Franz Mehring 19120426 Futter für Moloch

Franz Mehring: Futter für Moloch

26. April 1912

[Die Neue Zeit, 30. Jg. 1911/12, Zweiter Band, S. 143-149. Nach Gesammelte Schriften, Band 8, S. 215-222]

Wir bekämpfen den Militarismus wie den Kapitalismus, über deren inneren Zusammenhang wir uns vollkommen klar sind, aber unsere Waffen gegen den Kapitalismus sind ungleich schärfer als die Waffen, die wir gegen den Militarismus führen. Diesen verstehen wir nicht in demselben Maße wie jenen als notwendiges Produkt der historischen Entwicklung; wir unterschätzen deshalb seine Stärken, und das weiß er ganz gut auszunutzen.

Das Schicksal der Fortschrittspartei, die, wenn auch heute nicht mehr, so doch ehedem ebenfalls den Militarismus bekämpfte, sollte uns eine Warnung sein. Sie verlor ihren Prozess in der preußischen Konfliktszeit nicht zum wenigsten deshalb, weil sie sich in den eigentlichen technischen Fragen dem Militarismus nicht gewachsen zeigte. Die Mobilmachungen von 1850 und 1859 hatten vor aller Welt den Verfall der preußischen Heeresverfassung dargetan, und die Regierung wollte ihm durch die Militärreorganisation steuern, die technisch in hohem Maße geeignet war, die Schlagfertigkeit des Heeres zu steigern, sei es auch nur um den Preis, dass die letzten volkstümlichen Elemente aus dem Heere entfernt wurden. Auf diese Vorschläge der Regierung antwortete die fortschrittliche Mehrheit des preußischen Abgeordnetenhauses mit äußerst dilettantischen, nach einer Broschüre des Generals v. Willisen flüchtig zusammengestoppelten Gegenvorschlägen, die keiner ernsthaften Kritik standhielten. Vergebens warnte damals Engels davor, den Plan der Regierung nicht zu unterschätzen1; die Antwort war, dass selbst radikale Demokraten, wie Herwegh und Rüstow, ihn verdächtigten, sich bei Bismarck lieb Kind machen zu wollen.

Um die damalige Verblendung der Fortschrittler zu kennzeichnen, sei nur ein Punkt hervorgehoben. Die Regierung wollte die bis dahin geltende Landwehrverfassung beseitigen, weil die Landwehr sich in den Revolutionsjahren dagegen gesträubt hatte, zu reaktionären Gewaltstreichen missbraucht zu werden. Aus diesem Zusammenhang machte die Regierung auch gar kein Hehl, und so hätte die Fortschrittspartei erklären müssen, dass sie die Landwehrverfassung als ein Bollwerk gegen Staatsstreichgelüste nicht preisgeben wolle. Denn dies war in der Tat ihre Meinung. Statt dessen erklärte sie in dem Kommissionsbericht, der über die Vorlage der Regierung erstattet wurde, „dass auch in jenen Tagen die Landwehr im großen und ganzen Beweise ihrer Treue, ihres Gehorsams und ihrer Disziplin gegeben hat, ungeachtet aller möglichen Versuchungen, die an sie herantraten, sie ihren militärischen Pflichten abwendig zu machen. Gerade das Scheitern dieser Versuchungen war das ehrendste Zeugnis wie für das Volk im Allgemeinen so für die Landwehr insbesondere." Die Fortschrittspartei suchte also der Regierung die Beibehaltung der Landwehrverfassung mit der Behauptung schmackhaft zu machen, dass die Landwehr auch für reaktionäre Gewaltstreiche zu haben sei! Mit dieser elenden Heuchelei ließ sich Moloch natürlich nicht nasführen; er lachte sich nun erst recht ins Fäustchen und setzte seinen Willen durch.

