Franz Mehring 19030127 Ein praktischer Erfolg

Franz Mehring: Ein praktischer Erfolg

27. Januar 1903

[ungezeichnet, Leipziger Volkszeitung, Nr. 21, 27. Januar 1903. Nach Gesammelte Schriften, Band 8, S. 52-54]

Seit einiger Zeit hat Jean Jaurès in Frankreich eine lebhafte Agitation gegen die Revancheidee unternommen. Es versteht sich, dass wir diesem Feldzug sympathisch gegenüberstehen, wenngleich es uns nicht gegeben ist, darüber in die überschwänglichen Lobeshymnen auszubrechen, die wir in andern Parteiblättern finden. Jaurès tut damit nicht mehr, als was die deutsche Sozialdemokratie seit dreißig Jahren unablässig getan hat, indem sie den nationalen Vorurteilen der deutschen Bourgeoisie entgegentrat und die sogenannte Annexion Elsass-Lothringens bei ihrem richtigen, und zwar deutschen Namen nannte.

Die deutsche Partei hat diesen Standpunkt unter mindestens ebenso schwierigen und teilweise viel schwierigeren Verhältnissen vertreten, als ihn Jaurès in Frankreich vertritt. Wenn also ein französischer Sozialdemokrat das tut, was für alle Sozialdemokraten, was für jeden von uns verdammte Pflicht und Schuldigkeit ist, so brauchen wir ihn deshalb doch nicht als neuen Säkularmenschen zu feiern. All das aufgeregte Wesen hat überhaupt gar keinen Zweck, am wenigsten, wenn über dem ewigsten Bombast die einfachsten und klarsten Parteiprinzipien vergessen werden.

Diese Betrachtungen werden uns nahegelegt durch die Kommentare deutscher Parteiblätter zu der Friedensrede, die Jaurès eben in der französischen Kammer gehalten hat. Als rednerische Leistung mag sie sehr gut gewesen sein, aber von irgendwelchen sozialistischen Prinzipien ist nichts darin zu spüren. So wie sie Jaurès gehalten hat, hätte sie von dem ersten besten bürgerlichen Friedensschwärmer gehalten werden können. Das Hauptargument, das Jaurès vorbrachte, dass nämlich der dreißigjährige Frieden, der nunmehr in Europa bestehe, abgesehen von dem Russisch-Türkischen Krieg1, die allgemeine Friedenssehnsucht beweise, hat das würdige Alter von fünfzig Jahren auf dem Rücken und ist zuerst von einem bürgerlichen Friedensschwärmer geäußert worden, von Buckle, dem Historiker des Manchestertums, in seiner Geschichte der englischen Zivilisation. Es war genau dieselbe Argumentation, bis auf die eine Ausnahme des Russisch-Türkischen Kriegs, die auch Buckle in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts machen musste, um zu beweisen, dass wir seit fast vierzig Jahren einen europäischen Frieden gehabt hätten, und daraus zu folgern, dass der kriegerische Geist allmählich erlösche. Kaum war die Tinte trocken, mit der Buckle diese flach-liberale Weisheit niedergeschrieben hatte, als der Italienisch-Österreichische Krieg ausbrach, und dann der Dänisch-Deutsche2 und dann der Preußisch-Österreichische und endlich der Deutsch-Französische Krieg. Wir wünschen aufrichtig, dass Jaurès nicht ebenso grausam wie sein Vorbeter Buckle von der historischen Dialektik ad absurdum geführt werde.

Es versteht sich, dass ganz andere Ursachen als die angebliche Schwindsucht des kriegerischen Geistes angeführt werden müssen, wenn erklärt werden soll, weshalb Frankreich und Deutschland sich seit 1871 nicht wieder in die Haare geraten sind. Für die herrschenden Klassen beider Länder – und um diese handelt es sich natürlich allein – lag einfach der Knüppel beim Hunde. Hätten sie es mit einiger Sicherheit des Erfolges wagen können, dann hätten wir längst den Krieg gehabt. Es ist sehr liebenswürdig, obschon für einen Sozialdemokraten etwas seltsam, dass Jaurès die Sache des deutschen Molochs mit einer gewissen Nachsicht beurteilt. Selbstverständlich sind die herrschenden Klassen in Frankreich, die 1871 die Partie verloren hatten, kriegseifriger gewesen als die herrschenden Klassen in Deutschland, die froh sein konnten, wenn sie ihren Raub ruhig ausbauen durften. Aber trotzdem ist der deutsche Moloch nicht das harmlose Lamm gewesen, das Jaurès in ihm sieht. Im Jahre 1875 hat zwar nicht Bismarck, aber allerdings die deutsche Militärpartei mit Moltke an der Spitze den Krieg gegen Frankreich sehr ernsthaft betrieben, und im Jahre 1887 hat Bismarck in der frivolsten und nichtswürdigsten Weise das Kriegshorn gegen Frankreich geblasen in der – leider auch erreichten – Absicht, die deutsche Arbeiterklasse noch drei Jahre länger mit dem Sozialistengesetze schinden und schaben zu können.

