Franz Mehring 19071231 Eine Schraube ohne Ende

Franz Mehring: Eine Schraube ohne Ende

31. Dezember 1907

[Die Neue Zeit, 26. Jg. 1907/08, Erster Band, S. 457-460. Nach Gesammelte Schriften, Band 8, S. 129-133]

Unter den zahllosen Aufgaben, die der proletarische Klassenkampf der Gegenwart zu lösen hat, kann er nicht jeder zu jeder Zeit mit gleichem Erfolg gerecht werden. So haben leider die Arbeiten, die Friedrich Engels auf kriegsgeschichtlichem Gebiet in seiner klassischen Weise begonnen hat, nicht die Fortsetzung gefunden, die in unserer waffenstarrenden Zeit zu wünschen gewesen wäre; so einig wir alle darin sind, dem Kriege den Krieg zu erklären, so herrscht auch innerhalb der Partei noch mancherlei Unklarheit darüber, wie dem Kriege der Krieg zu machen sei.

Diese Unklarheit spukt namentlich auch in der herkömmlichen Unterscheidung zwischen Angriffs- und Verteidigungskriegen. Sie ist ein Erbteil der bürgerlichen Aufklärung, die den Krieg gern losgeworden wäre, aber nicht wusste, wie sie ihn loswerden sollte; sie fand sich in dieser Verlegenheit mit dem Tröste ab: „Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbar nicht gefällt." Aber damit kommt man nicht einen Schritt weiter in der wirksamen Bekämpfung des Krieges. Solange Kriege geführt worden sind, hat sich jeder der Kriegführenden für den Frömmsten und seinen Gegner für den bösen Nachbarn gehalten, und das wird auch in Zukunft nicht anders werden, solange überhaupt der Krieg sein menschenwürgendes Dasein führen kann.

Ist es doch auch nicht anders in dem proletarischen Klassenkampf. In ihm hält sich die Bourgeoisie für die Angegriffene, und von ihrem Standpunkt aus mit vollem Rechte. Denn sie weiß, dass sie vom Blute der Arbeiterklasse lebt, und wenn diese sich ihr Blut bis auf den letzten Tropfen abzapfen ließe, so würde die Bourgeoisie ihr sonst alles Gute wünschen. Auf der anderen Seite hält sich aber die Arbeiterklasse für die Angegriffene, und auch sie von ihrem Standpunkt mit vollem Rechte. Denn wenn sie sich nicht völlig degenerieren lassen, wenn sie sich nicht einem Elend überantworten lassen will, wie es noch nie über Menschen hereingebrochen ist, so muss sie sich gegen die unersättlichen Ausbeutungsgelüste der Bourgeoisie zur Wehr setzen. Es ist natürlich, ja es ist notwendig, dass dieser Kampf auch mit moralischen Mitteln geführt wird. Aber erfolg- und siegreich kann er nur geführt werden und ist er erst zu führen begonnen worden, wenn und seitdem die Arbeiterklasse sein historisches Wesen begriffen und danach ihre Waffen gerüstet hat.

Das historische Wesen des Krieges hat sie aber erst in unvollkommener Weise begriffen, solange sie zwischen Angriffs- und Verteidigungskriegen unterscheidet und diesen Unterschied in irgendwelcher Weise zur Richtschnur für ihre praktische Politik macht. Der Krieg ist nach dem bekannten Worte von Clausewitz die Fortsetzung der Politik mit gewaltsamen Mitteln; er ist die ultima ratio, der letzte Vernunftgrad, die unzertrennliche Begleiterscheinung der kapitalistischen wie jeder Klassengesellschaft; er ist die Entladung historischer Gegensätze, die sich dermaßen zugespitzt haben, dass es kein anderes Mittel mehr gibt, sie auszugleichen. Damit ist im Grunde schon gesagt, dass der Krieg mit Moral und Recht überhaupt nichts zu schaffen hat. Denn er entbrennt nur, weil es der Klassengesellschaft an einem Richterstuhl fehlt, vor dem die Streitfragen, die in ihm durch die Gewalt der Waffen entschieden werden sollen, nach rechtlichen oder sittlichen Gründen entschieden werden können. Und deshalb haben moralische oder rechtliche Gesichtspunkte, wie sie mit der Unterscheidung zwischen Angriffs- und Verteidigungskriegen hervorgehoben werden, mit dem Kriege nichts zu tun. Jeder Krieg ist ein Angriffs- und ein Verteidigungskrieg, nicht etwa so, dass der eine der beiden Gegner angreift und der andere sich verteidigt, sondern so, dass jeder der beiden Gegner sowohl angreift als auch sich verteidigt.

