Franz Mehring 19010501 Militarismus und Sozialdemokratie

Franz Mehring: Militarismus und Sozialdemokratie

1. Mai 1901

[Die Neue Zeit, 19. Jg. 1900/01, Zweiter Band, S. 129-133. Nach Gesammelte Schriften, Band 8, S. 46-51]

Als wir vor drei Wochen einige Betrachtungen über den Kamaschendrill anstellten, begründeten wir diese Auffrischung alter Wahrheiten mit der emsigen Maulwurfsarbeit derjenigen bürgerlichen „Arbeiterfreunde", die dem Proletariat den heutigen Militarismus schmackhaft machen wollen. Inzwischen hat einer dieser Maulwürfe, dem wir übrigens persönlich mit diesem Vergleich nicht zu nahe treten möchten, da wir in ihm einen ebenso begabten wie ehrlichen Gegner schätzen, inzwischen also hat der nationalsoziale Herr v. Gerlach ein neues Erdhäufchen aufgeworfen, über das er die Partei stolpern lassen möchte: Er hat sich von dem österreichischen Genossen Daszyński ein Gutachten über Militarismus und Sozialdemokratie erbeten und glaubt dieses Gutachten gegen die deutsche Partei ausspielen zu dürfen.

Unseres Erachtens tut er das mit vollem Unrecht. Genosse Daszyński sagt sehr richtig: „Der Militarismus tritt bei uns nicht so stramm auf wie in Deutschland, und es ist natürlich, wenn die Akzente der Feindseligkeit auf unserer Seite ein wenig andere sind als vielleicht anderswo. Aber prinzipiell ist die Sozialdemokratische Partei in Österreich genauso gegen den Militarismus wie die deutschen Genossen." Im vorigen Sommer waren wir zufällig Zeuge, wie ein Haufe norddeutscher Touristen, die alle „Volk in Waffen" gewesen waren, in einem tirolischen Marktflecken die Hände über den Kopf zusammenschlugen, voll Entsetzen über die Gemütlichkeit oder, wie sie es nannten, „Loddrigkeit", womit ein Bataillon Innsbrucker Kaiserjäger, die unseres Wissens zu den Elitetruppen des österreichischen Heeres gehören, einige Exerzierübungen machten, ehe es ins Manövergelände abrückte. In der Tat ist schon der „Akzent" zwischen Offizieren und Mannschaften im österreichischen Heere ganz anders als im reichsdeutschen, wie der oberflächlichste Beobachter auf den ersten Ton hört; nichts selbstverständlicher also, als dass die österreichischen Genossen in ihrem Kampfe gegen den Militarismus einen anderen „Akzent" der Feindseligkeit anschlagen als die deutsche Partei, bei aller im Prinzip gemeinsamen Opposition.

Die tieferen Gründe, weshalb der österreichische Militarismus nicht so „stramm" auftritt wie der unserige, hat übrigens Genosse H. Schulz in Wien schon vor einiger Zeit an dieser Stelle auseinandergesetzt, siehe „Neue Zeit" XVII, 2, S. 614. Österreich besitzt nicht den traditionellen Kriegsadel, mit dem das Deutsche Reich geplagt ist, jenes ostelbische Krautjunkertum, das eben jetzt seine militaristische Herrlichkeit missbraucht, um dem großen Industrieland Deutschland mit seinen Brotwucherplänen das Messer an die Kehle zu setzen. Von welchem Kaliber diese Rasse ist, weiß Herr v. Gerlach ja noch viel besser als wir, da er selbst als weißer Rabe ihrem Nest entflattert ist. Es ist beiläufig ein heiterer Zufall, dass Herr v. Gerlach, während er im Leitartikel seiner „Welt am Montag" einen österreichischen Genossen vor den Karren des von seinen „Standesgenossen" kommandierten Militarismus spannen will, im Briefkasten derselben Nummer sich also vernehmen lassen muss: „Verehrter Herr Standesgenosse, Sie haben meine Neugier wirklich aufs äußerste erregt. Wie wollen Sie mich behandeln, hauen oder sonst was tun? … Einen Revolver pflege ich übrigens nicht zu tragen. Vielleicht bestärkt das Ihren Mut." Als Nationalsozialer, das will sagen als verkörperter Widerspruch, ist Herr v. Gerlach bei aller Militärfrömmigkeit ein ehrlicher und energischer Gegner des Brotwuchers, und in diesem delikaten Punkte verstehen unsere Junker nun einmal keinen Spaß.

Auf Herrn v. Gerlachs gequälte Versuche, den an ihn gerichteten Brief des Genossen Daszyński gegen die deutsche Partei auszumünzen, gehen wir nicht näher ein. In dem für ihn günstigsten Falle würde er bewiesen haben, dass in der Nacht der Begriffsverwirrung allerdings alle Katzen grau sind. Um wenigstens noch ein mit wenigen Worten zu erledigendes Beispiel anzuführen, so sagt Genosse Daszyński, wenn die Französische Republik in den Händen der radikalen Demokratie wäre, so würden ihr auch die Sozialdemokraten die beste Organisation ihrer militärischen Streitkräfte wünschen, während ihre Wünsche für das zarische Russland die umgekehrten sein müssten. Darauf antwortet Herr v. Gerlach: Nun, schließlich ist alles relativ, der russische Militarismus ist in seiner Weise auch ein Kulturbringer, er schuf die Vorbedingungen einer Zivilisation bei Tscherkessen und Kirgisen, Afghanen und Turkmenen. Wir lassen die Richtigkeit oder Unrichtigkeit der behaupteten Tatsache selbst dahingestellt und bewundern nur die ebenso einfache wie niederschmetternde Logik; nächstens wird Herr v. Gerlach wohl noch verlangen, dass sich die Sozialdemokratie für Herrn Stoecker begeistern soll, denn relativ ist auch Herr Stoecker, was wir bereitwillig zugeben, ein Kulturbringer, beispielsweise wenn man ihn mit einem australischen Menschenfresser vergleicht.

