Franz Mehring 19041019 Eine Friedenspredigt

Franz Mehring: Eine Friedenspredigt

19. Oktober 1904

[ungezeichnet, Leipziger Volkszeitung Nr. 244, 19. Oktober 1904. Nach Gesammelte Schriften, Band 8, S. 75-78]

Erst in unserm gestrigen Leitartikel haben wir aus der Feder eines alten Mitarbeiters eine scharfe Kritik der „kriegerischen Sehnsucht" gebracht, die in den besitzenden Klassen gehegt und gepflegt wird. Wir sind deshalb wohl vor dem Verdachte chauvinistischer Anwandlung gesichert, wenn wir uns heute gegen eine Friedenspredigt wenden, die, von Jaurès gegen den japanisch-russischen Krieg gerichtet, von der bürgerlichen Presse als eine „große Tat in Worten" gefeiert und auch, soviel wir sehen, in einigen Parteiblättern nicht ganz zutreffend bewertet wird.

Den Kernpunkt dieser Friedenspredigt bilden folgende Sätze, die wir nach der Übersetzung des „Vorwärts" wiedergeben:

Wenn allenthalben die zivilisierte Welt sich vereinigt, um diesen furchtbaren Krieg zu verwünschen und um die beiden kriegführenden Völker zu beschwören, dem grausamen Schauspiel der unnütze' und sich steigernden Schlachtengräuel ein Ende zu machen – vielleicht wird dieser einstimmige, flehende Aufruf des menschlichen Geschlechts von den beiden Kämpfenden gehört werden. Es soll sich nicht darum handeln, die Eigenliebe einer der beiden Nationen durch eine unmittelbare Einmischung zu reizen, welche den Konflikt eher verschärfen und ausbreiten könnte. Es soll nicht diesem oder jenem Volke, dieser oder jener Regierung ein besonderer Vermittlungsauftrag gegeben werden, welcher stets verdächtig angesehen werden würde, als sei er aus egoistischen und engherzigen Absichten entstanden. Aber es ist möglich, es ist nötig, im Sinne des Friedens vorzugehen, gewissermaßen eine moralische Friedensnotwendigkeit zu schaffen durch eine gewaltige und unaufhörliche internationale Bekundung der Menschlichkeit, der Weisheit und des Mitgefühls.

Der internationale Sozialismus kann an dieser sehr notwendigen Bekundung mitwirken. Wenn überall die Parlamente, ohne eine allzu genaue Formel der Vermittlung zu suchen, ihren Schmerz ausdrücken über jene Entsetzlichkeiten, wenn sie den Wunsch ausdrücken, dass die Regierungen und die Völker, die nicht unmittelbar an dem Konflikt beteiligt sind, sich zu verständigen, um in freundschaftlicher Weise die beiden kämpfenden Nationen zum Frieden aufzufordern – dann kann wohl die Diplomatie leichter Gelegenheit zur Vermittlung finden. Ein Aufruf zum Frieden, der eindringlich und wiederholt, ohne Versuch eines unmittelbaren oder mittelbaren Druckes, in allen Volksvertretungen der alten und der neuen Welt sich erheben würde, müsste ohne Zweifel einen mächtigen Widerhall in der gesamten denkenden Menschheit finden und schließlich auf die Ereignisse selbst wirken."

Diese Sätze beweisen aufs neue, dass Jaurès in all seinem Denken und Sprechen die revolutionär umwälzende Gedankenwelt des wissenschaftlichen Sozialismus noch nicht einmal hauttief empfunden hat. Er steht vollständig auf dem Standpunkt des seligen Kant, der am Ende des 18. Jahrhunderts den Ewigen Frieden auch als eine moralische Forderung des gesamten Menschengeschlechts proklamierte und ihn schon vor derselben Tür stehen sah, durch die unmittelbar darauf eine zwanzigjährige Schlachtenära hereinbrach. Oder er steht auch auf dem Standpunkt des seligen Thomas Buckle, der in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts den Ewigen Frieden als eine wirkliche Errungenschaft des Manchestertums feierte, am Vorabende des Krimkrieges, des italienischen Krieges von 1859, der deutschen Kriege von 1864, 1866, 1870 und 71. Oder er steht, um noch ein drittes Beispiel anzuziehen, auf dem Standpunkt des seligen Herrn Johannes Scherr, der in seinen unzähligen und unsterblichen Geschichtswerken den einleuchtenden Standpunkt vertreten hat, dass, wenn ein tüchtiger Nachmittagsprediger dem ersten Napoleon nur rechtzeitig ins Gewissen geredet und ihn von seinem Größenwahn kuriert hätte, den europäischen Völkern einige Millionen Menschenleben erspart worden wären.