Es gibt nur eine Bürgschaft des kommenden Weltfriedens: das Wachstum und den endlichen Sieg des klassenbewussten Proletariats. Statt dessen begrüßt Jaurès den Zweibund wie den Dreibund3 als die Vorboten des allgemeinen Friedens, und redet ihnen gütlich zu abzurüsten. Mit demselben Erfolge könnte er zwei Löwen plausibel machen, dass sie sich ihre Zähne ausbrechen und ihre Klauen abschneiden lassen müssten, um sich hinfort redlich von Feldfrüchten zu nähren. Es gibt nur eine Lösung der elsass-lothringischen Frage: die Herrschaft des klassenbewussten Proletariats jenseits und diesseits der Vogesen. Das mag für die französische Bourgeoisie eine bittere Wahrheit sein, aber eine Wahrheit ist es deshalb nicht weniger. So entschieden die deutsche Sozialdemokratie ihrerzeit gegen die Annexion Elsass-Lothringens protestiert hat, so entschieden würde sie gegen einen neuen Krieg protestieren, der den Zweck hätte, Elsass-Lothringen wieder den herrschenden Klassen Frankreichs zu sichern. Nun ist aber ohne die Aussicht auf den Wiedergewinn Elsass-Lothringens der französischen Bourgeoisie der Verzicht auf die Revancheidee nicht schmackhaft zu machen. So hilft sich Jaurès damit zu sagen, im Fall einer allgemeinen und gleichzeitigen Abrüstung würden die Elsass-Lothringer ihr französisches Vaterland wiederfinden. Wie das gemacht werden soll, hütet Jaurès als sein Geheimnis; einstweilen darf man zweifeln, ob sich auch nur in der Rede bürgerlicher Friedensschwärmer eine gleich hohle Phrase auftreiben lässt.

Wir sind darauf gefasst, dass man uns wieder „verbissenen Doktrinismus" etc. vorwerfen, dass man sagen wird, Jaurès habe als „Praktiker" gehandelt. Sehen wir uns nun einmal die Früchte dieser „Praxis" an! Die „Frankfurter Zeitung" lässt sich aus Paris telegraphieren: „Die Rede wurde bei jedem Satze von Beifallssalven begleitet… Als Jaurès geendet, erhebt sich die gesamte Linke und ein Teil des Zentrums, und ein langer unbeschreiblich begeisterter Applaus durchbraust den Saal." Das sieht nach etwas aus, aber dann erklärt der Kriegsminister: Um den Frieden zu erhalten, muss man bis an die Zähne gerüstet sein, und diese Erklärung bestätigt die Kammer, wie zwanzig Zeilen weiter in der „Frankfurter Zeitung" gemeldet wird, mit 453 gegen 57 Stimmen. Gerade nur die sozialistischen Stimmen bleiben bei Jaurès; mit all seiner Beredsamkeit hat er auch nicht eine einzige Bourgeoisstimme in einer übrigens rein platonischen Abstimmung gewonnen. Dieser „praktische" Erfolg ist auch sehr erklärlich. Was kann der Bourgeoisie angenehmeres und bequemeres passieren, als wenn ein sozialistischer Führer sich in bürgerlichen Schwärmereien über den ewigen Frieden ergeht? Da schreit sie sich vor Beifall die Kehle heiser. Aber ebendeshalb denkt sie nicht im Traum daran, praktisch, wie sie in ihrer Weise allerdings ist, eine so ungefährliche Gegnerschaft auch nur mit dem kleinsten Zugeständnis zu respektieren. Leider aber haben solche Reden, wie Jaurès deren eben eine gehalten hat, doch einen praktischen Erfolg. Sie verwirren die mühsam gewonnene Erkenntnis über das Wesen des Militarismus, die sich im internationalen Proletariat durchgesetzt hatte, und zerstören damit die einzige reelle Bürgschaft des Weltfriedens, die es unter den heutigen Verhältnissen überhaupt gibt. Es tut uns leid, zu diesem praktischen Erfolge weder Jaurès noch seine Bewunderer beglückwünschen zu können.

1 Gemeint ist der (sechste) Russisch-Türkische Krieg 1877/1878.

2 Im April 1859 begann der Krieg Sardinien-Piemonts und Frankreichs gegen Österreich, der in Italien neue nationalrevolutionäre Bewegungen auslöste. Nach mehreren österreichischen Niederlagen unterzeichnete Napoleon III. am 12. Juli 1859 in Villafranca aus Furcht vor dem Anwachsen der Volksbewegung einen Waffenstillstand mit Österreich, und im Frieden von Zürich (10. November 1859) fiel nur die Lombardei an Sardinien. (Siehe auch Anm. 161.)

Die faktische Annexion Schleswigs durch die Verkündung der Gesamtstaatsverfassung für Dänemark und Schleswig (1863), wobei an die Stelle des Hauses Oldenburg das Haus Glücksburg trat, verschärfte die deutsch-dänischen Spannungen in der Schleswig-Holstein-Frage und führte Anfang 1864 zum Krieg Preußens und Österreichs gegen Dänemark. Im Wiener Frieden (1864) musste Dänemark auf Schleswig, Holstein und Lauenburg verzichten.

3 Zweibund – gemeint ist hier die russisch-französische Militärkonvention von August 1892 (1893).

Dreibund – das zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien am 20. Mai 1882 abgeschlossene, immer erneut, zuletzt 1912 verlängerte geheime Bündnis.

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