Franz Mehring 19090109 Die Theorie vom Kriegsherrn

Franz Mehring: Die Theorie vom Kriegsherrn

9. Januar 1909

[Die Neue Zeit, 27. Jg. 1908/09, Erster Band, S. 561-564. Nach Gesammelte Schriften, Band 8, S. 201-205]

Das neue Jahr hat eine Überraschung gebracht, die für jeden Kenner der preußisch-deutschen Geschichte eigentlich keine Überraschung hätte sein dürfen: Das Offizierskorps hat seine Stellung genommen zu der neuen Wendung der Dinge, die seit der Novemberkrise in Deutschland eingetreten sein soll, und es hat dem Kaiser, dem Reichskanzler und Reichstag unzweideutig abgesagt hatten, noch viel unzweideutiger sein Vertrauen bekundet, was nicht sowohl bedeutet, dass es ihm wirklich Vertrauen spendet, als dass im preußisch-deutschen Militärstaat aller konstitutionelle Firlefanz nichts zu sagen haben soll.

Darauf und auf nichts anderes läuft die Szene hinaus, die sich am Tage nach Neujahr zwischen dem Kaiser und den kommandierenden Generalen abgespielt hat. Im Sinne eines Aufsatzes, der von dem Grafen Schlieffen, dem ehemaligen Generalstabschef des deutschen Heeres, in einer bürgerlichen Monatsschrift veröffentlicht worden ist und unter der Form militärisch-technischer Betrachtungen die internationale Lage des Reiches in düsteren Farben schildert1, Um als letzte Hilfe die geschlossene Einheit eines mächtigen Heeres unter der Führung seines Kriegsherrn anzurufen, hat der Kaiser zu den Generalen gesprochen und von ihnen das Bekenntnis unerschütterten Vertrauens empfangen. Das war ein Schuss, der dem „siegreichen" Reichskanzler – um ein geflügeltes Wort Bismarcks zu gebrauchen – nicht dicht am Rücken vorbeistreifte, sondern unmittelbar in den Rücken traf.

Nachdem dieser Schuss seine Wirkung erreicht hat, liegt es nicht nur im Interesse derer, die er getroffen hat, sondern auch im Interesse derer, die ihn abgefeuert haben, dass so getan wird, als sei eigentlich nichts geschehen. Der „Reichsanzeiger" veröffentlicht das übliche Dementi: Die Äußerungen des Kaisers seien nicht für die Öffentlichkeit bestimmt gewesen und hätten nicht den Gegenstand öffentlicher Kritik bilden dürfen. Der Kaiser habe sich mit den Generalen lediglich über militärische Fragen unterhalten im Anschluss an eine kürzlich erschienene akademische Studie über die Gestaltung des modernen Krieges und die Einwirkung der neuzeitlichen Waffen auf das Gefecht; die politischen Ausblicke und Gedanken dieser Studie habe der oberste Kriegsherr gar nicht berührt.

Offiziöse Berichtigungen sind längst übel berüchtigt, aber törichter als diese hat es kaum jemals eine angefangen. Sogar die „Deutsche Tageszeitung" kann nicht umhin zu bemerken, die politischen Ausführungen des Schlieffenschen Aufsatzes nähmen einen so breiten Raum ein und seien auf einen derartigen Ton gestimmt, dass man sie vielleicht für die Hauptsache erachten könnte. Und selbst wenn der Kaiser kein Wort über die politische Seite der „akademischen Studie" geäußert und sie nur wegen ihrer militärischen Seite den kommandierenden Generalen ans Herz gelegt hätte, so wäre es eben das gewesen. Denn die beiden Seiten waren in diesem Falle gar nicht zu trennen, und man könnte fast auf den Verdacht geraten, der Verfasser hätte seine Betrachtungen von vornherein auf die Möglichkeit zugeschnitten, die nunmehr eingetreten ist, dass die militärische Hülle vorgeschützt werden könne, um den politischen Inhalt zu verleugnen.