Man sagt uns vielleicht: Nun, wenn solche Friedenspredigten nichts nützen, so schaden sie auch nichts; sie atmen immer erhabene Gesinnungen, die den Sozialismus zieren. Darüber waren Marx und Engels anderer Ansicht. Als im Jahre 1850 ein Europäisches Zentralkomitee der Demokratie einen ähnlichen „flehenden Aufruf des menschlichen Geschlechts" vorschlug, wie jetzt Jaurès, protestierten sie sehr energisch – die Unglücklichen waren noch nicht durch den „guten Ton" zivilisiert – gegen den „ganzen hochbeteuernden Unsinn", hinter dem „eine höchst ordinäre Philisteransicht"1 stecke. Sie waren der Ansicht, dass man, wenn man die kapitalistische Produktionsweise und ihr scheußlichstes Produkt, den Krieg, mit der Wurzel ausrotten wolle, vor allem die kapitalistische Produktionsweise eben auch unter dem Gesichtspunkte studieren müsse, weshalb sie unaufhörlich neue Kriege erzeuge. Erst wenn es sich darüber klar ist, vermag das moderne Proletariat dem Kriege mit wirklichem Erfolge den Krieg zu erklären; diese notwendige Klarheit wird aber auch durch die großartigste Sentimentalität nicht gefördert, sondern gehemmt.

Ein bürgerlicher Historiker schrieb vor einigen Jahren: Die Geschicke der Völker werden sich immer in den Angeln der Schlachten bewegen. Das ist vollkommen richtig, wenn man an die Ewigkeit der kapitalistischen Produktionsweise glaubt. Wer dagegen ihre historische Vergänglichkeit kennt, der wird mit unserem alten Mitarbeiter übereinstimmen, der am Schluss seines gestrigen Leitartikels sagt: Das Ende der Kriege wird erst zusammenfallen mit dem Ende der Klassenherrschaft. Das ist der springende Punkt der ganzen Frage. Es ist vielleicht die wuchtigste Anklage gegen die Klassenherrschaft, dass sie ohne den Krieg nicht leben kann und dass sich selbst ihre historischen Fortschritte nur durch blutige Metzeleien vollziehen, in denen sich gesittete Menschen gegenseitig wie wilde Tiere abschlachten. Aber das ist ja eben das innerste Wesen jeder Klassenherrschaft, und sie davon durch einen „flehenden Aufruf des Menschengeschlechts" zu kurieren ist gerade so aussichtsvoll, als wenn man einen Tiger bereden wollte, seine Klauen und Zähne nur zu gebrauchen, um wie ein Lämmlein auf grüner Wiese zu grasen.

Wir sagten, es sei der vielleicht ärgste Fluch der Klassengesellschaft, dass sich selbst ihre historischen Fortschritte nur durch den Krieg vollziehen. Jedoch ebendeshalb dürfen die Gegner des Krieges gerade diesen Punkt nicht übersehen. Die Kriegsära von 1792 bis 1815 war ein ungeheurer Preis, der dafür gezahlt werden musste, dass Mitteleuropa von dem gröbsten Schutte des Feudalismus gesäubert wurde, aber ein historischer Fortschritt war diese Säuberung dennoch, in gleichem Missverhältnis standen Opfer und Erfolg bei allen europäischen Kriegen des 19. Jahrhunderts, aber jeder von ihnen hat – immer unter der Voraussetzung und im Rahmen der Klassenherrschaft – zu einem historischen Fortschritt geführt. Ebendies gilt auch von dem japanisch-russischen Kriege. Die Japaner kämpfen mit der ganzen siegestrunkenen Begeisterung, die die kapitalistische Produktionsweise ihrem erst aufsteigenden Aste der Entwicklung einzuflößen versteht, und je schneller die gelbe Rasse in die Strudel der kapitalistischen Entwicklung gerissen wird, desto näher rückt der Tag, an dem das siegreiche Banner des Proletariats über den ganzen Erdball wehen wird. Die Russen kämpfen mit der wilden Verzweiflung, die ein grausamer und seit Jahrhunderten ungezügelter Erobererdespotismus noch in seinem letzten Atemzuge entfacht, und die europäische Arbeiterklasse hat kein dringenderes Interesse, als dass der zarische Despotismus je eher, je hoffnungsloser am Boden liegt. Durch alles Entsetzen, das die Kriegsgräuel in Ostasien einflößen mögen, darf sich die Arbeiterklasse nicht zu einer unklaren Gefühlspolitik hinreißen lassen. Sie braucht sich weder für die Japaner noch für die Russen zu begeistern, aber sie muss klar, nüchtern, sorgsam die historischen Möglichkeiten oder auch Notwendigkeiten prüfen, die ihrem Emanzipationskampfe aus dem japanisch-russischen Kriege erwachsen.

In erster Reihe steht für die deutschen wie für die französischen Arbeiter die Pflicht, dem Russenkurs in Berlin und Paris aufs Haupt zu schlagen, dass er das Aufstehen vergisst. Dies ist aber nur möglich durch eine rücksichtslos-revolutionäre Politik, und nicht durch die Blocktaktik, die – allerdings in unanfechtbarer Konsequenz ihres ganzen Wesens – gegenüber einem welthistorischen Ereignis, wie es der japanisch-russische Krieg in der Geschichte der Klassengesellschaft ist, in eine zuckerige Friedenspredigt verläuft.

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