der Form als in der Sache auseinandergehen, so meinen wir, dass jede von beiden ein Stück Wahrheit enthält, wenn auch keine von beiden die ganze Wahrheit.

Von einem japanischen Imperialismus kann man insofern nicht sprechen, als der Imperialismus die letzte Herrschaftsform der Bourgeoisie ist, während Japan erst im Anfange der kapitalistischen Entwicklung steht. Aber die kapitalistische Produktionsweise braucht auch schon in ihren Anfängen einen weiten Ellenbogenraum; sie braucht Absatzmärkte für ihre Waren, und der japanische Kapitalismus würde sozusagen in der Geburt erdrosselt werden, wenn ihm der chinesische Absatzmarkt gesperrt würde und speziell Russland ihm durch die Besetzung Koreas und der Mandschurei sozusagen die Tür vor der Nase zuschlüge. Nimmt man einmal die kapitalistische Produktionsweise als die ewige, natürliche, von Gott und der Menschheit sanktionierte Produktionsweise an – und das tut ja die gesamte Bourgeoisie –, so kämpft Japan allerdings einen sogenannten heiligen Krieg um seine Existenz.

Vom Standpunkt der Bourgeoisie ist dieser Krieg um so heiliger, als Japan sich ja gar nicht zu den Segnungen der kapitalistischen Produktionsweise gedrängt hat, sondern sie ihm vom amerikanischen und europäischen und speziell auch deutschen Kapitalismus aufgedrängt worden sind. Die internationale Großindustrie hat sich vor fünfzig Jahren mit sanfter Gewalt die japanischen Häfen geöffnet, und wenn sie dabei auch nur die Absicht hatte, sich das Gebiet der gelben Rasse als einen gewaltigen Absatzmarkt für ihre Produkte zu eröffnen, so kann sie sich doch nicht darüber beklagen, dass die Japaner ihrerseits den Spieß umgedreht und vorgezogen haben, statt ein willenloses Ausbeutungsobjekt zu bleiben, wie es China noch ist, sich selbst zu einem gefürchteten und vielleicht auch furchtbaren Konkurrenten ihrer Wohltäter zu machen. Es ist natürlich eine Albernheit allerersten Ranges, wenn profitwütige Organe der Bourgeoisie, wie das „Berliner Tageblatt", die Niederlage der Japaner wünschen, weil diese biedern Asiaten sehr schnell gelernt haben, die europäischen Kapitalisten übers Ohr zu hauen.

Bei solcher Lage der Dinge darf man allerdings den sogenannten japanischen Imperialismus nicht in einen Topf mit dem Zarismus werfen. Solange die kapitalistische Produktionsweise besteht, kämpft Japan gegen Russland mit einem historischen Rechte, das über dem nackten Raubsystem des Zarismus steht; Japan will eignen Reichtum produzieren, während der Zarismus nur den Reichtum andrer Leute zu eskamotieren weiß. Er ist ein organisiertes Raubsystem, das sich nur dadurch aufrechtzuerhalten vermag, dass es seine räuberischen Tatzen immer weiter ausstreckt, und das in sich zusammenbrechen muss, sobald es auf eine Schranke stößt, wo es heißt: bis hierher und nicht weiter. Ziehen ihm die Japaner diese Schranke, so erwerben sie sich ein großes Verdienst um die zivilisierte Menschheit, auch wenn sie es nur aus eigenem Interesse tun.

Auf der andern Seite aber ist es übertrieben zu sagen, dass die Japaner die Kultur gegenüber dem räuberischen Zarismus vertreten. Sie vertreten nur die kapitalistische Kultur, gegen die wir, wie bekannt, außerordentlich viel einzuwenden haben und für die wir uns an und für sich in keiner Weise begeistern können. Allein es ist auch ganz überflüssig, in den großen Völkerkämpfen mit Sympathien oder Antipathien zu arbeiten; die wollen wir vielmehr in den Silberschrank stellen und nur darauf achten, was aus dem Russisch-Japanischen Krieg für den proletarischen Emanzipationskampf herausspringen kann und muss.

Da ist denn das erste und unbedingteste Erfordernis die Niederlage des Zarismus. Nicht als ob mit dem Niederreißen dieser dumpfen Mauer, die heute den Fortschritt aller menschlichen Kultur hemmt, schon das Tor zum irdischen Paradiese gesprengt wäre! Aber es wäre dann ein weites Blachfeld geöffnet, auf dem die Heersäulen des internationalen Proletariats einmal wieder entscheidende Schlachten schlagen können und werden.

1 F. R. Max Lorenz (geb. 1841) war 1892-1896 Mitglied der Sozialdemokratischen Partei, wurde zum Renegaten und lebte von klerikalen und antisozialdemokratischen Artikeln in konservativen Zeitungen. 1897-1904 war er ständiger Literatur- und Theaterreferent der „Preußischen Jahrbücher". Als eigenes Organ gab er die „Antisozialdemokratische Korrespondenz" heraus. (Korrespondenzen waren laut Gesetz von 1874 von der Pressgesetzgebung ausgenommen.)

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