Franz Mehring 19050628 Kriegssachen

Franz Mehring: Kriegssachen

28. Juni 1905

[Die Neue Zeit, 23. Jg. 1904/05, Zweiter Band, S. 425-428. Nach Gesammelte Schriften, Band 8, S. 82-85]

Solche Sachen kommen doch in allen Kriegen vor." Mit diesem geflügelten Worte hat die Strafkammer in Halle den Zitatenschatz des deutschen Volkes in überaus dankenswerter Weise bereichert. So sehr der Genosse Kunert auf unsere Sympathie rechnen darf, weil er dies Bekenntnis eines preußischen Gerichtshofs mit drei Monaten Gefängnis wegen angeblicher Beleidigung des ostasiatischen Expeditionskorps büßen soll, so wissen wir doch, dass er ein viel zu guter Parteimann ist, um sich nicht über den Erfolg zu freuen, den er für die Sache der Humanität und damit auch für die Sache der Arbeiterklasse erstritten hat.

Das Urteil der Strafkammer in Halle erinnert an die Praxis jenes Bären, der seinem schlafenden Herrn eine Fliege von der Stirn scheuchen wollte und ihm das Haupt mit einem schweren Steine zerschmetterte. Genosse Kunert hat vor ein paar Jahren in einer öffentlichen Rede die bekannte und im Ernste von keinem vernünftigen Menschen bestrittene Tatsache erwähnt, dass von Angehörigen des ostasiatischen Expeditionskorps schwere Missetaten in China begangen worden sind, und nach der Bekundung eines subalternen Polizisten, der allerdings andere, gewichtigere Zeugnisse gegenüberstanden, soll er für seine Äußerung eine Form gewählt haben, die der formalen Rechtsprechung, wie sie bei uns landesüblich ist, eine Handhabe zum Einschreiten bot. Es versteht sich, dass diese Handhabe nicht unbenutzt blieb. So wurde den Worten des Genossen Kunert eine Bedeutung beigelegt, die sie an und für sich – er wird diese Bemerkung nicht missverstehen – nicht gehabt haben würde. Die Erwähnung einer notorischen Tatsache brauchte die elefantendicke Haut des Militarismus nicht einmal zu kitzeln; indem Moloch aber mit blinder Wut darauf losstürmte, rannte er sich an dem Spieße des Gegners auf, so dass man nun durch das auseinanderklaffende Fell sein ganzes inneres Nervensystem in aller Gräulichkeit studieren kann.

Die Strafkammer in Halle hat die formale Handhabe, die sich ihr bot, dazu benutzt, den Genossen Kunert wegen formaler Beleidigung zu verurteilen. Das war nicht anders zu erwarten bei dem ganzen Charakter und dem historischen Wesen unserer gelehrten Rechtsprechung. Juristisch mag die Sache in Ordnung sein, das heißt natürlich nach den Begriffen einer Justiz, die dem Rechtsempfinden des Volkes vollkommen entfremdet und von ihrem antiken Muster gänzlich abgeirrt ist. Der Jurist, sagten die römischen Juristen, habe nur auf id, quod plerumque fit, zu sehen, „auf das, was meistens geschieht". Ein römischer Jurist – und das moderne Recht der kapitalistisch produzierenden Nationen ist bekanntlich nichts als ein mehr oder minder misslungener Abklatsch des römischen Rechtes – würde also den Genossen Kunert freigesprochen haben, da dieser massenhafte Gräueltaten, die von Angehörigen des ostasiatischen Expeditionskorps begangen worden sind, allerdings schlüssig bewiesen hat. Umgekehrt deduziert die Strafkammer in Halle: Da Kunert nur die Regel, aber nicht die Ausnahmen ins Auge gefasst und zum Maßstab seines Urteils gemacht hat, so ist er wegen Beleidigung der Chinakämpfer zu verurteilen.

Lassen wir indessen die juristische Seite der Sache und halten wir uns an ihre historische Seite. Da hat nun die Strafkammer in Halle eine Unmasse patriotischer Geschichtsliteratur als kriminell abgestempelt. Wenn die Häusser, Sybel, Treitschke und wie sie sonst heißen von den „Plünderungen der napoleonischen Marschälle" in Deutschland schreiben, so waren sie nach Ansicht der Richter in Halle leichtfertige Lästerer, denn Plünderer, wie jene Marschälle in der Regel sein mochten, so gab es doch Ausnahmen unter ihnen, durchaus ehrenwerte und saubere Charaktere, wie Macdonald und diesen oder jenen sonst noch. Oder wie kann man, ohne sich der Lästerung schuldig zu machen, von den namenlosen Gräueln sprechen, mit denen die englischen Truppen in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts den indischen Aufstand niederwarfen, oder von den nicht minder scheußlichen Gräueln, womit ungefähr gleichzeitig die französischen Truppen in China hausten? Denn es untersteht nicht dem geringsten Zweifel, dass sich sowohl unter den englischen wie unter den französischen Truppen Offiziere und Mannschaften genug befanden, die sich von aller grausamen Kriegführung frei gehalten und über die von ihren Kameraden verübten Scheußlichkeiten so schroff geurteilt haben, wie anständig und human denkende Menschen nur immer darüber urteilen können.