Nun bedarf es keiner Versicherung, dass sich die deutsche Sozialdemokratie auf solchen Wegen niemals ertappen lassen wird. Aber mit ihrer programmatischen Forderung: Volkswehr statt der stehenden Heere, so richtig sie immer sein mag – und an ihrer Richtigkeit ist kein Zweifel gestattet –, ist zunächst doch auch nur ein allgemeines Ziel angegeben, das eine ganze Reihe komplizierter Fragen offen lässt. Man kann dies Ziel mit aller Ehrlichkeit verfechten und dennoch, um es zu erreichen, so falsche Wege einschlagen, dass der Militarismus seine helle Freude daran hat. Ein schlagendes Beispiel dafür ist eine Schrift über „Das Heer", die Herr Karl Bleibtreu im Verlag der Literarischen Anstalt in Frankfurt a. M. herausgegeben hat. Herr Bleibtreu hat sich eingehend mit militärischen Dingen beschäftigt und als „Zivilstratege" manchen Strauß, auch wohl manchen siegreichen Strauß, mit der amtlichen Militärpublizistik durchgekämpft; nebenbei ist er auch Dichter und schreibt ganz amüsant, so dass sein Büchlein auf eine populäre Massenwirkung ausgeht, wesentlich zu dem Zwecke, die unbedingten Vorzüge der Volkswehr vor den stehenden Heeren zu beweisen, also für diesen Punkt des sozialdemokratischen Programms eine ausgiebige Propaganda zu machen. Da mag es sich denn wohl lohnen, etwas ausführlicher bei dieser Schrift zu verweilen.

Mit dem antiken und mittelalterlichen Heerwesen findet sich Herr Bleibtreu auf etwa zwanzig Seiten ab, in einem kunterbunten Durcheinander von Behauptungen und mit der Tendenz, nachzuweisen, dass Söldnerheere im Altertum und Mittelalter aufs äußerste verachtet gewesen, „der Kriegerstand an und für sich als kulturfeindlich, rechtsfeindlich, freiheitsfeindlich" gegolten habe. Da Herrn Bleibtreu der Begriff der historischen Entwicklung und namentlich der innere Zusammenhang zwischen Heeres- und Staatsverfassung vollkommen fremd ist, so können wir seinen wilden Sprüngen durch das Altertum und das Mittelalter nicht im Einzelnen folgen. Ein wenig zusammenhängender wird seine Darstellung mit den Tagen der Renaissance, in denen die Söldnerheere, Gemeine und Offiziere, auch unter der allgemeinen Verachtung gelitten haben sollen. Das ist nun einfach nicht wahr. Damals war „soldat de fortune", „Landsknecht", „Reiter" nicht nur ein gut bezahltes, sondern auch ein geachtetes Gewerbe; die große Menge des niederen Adels, wo er in europäischen Ländern zahlreich vertreten war, hielt es für durchaus „standesgemäß", wenn sie als gemeine Reiter ihr Fortkommen suchte. Besonders in Venedig ist das Söldnerwesen – nach Herrn Bleibtreu – verachtet gewesen, wozu vortrefflich die Tatsache stimmt, dass im Jahre 1481, gegenüber der Gruftkirche der Dogen, dem Söldnerführer Colleoni ein Denkmal errichtet wurde, das Burckhardt das großartigste Reitermonument der Welt nennt.

Erst im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert wurde es zum Unglück und zur Schande, Soldat zu sein. Wohlgemerkt für den einfachen Söldner; die Offiziere der Söldnerheere blieben eine bevorrechtete Klasse. Ebendies bestreitet aber Herr Bleibtreu, und er ist so freundlich, uns nicht lange auf die Folter zu spannen, weshalb er eine so offenkundige Tatsache leugnet. Am Schlusse seines ersten Kapitels stellt er uns nämlich den einen der beiden großen Antimilitaristen vor, die er in der Weltgeschichte entdeckt hat: in der erlauchten Person des preußischen Königs Friedrich, der angeblich die Junker nur deshalb zu Offizieren machte, weil die Bürger nur in Ausnahmefällen das Bedürfnis empfanden, den so geringgeschätzten Offiziersberuf zu wählen, und der die junkerlichen Offiziere nur deshalb mit Vorrechten überhäufte, um dem geringgeachteten Stande ein besseres Prestige zu geben. Gerade zwei Seiten später behauptet zwar Herr Bleibtreu – um den preußischen Junkern die Verantwortung für Jena abzunehmen –, dass im friderizianischen Heere „ein gut Teil der Offiziere aus Bürgerlichen" bestanden hätte, aber auf solche kleinen Widersprüche kommt es diesem antimilitaristischen Denker nicht an.