Noch naiver ist das offiziöse Gestammel darüber, dass die Äußerungen des Kaisers nicht für die Öffentlichkeit bestimmt gewesen seien und nicht den Gegenstand öffentlicher Kritik hätten bilden dürfen. Als ob auch nur eine Silbe davon an die Öffentlichkeit gedrungen wäre, wenn es nicht der ganze Zweck der Übung gewesen wäre, sie an die Öffentlichkeit zu bringen und den „Siegern" des 17. November einzubläuen: Wir, nämlich das Offizierskorps, sind auch noch da und haben ein Wörtchen mitzureden. Man braucht dem „höchsten und intimsten militärischen Kreise", wie das Brotwucherorgan die Gesamtheit der kommandierenden Generale nennt, noch lange nicht als der geistigen Elite der Nation zu huldigen, und man darf ihm doch zutrauen, dass er zu reden und zu schweigen weiß, je nachdem es in seinem Interesse liegt, zu reden oder zu schweigen. Und nun gar die offiziöse Forderung, dass Unterhaltungen des Kaisers mit kommandierenden Generalen nicht Gegenstand der öffentlichen Kritik sein dürfen! Die Nation soll in ehrfurchtsvollem Schweigen verharren, wenn der Kaiser mit den Führern des Heeres, das sie aus ihrer Tasche ernährt, seine Beratungen pflegt; sie ist noch immer die misera contribuens plebs2, der Pöbel, der Blut und Gut zu zollen, aber nicht mitzureden hat, wenn es sich um seine Lebensinteressen handelt. Solche Interessen stehen auch schon bei „lediglich militärischen Fragen" auf dem Spiel, im eigentlichen wie im übertragenen Sinne des Wortes. Hat doch Bismarck selbst die moderne Arbeiterfrage eine „lediglich militärische Frage" genannt!

Jedoch man darf den offiziösen Beschwichtigungshofräten nicht die Anerkennung versagen, dass sie ihre Pappenheimer kennen. Sie wissen aus alter Erfahrung, dass ihr Gerede um so leichter Glauben findet, je dümmer es ist, und so ist es auch gerade der sinnloseste Teil ihrer neuesten Leistung, in den sich die bürgerliche Presse am eifrigsten verbeißt. Von der „Frankfurter Zeitung" bis zur „Kreuz-Zeitung" verlangt sie „strenge Untersuchung" gegen die Urheber der „Indiskretion", durch die das Vertrauensvotum des Offizierskorps in die Öffentlichkeit gelangt ist, mit dem kleinen Unterschiede nur, dass die bürgerlich-demokratischen Blätter sich dazu aufschwingen, die Untersuchung gegen die „militärischen Kanäle" zu fordern, während die konservative Presse sie bescheidener, aber ehrlicher nur gegen „untergeordnete Personen in der kaiserlichen Umgebung" gerichtet haben will. Darin jedoch ist die ganze bürgerliche Gesellschaft von der äußersten Linken bis zur äußersten Rechten einig, dass die Öffentlichkeit sich nur über die angebliche „Indiskretion" beschweren darf, die die „geheime Konferenz des Kaisers mit seinen Generalen über militärische Fragen" ans Tageslicht gefördert hat, aber dass sie nicht das geringste Interesse oder Recht hat, sich um den Inhalt solcher Konferenzen zu bekümmern.

Die bürgerlichen Parteien bekennen sich damit noch heute zu der Theorie, die Lassalle schon vor nahezu fünfzig Jahren bis aufs Blut gegeißelt hat, zu der Theorie nämlich, dass der König zu dem Heere eine ganz andere Stellung habe als zu jeder anderen Staatseinrichtung, dass er in Bezug auf das Heer nicht nur König, sondern auch noch etwas ganz anderes, ganz Besonderes, Geheimnisvolles und Unbekanntes sei, wofür man das Wort „Kriegsherr" erfindet, und dass infolgedessen die Nation sich um das Heer gar nicht zu bekümmern und in dessen Angelegenheiten und Organisation nicht hineinzusprechen, sondern nur die Gelder dafür zu bewilligen habe. Und Lassalle hat auch gesagt, was diese Theorie bezweckt: „Sowie nun erreicht ist, dass der König alle Stellen im Heere besetzt und das Heer eine besondere Stellung zu ihm einnimmt, sowie dies erreicht ist, hat der König ganz allein nicht nur ebenso viel, sondern zehnmal mehr politische Macht als das ganze Land zusammengenommen, und zwar selbst dann, wenn in Wahrheit die wirkliche Macht des Landes zehn-, zwanzig- und fünfzigmal so groß wäre wie die Macht des Heeres." Lassalle löst diesen scheinbaren Widerspruch durch den Nachweis, dass selbst die weit größere, aber nicht organisierte Macht der Nation in jedem Augenblick niedergeschlagen werden könne durch das geringere, aber organisierte Machtmittel des Königs, durch das Heer.