Es sei gestattet, das Verhältnis an einigen historischen Beispielen klarzustellen. Hat es je einen Angriffskrieg in brutalster Form gegeben, so war es der Überfall Sachsens durch den König Friedrich von Preußen, womit im Spätsommer 1756 der Siebenjährige Krieg begann; nicht einmal eine Kriegsansage, geschweige denn irgendeine diplomatische Verhandlung war ihm vorhergegangen. Aber dieser Krieg war zugleich ein Verteidigungskrieg des preußischen Königs im schärfsten Sinne des Wortes, denn Friedrich wusste, dass eine übermächtige Koalition europäischer Mächte gegen ihn fertig war, die nur das nächste Frühjahr abwarten wollte, um ihre Rüstungen zu vollenden und ihm dann unbarmherzig den Hals abzuschneiden; ihm blieb kein anderes Mittel der Rettung als jener Überfall Sachsens, das zu der ihm feindlichen Koalition gehörte und sieben Jahre lang wie ein Mehlsack von ihm ausgeklopft wurde, um die Kriegskosten zu decken! Nun kann man sagen: Ja, diese europäische Koalition gegen Friedrich war doch nur dadurch verschuldet, dass er dem Hause Habsburg die Provinz Schlesien geraubt hatte; allein darauf lässt sich wieder antworten, dass der Raub Schlesiens verursacht worden war durch das Lug- und Trugspiel, womit das Haus Habsburg dem Großvater Friedrichs die gesetzlichen Erbansprüche des Hauses Hohenzollern auf Schlesien abgeknöpft hatte. Man sieht: Es ist eine Schraube ohne Ende.

Was ist dann darüber gestritten worden, ob die Kriege, die von 1792 bis 1815 durch Europa tobten, sei es nun von diesem oder von jenem Standpunkt aus, Angriffs- oder Verteidigungskriege gewesen seien. Der alte Ranke hat zwar schon den Streit als gänzlich überflüssig bezeichnet; er sagte: Sobald die große französische Revolution entbrannte, standen sich zwei Welten gegenüber, deren Lebensinteressen einander dermaßen widerstritten, dass sie sich notwendig in die Haare geraten mussten. Aber diese Einsicht desjenigen Historikers, den die bürgerliche Geschichtsschreibung als ihren Altmeister zu feiern pflegt, hat keineswegs gehindert, dass sich ihre Jünger die Köpfe zerkeilt haben wegen der Frage, ob die Kriege jenes Zeitalters Angriffs- oder Verteidigungskriege gewesen seien. Mit seinem ganzen Pathos erklärt Treitschke: „Frankreich war es, Frankreich allein, das den Krieg erzwang", wobei er hinzuzufügen vergisst, dass die Französische Revolution sich nur durch den Krieg vor den landesverräterischen Umtrieben des französischen Kriegsherrn mit den feudalen Mächten retten konnte! Und hat es hundert Jahre lang einen gläubiger nachgebeteten Satz gegeben als den Satz von Napoleons unersättlicher Eroberungssucht? Mit welchem Hohngelächter wurde die Behauptung des Gefangenen von St. Helena aufgenommen, dass er stets der Angegriffene gewesen sei, wie ist er deshalb als Lügner aller Lügner verspottet worden. Heute aber ist sogar die deutsche Geschichtsschreibung bereit, anzuerkennen, dass Napoleon mindestens in allen Kontinentalkriegen, die er von 1804, von seiner Kaiserkrönung an geführt hat, der Angegriffene gewesen sei, das heißt, dass ihm diese Kriege wider seinen Willen aufgedrängt worden seien durch die feudalen Mächte, die, von ihrem Standpunkt wieder mit allem Grund, ihre Lebensinteressen bedroht fühlten durch die Nachbarschaft eines waffengewaltigen Reiches, dessen Adler, wohin sie immer drangen, bürgerliche Reformen mit sich führten.