Sein Hymnus auf den König Friedrich gehört zu jenen frostigen Scherzen, die dem Leser nach Lessing das kalte Fieber zuziehen können. Dieser demokratische Mustermonarch „beugte aufs herbste jedem Militarismus vor und stellte die Zivilgewalt allemal über die Militärorgane", „bei Heilung der wirtschaftlichen Schäden hatten immer Bauer und Bürger den Vorzug", während „der ruinierte Adel nur kärglichste Staatshilfe erhielt" usw. Das friderizianische Offizierskorps hielt in „nibelungenhafter Mannentreue" zu seinem herrlichen Fürsten; diese Kernmänner hatten nur den einen Mangel, sich mit allzu viel Bildung zu befassen, die namentlich das Heer von Jena verseuchte, dessen Offiziere den bürgerlichen Philister gerade wegen seines niedrigen Kulturniveaus verachteten. Auch befleckten diese strammen eisernen Kriegsmänner ihre Fahnen niemals mit Unmenschlichkeiten, wie es die Österreicher durch die Einäscherung von Zittau und das Bombardement von Dresden taten. Nun fällt die Einäscherung Zittaus allerdings auf das österreichische Konto, aber das mindestens gleich unmenschliche Bombardement Dresdens auf das Konto der „strammen eisernen Kriegsmänner" und des „fürstlichen Idealisten" Friedrich, den nicht zu bewundern ein „riesiger Trugschluss" der Sozialdemokratie sein soll.

Die Periode der „Volksheere" beginnt nach Herrn Bleibtreu mit der großen französischen Revolution und endet mit dem Deutsch-Französischen Kriege von 1870/71. Er gibt zu, was mit der historischen Wahrheit übereinstimmt, dass sich die französischen Freiwilligen anfangs sehr schlecht geschlagen haben, aber er vergisst zu erzählen, dass eine Wendung zum Besseren erst eintrat, als Carnot sie mit den noch vorhandenen Linientruppen verschmolz. Auch dies gehört zu den Eigentümlichkeiten des Herrn Bleibtreu, dass er Tatsachen, die scheinbar dem Milizsystem widersprechen, statt sie kritisch zu prüfen, einfach verschweigt. Bei seinem gänzlichen Mangel an historischem Sinn erklärt er denn auch die weltbekannte Tatsache, dass die ökonomischen Umwälzungen der Französischen Revolution eine neue Strategie und Taktik schufen, für eine „unausrottbare moderne Militärlegende"; die Siege der französischen Heere schreibt er „Napoleons dämonischer Genieüberlegenheit, der Kriegserfahrung seiner meist erschreckend ungebildeten Marschälle und dem durch unablässige Siege erhitzten Elan seiner Volkssoldaten zu, wo sich jeder Citoyen und [jedes] Mitglied der Großen Nation über alles Nichtfranzösische erhaben wähnte". An einer anderen Stelle sagt er, dass aus der „Stimmung" dieses „Volksheers", „nicht aus dem Eigenwillen Napoleons die Welteroberungszüge des Korsen hervorgegangen" seien.

