Franz Mehring 19040125 Eine formale Frage

Franz Mehring: Eine formale Frage

25. Januar 1904

[ungezeichnet, Leipziger Volkszeitung Nr. 19, 25. Januar 1904. Nach Gesammelte Schriften, Band 8, S. 55-57]

Bei der Forderung des Nachtragsetats für die Niederwerfung des Herero-Aufstandes1 hat sich die sozialdemokratische Reichstagsfraktion bekanntlich der Stimme enthalten. Daran hat sich eine Pressdiskussion geknüpft, die uns einige orientierende Bemerkungen nötig zu machen scheint.

Die „Berliner Zeitung" begann den Reigen, indem sie in der Haltung der Fraktion eine Schwenkung der sozialdemokratischen Kolonialpolitik erblickte und dies erste Anzeichen des praktischen „Revisionismus" von ihrem Standpunkt aus freudig begrüßte. Hierauf erwiderte der „Vorwärts", das sei ein Ausfluss jener unverbesserlichen Halluzination, an der die „Berliner Zeitung" leide; die sozialdemokratische Fraktion sei mit ihrer Stimmenthaltung den Überlieferungen der Partei treu geblieben; so auch hätten sich Bebel und Liebknecht im Sommer 1870 bei der Forderung der Kriegsanleihe der Stimme enthalten, weil sie weder die Politik Bismarcks noch die Politik Bonapartes hätten billigen können. Worauf dann wieder die „Berliner Zeitung" replizierte, das sei eine ganz andere Sache; im Jahre 1870 hätte es sich um die Verteidigung des vaterländischen Bodens gehandelt, also um eine Frage, deren prinzipielle Berechtigung die Partei niemals bestritten habe. Dagegen habe sie die Kolonialpolitik stets prinzipiell verworfen, und wenn sie sich jetzt bei einer Forderung, die eine Konsequenz dieser Politik sei, der Abstimmung enthalte, so sei das allerdings ein halbes Verlassen ihres grundsätzlichen Standpunktes.

Man muss gestehen, dass die „Berliner Zeitung", mit wie großem Rechte man auch sonst über ihre unverbesserlichen Halluzinationen spotten mag, mit dieser Replik gegen den „Vorwärts" die Logik auf ihrer Seite hat. Soll die Stimmenthaltung der sozialdemokratischen Fraktion mit der Stimmenthaltung Bebels und Liebknechts im Jahre 1870 auf dieselbe Stufe gestellt werden, so hat die Fraktion allerdings einen schweren Verstoß gegen die bisherige Prinzipienpolitik der Partei begangen, so hätte sie mittelbar die Kolonialpolitik als solche anerkannt. Bebel und Liebknecht enthielten sich im Sommer 1870 nicht deshalb der Abstimmung, weil sie prinzipiell die Pflicht der Arbeiterklasse bestritten, den vaterländischen Boden gegen ausländische Feinde zu schützen, sondern weil in diesem besonderen Falle der Angriff in letzter Instanz von deutscher Seite herausgefordert worden war, weil man die aggressive Politik Bonapartes nicht verurteilen konnte, ohne die aggressive Politik Bismarcks zu billigen. Es handelte sich also um eine Tatfrage, die das Prinzip als solches gar nicht berührte. Bebel selbst hat dies Prinzip später in der allerschwersten Zeit des Sozialistengesetzes, als es nicht nur von anarchistischer Seite, sondern auch von einzelnen Mitgliedern der Partei angefochten wurde, sehr energisch verteidigt, indem er ausführte, dass auch die Arbeiterklasse ein lebhaftes Interesse an der nationalen Unabhängigkeit habe und jedem bewaffneten Angriff auf diese Unabhängigkeit mit bewaffneter Hand entgegentreten müsse. Bekanntlich haben sich im Sommer 1870 auch nicht alle sozialdemokratischen Abgeordneten der Abstimmung enthalten, sondern ihre Mehrzahl hat für die Bewilligung der Kriegsanleihe gestimmt, weil sie die Tatfrage anders auffasste als Bebel und Liebknecht. Und wenn wir heute auch sagen dürfen, nach allem, was inzwischen über die Entstehung des Deutsch-Französischen Krieges bekannt geworden ist, dass Bebel und Liebknecht die Tatfrage richtiger beurteilt haben als die Schweitzer, Mende, Fritzsche und Hasenclever, so kann diesen doch nicht der Vorwurf eines prinzipwidrigen Verstoßes gemacht werden und ist ihnen auch nicht gemacht worden.