Diese Theorie von dem Kriegsherrn, deren grundsätzliche und rückhaltlose Verleugnung das erste Wort jedes Konstitutionalismus sein muss, wird heute von der Presse aller bürgerlichen Parteien grundsätzlich und rückhaltlos anerkannt, womit über alle konstitutionellen Garantien, die schon geschaffen worden sind oder noch geschaffen werden sollen, der Stab gebrochen ist. Erkennt die bürgerliche Opposition die Theorie vom Kriegsherrn an, dann hätte sie sich den ganzen Spektakel vom vorigen November sparen können, dann sind all ihre großen Worte gegen das persönliche Regiment nutzlos verknalltes Pulver gewesen. Die Vertrauenskundgebung der kommandierenden Generale an den Kaiser war die Probe auf den Eifer und den Ernst, womit die bürgerliche Opposition ihre Sache verficht, und elender als diese ist noch nie eine Probe bestanden worden.

So hat die Kundgebung der kommandierenden Generale die Lage der Dinge in dankenswerter Weise geklärt; es hieße die reine Vogel-Strauß-Politik treiben, wenn man sich diese Klärung wieder durch irgendwelche beschwichtigende Redensarten trüben ließe. An solchen Redensarten lässt es selbst der preußische Militärstaat nicht fehlen, denn er hat gar kein Interesse daran, durch seine nackte Brutalität den nationalen Widerstand zu reizen; ihm sind scheinkonstitutionelle Formen ganz recht, da er unter ihrer täuschenden Hülle um so ausgiebiger wirken kann. Nur wenn sich die scheinkonstitutionelle Rednerei gar zu hitzig übertreibt, erinnert er durch ein kräftiges Wörtlein daran, dass er auch noch da ist und in letzter Instanz das entscheidende Wort hat. Mit der Wirkung seines neuesten Schusses darf er durchaus zufrieden sein; man kann nicht einmal sagen, dass er die bürgerliche Opposition ins Mauseloch zurückgejagt hat, denn das hieße die wohlwollende Unterstellung machen, dass sie je daraus hervorgekommen sei; sie piepst vielmehr noch seelenvergnügt in demselben Mauseloch, worin sie schon vor fünfzig Jahren saß.

Wenn sie sich aber mit den wohlfeilsten Redensarten gern beschwichtigen lässt, so wird die proletarische Opposition sich um so gründlicher die erste politische Lehre des neuen Jahres merken. In der Theorie des Kriegsherrn verkörpert sich das gemeingefährliche Hindernis des modernen Kulturstaats. Wir deuteten schon an, dass mit der Vertrauenskundgebung der kommandierenden Generale an den Kaiser keineswegs gesagt sei, dass die Generale wirklich die Politik billigten, die der Kaiser in den letzten Jahren getrieben hat; die Vorfahren des Kaisers haben oft genug sehr deutliche Misstrauensvota ihrer Generale erhalten und sich dann hübsch nach der Decke zu strecken gewusst. Eben hierin bekundete sich aber erst recht der Anspruch des Offizierskorps, dass in letzter Instanz nach seiner Pfeife getanzt werden müsse, ein Anspruch, den die Generale diesmal in ein Vertrauensvotum für den Kaiser übersetzten, weil durch das Misstrauen der Nation gegen die Politik des Kaisers die Möglichkeit konstitutioneller Einrichtungen näher gerückt erschien.

Nichts lächerlicher als die Behauptung, dass es in Deutschland keine „politischen Generale" geben soll. Das ganze Offizierskorps ist eine Organisation, um einen Militärstaat aufrechtzuerhalten, der mit allen Bedürfnissen und Forderungen moderner Kultur im schreiendsten Widerspruch steht. Hieran zu erinnern, haben die kommandierenden Generale von ihrem Standpunkt für angezeigt gehalten, was zwar nur von ausgemachten Toren als harmloser Scherz betrachtet werden kann, aber immerhin auch von denen nicht getadelt zu werden braucht, die sich den richtigen Vers darauf zu machen wissen.

1 Alfred von Schlieffen: Der Krieg in der Gegenwart. Zuerst veröffentlicht in: Deutsche Revue (Stuttgart, Leipzig), Januar 1909.

2 misera contribuens plebs (lat.) – die elende wehr- bzw. steuerpflichtige Masse.

Kommentare