In Napoleon stellt nämlich Herr Bleibtreu seinen Lesern den zweiten großen Antimilitaristen der Weltgeschichte vor. Die Behauptung ist nicht ganz so sinnlos, wie sie bei dem König Friedrich war, aber die Art, wie sie zu beweisen gesucht wird, ist deshalb kaum weniger haarsträubend. Um zu erhärten, dass Napoleon ein bürgerlich mildes Regiment in Frankreich geführt habe, erzählt Herr Bleibtreu, dass er seine „Okkupationskorps" als Kuckuckseier in fremde Nester gelegt und sein Heer durch Kontributionen des Auslandes ernährt habe. Da dies zu dem „Antimilitarismus" Napoleons aber doch nicht recht stimmt, fügt Herr Bleibtreu in einer Anmerkung hinzu, das habe die Revolution ihrem Erben vorgemacht, nur mit dem Unterschied, dass sie nie etwas zurückgezahlt habe, was Napoleon „oft" getan habe. Woher er das Geld zu diesen häufigen Rückzahlungen genommen habe, erfährt der wissbegierige Leser leider nicht. Die Marschälle Napoleons waren als Befehlshaber eines „Volksheers" reine Idealgestalten; Ney bat im Juni 1812 dringend darum, ihn der Württemberger zu entledigen, die Insterburg geplündert und so ihre französischen Waffenbrüder entehrt hätten, sogar zwei deutsche Generale steckte er deshalb in Arrest; die Marschälle Soult und Suchet aber hielten sogar in dem spanischen Guerillakrieg „wundersame Mannszucht". So zu lesen auf Seite 51; auf Seite 148 aber, wo dieser glorreiche Konfusionsrat beweisen will, dass adlige Offiziere eigentlich doch immer bessere Kerle seien als bürgerliche – an anderen Stellen behauptet er natürlich auch wieder das Gegenteil –, stellt er einigen altadligen Offizieren Napoleons, deren Uneigennützigkeit er rühmt, die „unersättliche Habgier und Raublust" Neys gegenüber sowie den „unanständigen Handel", den Suchet mit Merinoschafen trieb, und den systematischen Diebstahl Soults an den spanischen Kunstschätzen. Beiläufig wird dann auch das Märchen aufgewärmt, dass der Marschall Bazaine als Gemeiner von der Pike herauf gedient habe. Bazaine stammte aus einer wohlhabenden Familie; sein Vater war ein angesehener Rechtsgelehrter, sein Bruder russischer Generalleutnant; er selbst trat als Freiwilliger in das französische Heer, um die Offizierskarriere zu machen, nur dass er sich den Besuch der Kriegsschule von St. Cyr erspart hatte. Er kann höchstens als Beispiel dafür gelten, dass ein Sprössling der herrschenden Klassen, selbst bei einem Manko an militärischer Ausbildung, den Marschallstab im Tornister trägt.

Auch das Märchen vom ehemaligen Schneidergesellen Derfflinger wärmt Herr Bleibtreu wieder auf, wie denn seine Schilderung der preußischen Generale auf gleicher Höhe steht mit seiner Schilderung der französischen Marschälle. An den wirklichen Reformern des preußischen Heerwesens in der Zeit nach Jena, Scharnhorst, Gneisenau, Grolman, Boyen, geht er ziemlich beiläufig vorüber, dagegen feiert er Müffling als den „Typ eines freigeistigen Kriegswissenschaftlers". Er sagt, Müffling sei ein früherer Theologe und Blüchers Beirat gewesen, der sich als solcher besonders 1815 hervorgetan habe. Da Müffling nach damaliger Junkersitte schon in dem ehrwürdigen Alter von zwölf Lebensjahren in die Armee eintrat, so muss er seine theologischen Studien wohl in den Windeln absolviert haben; Beirat Blüchers war nicht er, sondern Gneisenau, und wenn Müffling allerdings 1813 und 1814 dem Hauptquartier Blüchers angehörte, so wurde doch gerade er hier als fremdes Element empfunden. 1815 aber, wo Müffling sich als Beirat Blüchers besonders hervorgetan haben soll, gehörte er gar nicht einmal dem Stabe Blüchers, sondern – als preußischer Militärbevollmächtigter – dem Stabe Wellingtons an, und seine hervorragende Leistung in diesem Jahre bestand darin, dass er durch seine irreführenden und unüberlegten Berichte an das preußische Hauptquartier eine wesentliche Schuld an der Niederlage von Ligny trug. In schroffen Gegensatz zu diesem „Freigeist" stellt Herr Bleibtreu den „Feudalen" Yorck, der ein „bloßer Draufgänger" gewesen sei. Nun war Yorck sicherlich ein Erzjunker, aber ein „bloßer Draufgänger" so wenig, dass er – obgleich im Gefecht selbst von kaltblütiger Energie und Umsicht – doch äußerst schwer, oft zur hellsten Verzweiflung Blüchers und Gneisenaus, ins Gefecht zu bringen war.