Für den Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 braucht die Frage des Angriffs- oder Verteidigungskriegs überhaupt nicht mehr gestellt zu werden. Er ist hüben und drüben mit gleich frivolen Mitteln geschürt worden, von der bonapartistischen Dezemberbande wie dem borussischen Junkertum, von jener, weil ihr das Messer an der Kehle saß, so dass sie nur noch auf einen letzten Verzweiflungsstreich sann, von diesem, weil es auch noch das südliche Deutschland verpreußen wollte, wie es im Jahre 1866 schon das nördliche Deutschland verpreußt hatte; nicht für die Einigung Deutschlands, die auch so gekommen wäre, sondern für die Verpreußung Deutschlands war der Krieg notwendig, wie Bismarck später selbst offenherzig bekannt hat. Was uns an diesem Kriege besonders interessiert, ist aber die Tatsache, dass es zu seiner Zeit schon eine europäische und eine deutsche Arbeiterpartei gab, die praktische Stellung zu ihm nehmen musste.

Bekanntlich enthielten sich Liebknecht und Bebel der Abstimmung, als im Juli 1870 vom Norddeutschen Reichstag eine Kriegsanleihe gefordert wurde. Sie erklärten, dass sie weder der preußischen Regierung, die durch ihr Vorgehen im Jahre 1866 den Deutsch-Französischen Krieg vorbereitet habe, ein Vertrauensvotum spenden noch auch die frevelhafte und verbrecherische Politik Bonapartes billigen könnten. Diese Erklärung war vollkommen richtig, und sie ist ein Ehrendenkmal in der Geschichte der Partei wegen der Einsicht und des Mutes, der in den damaligen Tagen dazu gehörte, sie laut zu verkünden. Jedoch es ist klar, dass sie die Kriegsfrage wesentlich vom moralischen Standpunkt aus auffasste und sie deshalb nicht erschöpfte. Sie mochte zureichen zur Zeit, wo die Partei noch sehr schwach war und kein nennenswertes Gewicht in die Waagschale werfen konnte. Heute würde sie nicht mehr zureichen; sonst läge die Frage freilich sehr einfach. Denn heute ist ja keine Kriegskombination, in die Deutschland verwickelt werden könnte, irgend denkbar, ohne dass die Diplomatie Bülows ihr gerüttelt und geschüttelt Teil der Schuld daran trüge.

Es wird jedoch zu wenig beachtet, dass auch damals schon Liebknecht und Bebel mit dieser ausschließlich moralischen Auffassung des Krieges in der Partei auf einen starken Widerstand stießen. Nicht nur bei den Lassalleanern, was insofern nicht beweiskräftig sein würde, als sie mit diesen auch sonst scharfe Meinungsverschiedenheiten hatten, sondern ebenso bei ihrer eigenen Parteileitung, die damals in Braunschweig saß, und auch beim Generalrat der Internationalen, wenn auch bei diesem nicht in ausdrücklichen Auseinandersetzungen. Aber die von Marx verfassten Adressen des Generalrats1 empfahlen dieselbe Politik, die die Lassalleaner verfolgten und der Braunschweiger Ausschuss befolgt wissen wollte, nämlich bis zum Sturze Bonapartes Bismarck zu unterstützen und ihn dann erst zu bekämpfen, wenn er sich an diesem Sturze nicht genügen lasse, sondern aus eigensüchtigen Junkerinteressen den Krieg gegen Frankreich fortführe. Das hieß mit anderen Worten, die Kriegsfrage sei allein vom proletarischen Klasseninteresse aus zu entscheiden. Der Sturz Bonapartes war das höchste Interesse des europäischen wie des deutschen Proletariats, und es war sein nicht minder hohes Interesse, dass die beiden größten Kulturvölker des Kontinentes nicht auf unabsehbare Zeit verfeindet würden.

So ist denn auch im Jahre 1870 verfahren worden, und wir zweifeln nicht im Geringsten daran, dass im gegebenen Falle wieder nach gleichen Grundsätzen verfahren werden würde. Der erste Wind, der ein neues Kriegsgewitter zusammenbliese, würde auch den windigen Unterschied von Angriffs- und Verteidigungskriegen als Richtschnur der proletarischen Politik fortblasen. Allein deshalb sollten wir ihn schon heute abdanken, zumal da die herkömmliche Wendung, dass wir im Verteidigungskrieg „auch" die Flinte auf den Buckel nehmen würden, einen künstlichen Gegensatz zwischen nationalen und proletarischen Interessen zu schaffen scheint, der nur verwirrend wirken kann. Da die ungeheure Mehrheit jeder Kulturnation vom Proletariat gebildet wird, so sind die proletarischen Interessen eben auch die nationalen Interessen.

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