Jedoch das Urteil der Strafkammer in Halle gleicht auch jenem Speere des Achilles, der die Wunden heilte, die er schlug. Mag es juristisch und historisch noch so anfechtbar sein, so huldigt es einer unanfechtbaren Wahrheit, indem es sagt: Solche Sachen kommen doch in allen Kriegen vor. Selbstverständlich meinen wir nicht, dass der Satz wahr sei, weil ihn eine preußische Strafkammer ausgesprochen hat; wäre es nur dies, so wäre eher darauf zu wetten, dass er ein gründlicher Irrtum sei. Mit Strömen von Blut und Schmutz ist er auf alle Blätter einer Geschichte von Jahrtausenden geschrieben worden, aber es ist immerhin ein Ereignis, wenn ihn jetzt eine offizielle und noch dazu richterliche Behörde des klassischen Militärstaats mit dürren Worten bekennt als eine ganz selbstverständliche Sache so beiläufig in einem Bagatellinjurienprozess, den man sehr zu unrechter Zeit angestrengt hatte.

Was immer die Geschichte an bestialischen Gräueln zu berichten hat, die von Menschen an Menschen begangen worden sind, das wird erreicht von dem, was vor den gerichtlichen Schranken in Halle über Angehörige des ostasiatischen Expeditionskorps unter dem Zeugeneid ausgesagt worden ist. In eitel Zunder ist die Heuchlermaske zerfallen, unter der die deutschen Patrioten so tapfer über die plackenden und plündernden, marternden und mordenden Heereszüge anderer Völker geschmäht haben. Es steht darin bei ihnen nicht anders, nicht besser und nicht schlimmer, als bei anderen Völkern, denn der Krieg ist ein Götze, der seiner nicht spotten lässt, von keinem derer, die ihn anbeten. Er verbestialisiert die Menschen, mögen sie wollen oder nicht; mag er aus diesen Gründen geführt werden oder aus jenen, mag er jene Ziele haben oder diese, mag er ein sogenannter heiliger Verteidigungs- oder ein sogenannter ruchloser Raubkrieg sein: Krieg ist immer Krieg, und es bleibt bei der trostlosen Wahrheit, die nun auch eine preußische Strafkammer verkündet hat: Solche Sachen kommen doch in allen Kriegen vor.

Noch einmal: Diese Wahrheit ist längst jedem bekannt, der sich je mit der Geschichte des Krieges beschäftigt hat. Die herrschenden Klassen jeder Nation lieben es nur, die Berge von Schmutz vor der eigenen Türe zu übersehen und desto eifriger vor der Türe des Nachbarn zu fegen. Französische Truppen plündern immer, aber deutsche Truppen plündern nie: So heißt es diesseits der Vogesen, und jenseits heißt es umgekehrt. Aber immer ist nur wahr, was man dem Gegner vorwirft, was man von sich selbst rühmt, ist es nie. Denn da solche Sachen nach der autoritativen Ansicht der Strafkammer in Halle in allen Kriegen vorkommen, so ist es klar, dass der Krieg selbst ihr Erzeuger sein muss, wie er es denn auch ist. Wenn die Menschen wie wilde Tiere übereinander herfallen, so werden sie eben zu wilden Tieren. Es gibt keine Logik, die einfacher und schlüssiger wäre.

Nichts ist freilich törichter oder mindestens zweckloser, als darüber in sentimentales Jammern auszubrechen, wie es die bürgerlichen Friedensschwärmer tun. Die drehen sich ewig im Kreise und kommen deshalb keinen Schritt vorwärts. Da loben wir uns die Strafkammer, in Halle, die selbst ein zorniges Wort über unsagbare Gräuel mit dem kategorischen Verdikt niederschlägt: Solche Sachen kommen doch in allen Kriegen vor. Sie setzt den Krieg als eine unausrottbare Erscheinung voraus, als ein „Element in Gottes Ordnung", wie Moltke zu sagen pflegte, dessen Gott eine merkwürdige Ähnlichkeit mit dem aztekischen Vitzliputzli gehabt haben mag. Aber wenn wir einmal den Herrgott aus dem Spaße lassen, so hat Moltke darin recht, dass der Krieg ein unentbehrliches Element der Klassenherrschaft ist, und so ist auch die Strafkammer in Halle allen bürgerlichen Friedensschwärmern überlegen, wenn sie mit kühler Gelassenheit erklärt, Gräuel, die den Namen der Menschheit schänden, seien vom Kriege unzertrennlich.

Das gilt vom Kriege, wie es von der Klassenherrschaft gilt, deren notwendige Begleiterscheinung der Krieg ist. Unter den historischen Umständen, die heute obwalten, ist der Krieg nicht zu beseitigen ohne die kapitalistische Gesellschaft, aber mit der kapitalistischen Gesellschaft fällt auch der Krieg dahin. Der moderne Krieg ist das Kind des modernen Kapitalismus, wie der feudale Krieg das Kind der feudalen oder der antike Krieg das Kind der antiken Gesellschaft war. Blut- und schmutztriefend wie er ist, vom Scheitel bis zur Zehe, ist er das würdige Kind seiner Mutter.

Nichts wäre erfreulicher, als wenn die Strafkammer in Halle den psychologischen Scharfsinn, den sie am Kinde so trefflich bewährt hat, nun auch an der Mutter erproben wollte. Aber darüber werden wohl noch einige Tropfen Wasser die Saale hinabfließen.

Kommentare