Von Blücher sagt Herr Bleibtreu, dass er „dämonisch" gewesen sei, doch bleibt sein Geheimnis, wo diesem lebenslustigen Husaren, der in seiner Art gewiss ein bedeutender General, aber außerhalb des Krieges ein Landsknecht des alten Schlages mit unausrottbarer Vorliebe für Wein, Weiber und Würfel war, das „Dämonische" gesessen haben soll. Wenn nun gar Herr Bleibtreu fragt: „Was sagt das heutige preußische Offizierswesen zu dem Wutbrief 1809 an den König: Ich bitte um meinen Abschied, sintemal ich nicht bloß preußischer Offizier, sondern deutscher Edelmann bin?l", so wird „das heutige preußische Offizierswesen", wie wir stark vermuten, die erschöpfende Antwort finden, dass dieser Brief Blüchers nirgendwo sonst existiert als in der Phantasie des Herrn Bleibtreu.

Ebenso ein reines Phantasieprodukt und als solches längst nachgewiesen ist die angebliche Kabinettsorder Friedrich Wilhelms III. aus dem Jahre 1803, worin den Offizieren befohlen wurde, sie sollten sich nicht unterfangen, von sich als einem „ersten Stande" zu schwatzen, da alle, die des „Königs Rock" trügen, aus dem Steuersäckel des Bürgers unterhalten würden. Diesem Hohenzoller windet Herr Bleibtreu ebenfalls reiche Kränze. Er nennt ihn – den Mann des gebrochenen Verfassungsversprechens und der Demagogenjagd2 – überaus edel, hochehrenwert, vornehm, redlich, kreuzbrav, grundverständig, von Natur durchaus antifeudal, innerlich ganz liberal, mit demokratischem Öl gesalbt. Alle diese erlesenen Qualitäten schöpft Herr Bleibtreu aus jener mythischen Kabinettsorder von 1803 und einer patriotischen Schnurre, die er in den hohenzollernschen Anekdotenbüchern aufgegabelt hat. Als die verbündeten Heere nach der Schlacht bei Leipzig am Rhein lagerten und ein Ball in Wiesbaden stattfand, ließ sich Friedrich Wilhelm III. allergnädigst herab, einem jungen Offizier, der drei Brüder im Kriege verloren hatte, ein Wort des Beileids zu äußern und auf die Antwort des Offiziers, seine Brüder seien gern für Se. Majestät gestorben, zu sagen: Nicht für mich, sondern fürs Vaterland! Zur Erhöhung der Feierlichkeit verlegt Herr Bleibtreu den Ballsaal von Wiesbaden aufs Schlachtfeld von Leipzig und macht aus dem jungen Offizier, der drei Brüder verloren hatte, einen altadligen Major, dem alle Söhne gefallen waren. Darauf vergießt er wahre Tränenbäche der Rührung über diesen „gekrönten Hohenzoller", der das Vaterland über den König gestellt habe.

Nachdem dann Treitschke im Vorbeigehen einen Klaps erhalten hat wegen mangelnder Ehrfurcht vor Friedrich Wilhelm IV., stimmt Herr Bleibtreu seine Harfe vor Wilhelm I., der „durchaus idealistischen, von edelstem Deutschtum erfüllten Natur". Da dieser preußische König die von Herrn Bleibtreu verherrlichte Landwehrverfassung von 1813 beseitigt hat, so sollte man annehmen, dass deshalb wenigstens ein Wort der Kritik für ihn abfallen würde, aber ein gütiger Himmel bewahrt Herrn Bleibtreu davor, einem „gekrönten Hohenzoller" so respektlos zu nahen. Nein, die Beseitigung der Landwehrverfassung durch Wilhelm I. war „eine geschichtliche Großtat", da sich die damalige Landwehr in den Revolutionsjahren unsicher und politisch unzuverlässig gezeigt habe. Wenn sich dann „das neue Heer" in dem dänischen Kriege von 1864 „glanzvoll bewährt" haben soll, so steht es sogar in dem preußischen Generalstabswerk anders geschrieben; namentlich der erste Teil des Feldzugs gegen Dänemark war eine große Stümperei. Das „kleinliche Nörgeln" an dem „Bruderkrieg" von 1866 tadelt Herr Bleibtreu streng; er beliebt, diesen Krieg zur Zerreißung Deutschlands einen „Einheitskrieg" zu nennen, einen „Sieg der Demokratie", eine Behauptung, die etwa auf gleicher Höhe mit seiner Versicherung steht, dass Bismarck unter anderem „durch das Drängen des Königs von Bayern" veranlasst worden sei, den Kaisertitel für Wilhelm I. zu beanspruchen.