Man sieht also: Der Vergleich der neuesten mit der damaligen Stimmenthaltung ist vollkommen deplatziert. Träfe er zu, hätte sich die Fraktion der Stimme enthalten unter der Begründung, die Hereros sind zwar die Angreifer, aber die deutsche Kolonialpolitik hat diesen Angriff herausgefordert, so wäre darin allerdings eine prinzipielle Anerkennung der Kolonialpolitik enthalten, insoweit sie sich nur nicht im einzelnen zu ungerechten Handlungen hinreißen lässt. Allein dies ist nicht der Sinn gewesen, aus dem heraus die sozialdemokratische Fraktion sich der Abstimmung enthalten hat. Bebel hat als ihr Sprecher ausdrücklich erklärt, dass ihre prinzipielle Haltung gegenüber der Kolonialpolitik dieselbe bleibe; er hat das Recht der Hereros, ihren Boden gegen auswärtige Feinde zu verteidigen, ausdrücklich anerkannt, und er hat die Stimmenthaltung der Fraktion nur damit begründet, dass die Fraktion nicht in einer Frage urteilen könne, über die ihr jede Möglichkeit eines sachlichen Urteils fehle. Daraus ergibt sich, dass diese Stimmenthaltung einen vollkommenen anderen Sinn hat als die Stimmenthaltung von 1870; sie ist rein formaler Natur und verweigert nur, um juristisch zu sprechen, die Instruktion eines Prozesses, für den alle vorbereitenden Schriftsätze fehlen.

Man kann nun freilich sagen: Wenn wir die Kolonialpolitik prinzipiell verwerfen, so müssen wir ebenso prinzipiell alle ihre Konsequenzen verwerfen, gleichviel wie diese beschaffen sein mögen und ohne dass wir im einzelnen darüber unterrichtet zu sein brauchen. Auf diesen Standpunkt haben sich die Parteiblätter in Elberfeld und Dortmund gestellt. So schreibt die „Freie Presse":

Wir müssen gestehen, dass uns der Beschluss der Fraktion nicht gefällt. Mag man auch zugleich betonen, dass unsre bisherige grundsätzliche Haltung zur Kolonialpolitik dadurch nicht alteriert werde, in Wirklichkeit ist das doch der Fall. Wir befürchten, dass das der erste Schritt ist, die Kolonialpolitik auf halbem Wege mitzumachen, etwa in dem Sinne, den Bernstein schon längst entwickelt hat. Und von da bis zur Welt- und Flottenpolitik der Freisinnigen Vereinigung ist nur ein zweiter Schritt. Unter der Begründung, welche unsre Fraktion ihrem Beschlüsse gegeben hat, werden sich eine ganze Anzahl weiterer Forderungen der herrschenden Klasse bewilligen lassen, welche die Fraktion bisher grundsätzlich abgelehnt hat."

Unseres Erachtens sind diese Befürchtungen übertrieben. Von „Bewilligungen" ist überhaupt nicht die Rede gewesen, und die Begründung der Stimmenthaltung ist nur in der Form anfechtbar und zweischneidig, die ihr der „Vorwärts", nicht aber in der Form, die ihr Bebel gegeben hat. Jedoch machen wir diesen Schwesterblättern in Dortmund und Elberfeld keinen Vorwurf daraus, die Lärmglocke etwas frühzeitig angeschlagen zu haben. So wenig der Beschluss der Fraktion ein prinzipwidriger Verstoß ist, so sehr drohte prinzipielle Unklarheit einzureißen, nachdem er einmal mit der Stimmenthaltung Bebels und Liebknechts im Jahre 1870 verglichen worden war. Je eher solche Keime neuen Unheils zertreten werden, um so besser wird es sein.

1 Ursache des Aufstands (der Hereros und wenig später der Hottentotten) in Deutsch-Südwestafrika 1904/1905 war die grausame Ausbeutung der Eingeborenen, verstärkt durch besonders brutales Vorgehen der deutschen Offiziere und Kolonialbeamten. 12.000 Mann der „Schutztruppe" trieben die Eingeborenen mit Frauen und Kindern zu Zehntausenden in die Wüste und lieferten sie dem Durst- und Hungertod aus. Die Hereros wurden vor dem Aufstand auf 97.000, 1911 auf nur noch 20.000 Menschen geschätzt.

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