Das „System des Militarismus" datiert Herr Bleibtreu vom Jahre 1871 ab. Wieso es nun mit einem Male erscheint, gewissermaßen wie aus der Pistole geschossen, lässt er ganz im Unklaren. Er schilt nur über einzelne seiner Schattenseiten mit sittlicher Entrüstung, namentlich über den byzantinischen Geist, der im Offizierskorps herrscht, aber auch dies Strohfeuer verflackert spurlos, da Herr Bleibtreu zugleich den Krieg als „eminenten Kulturfaktor" preist, den Marinismus für notwendig erklärt, obgleich derjenige in seinen Hals hinein lüge, der bestreite, dass die Kriegsgefahr durch ihn gesteigert werde, den Duellunfug als Reservatrecht der Offiziere verteidigt usw. Sowenig wie Herr Bleibtreu den Ursprung des von ihm denunzierten Militarismus erklären kann, sowenig weiß er, wie er beseitigt werden soll. Man kann höchstens vermuten, dass er einen „gekrönten Hohenzoller" als rettenden Engel betrachtet. Das letzte Kapitel über die „Notwendigkeit des Milizsystems" enthält im wesentlichen nur einige Hinweise darauf, dass sich die Milizen Gambettas besser geschlagen haben als das deutsche Heer, was jedoch – da dies Heer nach Herrn Bleibtreu ja ebenfalls ein „Volksheer" war, das geschaffen zu haben er als eine „geschichtliche Großtat" Wilhelms I. feiert – einzig in neue Sümpfe der Konfusion führt.

Die verächtlichen Seitenblicke, die Herr Bleibtreu auf die antimilitaristische Propaganda der Sozialdemokratie wirft, erledigen sich sehr einfach dadurch, dass die Sozialdemokratie den Militarismus an seiner Wurzel packt als einen integrierenden Teil der ganzen kapitalistischen Wirtschaft. Sowenig die Freiwilligen Carnots oder die Landwehren Scharnhorsts möglich waren, ohne dass eine verrottete Gesellschaft ökonomisch umgewälzt wurde, sowenig ist an die Einführung einer Miliz im Sinne unseres Programms zu denken, ehe die Fänge des Kapitalismus gründlich beschnitten sind. Aber so klar und so unanfechtbar dieser Grundgedanke unseres Kampfes gegen den Militarismus ist, so mag es doch wünschenswert sein, ihn im Einzelnen noch näher zu diskutieren. Was für kunterbunt reaktionäres Zeug sich mit einem gewissen Erfolg unter der wörtlichen Übernahme unseres antimilitaristischen Programms breitmachen kann, zeigt die Schrift des Herrn Bleibtreu.

Dies ist ihr einziges Verdienst, und nur um dieses Verdienstes lohnte sich ihre ausführliche Besprechung. Sonst ist sie in ihrer jammervollen Verwirrung ein wahres Gaudium für den Moloch des Militarismus, der sich dies Futter nicht schlecht schmecken lassen wird.

2 Gemeint ist das vom preußischen König wiederholt gegebene Versprechen, „eine Repräsentation des Volkes", eine „reichsständische Versammlung" zu gewähren. Demagogen – nach dem Griechischen: Volksführer; so wurden in den Karlsbader Beschlüssen vom August 1819 (siehe Anm. 61) die Teilnehmer oppositioneller Bewegungen der deutschen Intelligenz und studentischer Vereinigungen genannt.

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