Im allgemeinen lassen sich leicht ein paar flüchtige Briefzeilen über eine prinzipielle Frage bei einigem guten Willen so lange prügeln, bis sie einen Sinn gestehen, den sie nie gehabt haben; wenn aber Herr v. Gerlach, der neben einem beträchtlichen Maße guten Willens ein nicht minder beträchtliches Maß dialektischer Gewandtheit zu diesem Folterprozess mitbringt, doch nur zu so dürftigen Ergebnissen kommt, so ist damit erwiesen, dass prinzipiell der Brief des Genossen Daszyński mit der Stellung der deutschen Partei zum Militarismus übereinstimmt, abgesehen von dem verschiedenen „Akzent", der durch die historische Verschiedenheit des österreichischen und des reichsdeutschen Staatswesens bedingt wird. Der Triumph des Herrn v. Gerlach, dass die Parole: Kanonen gegen Volksrechte, wieder auferstehe, ist also sehr am unrechten Orte, ganz abgesehen davon, dass niemals auferstehen kann, was niemals gelebt hat und also auch niemals gestorben ist. Herr v. Gerlach weiß ja recht gut, dass der Urheber jenes geflügelten Wortes es im korrekt sozialdemokratischen und nicht im unzulässig nationalsozialen Sinne ausgesagt hat.

Genosse Daszyński sagt über dies geflügelte Wort, eine Schablone sage da nichts, was vollkommen richtig ist, aber von Herrn v. Gerlach so ausgelegt wird, als sei Genosse Daszyński ein Freund oder doch „kein Gegner" dessen, was Herr v. Gerlach selbst einen „Kuhhandel" nennt. Hierüber möchten wir uns mit dem nationalsozialen Gegner ein wenig näher unterhalten. Wir wollen ihm nicht selbst die Stellung der Sozialdemokratie zum Militarismus auseinandersetzen, denn er hält die „Neue Zeit" und ihre Mitarbeiter für „versteinerte Marxisten", was in seinem Munde etwa bedeutet, dass wir an politischer Intelligenz mit den Tscherkessen und Kirgisen, Afghanen und Turkmenen in derselben Reihe rangieren. Vielmehr sei es uns gestattet, einen Genossen zu zitieren, zu dem Herr v. Gerlach ein besseres Zutrauen hat, zumal dieser Genosse den heutigen Militarismus so erschöpfend und zugleich knapp geschildert hat, wie es sonst kaum in der Parteiliteratur geschaffen ist.

Genosse Schippe! schrieb in der „Neuen Zeit" zur Maifeier des Jahres 1893 wie folgt:

Unser Militärsystem – die militärische Verfassung, wie sie heute die Bourgeoisie erstreben muss und gar nicht anders erstreben kann, um sich nach außen unüberwindlich und doch zugleich nach innen sicher zu fühlen – ruht auf dem unbegrenzten Übergewicht des leitenden Apparats über die einverleibte, in den Kasernen und auf den Exerzierplätzen gedrillte Masse. Um jederzeit gegen das rivalisierende Ausland die Millionenheere bereit zu haben, ohne die heute eine kontinentale Großmacht undenkbar ist, sieht sich die Bourgeoisie gezwungen, möglichst das ganze Volk mit den Waffen vertraut zu machen. Ein Volk in Waffen kann aber, wenn es sonst dazu reif ist, mit einem Schlage jede Herrschaft einer begünstigten Minorität von sich abschütteln; gefügiges Werkzeug innerhalb der heutigen Klassenordnung wird es nur so lange bleiben, wie seine formierten Reihen niemals eigenen Willen und eigenes Leben gewinnen, nur so lange, wie Leben und Bewegung der ganzen furchtbaren Organisation ausschließlich von einem besonderen, vom Leben der Masse möglichst losgelösten Zentrum ausgehen, dem die Scharen der ,Dienenden' in blindem Kadavergehorsam unterworfen sind.

Nicht die Sicherung nach außen zwingt zu dieser Art von Disziplin, denn große, siegreiche Kriege sind in Zukunft nur noch unter einer Entflammung der Volksleidenschaften denkbar, die alles erfassen und mit sich fortreißen müssten, dass dagegen das bisschen Disziplin in seinem Einfluss vollständig verschwinden würde. Auch die Gefechtsweise ist durch das moderne Schnellfeuer derart umgestaltet, dass vor dem Feinde kein Befehlshaber mehr wie früher seine Leute ,in der Hand behält'; der einzelne Mann muss durch seine Findigkeit und Beweglichkeit ersetzen, was die Truppe an Geschlossenheit und Einheitlichkeit verliert. Aber die alte Form der militärischen Disziplin, für Kriegszwecke nicht nur überflüssig, sondern sogar zum Hemmnis der vollen moralischen Kraftentfaltung der Truppen geworden, ist heute um so unentbehrlicher für die innere Politik der Bourgeoisie, deren Götterdämmerung hereinbrechen würde, wenn der Sklave, den sie bewaffnen musste, sich als der Herr der organisierten Gewalt zu fühlen begänne. Je mehr die allgemeine gesellschaftliche Entwicklung sein Selbstgefühl und seinen Unabhängigkeitssinn weckt und stärkt, desto mehr muss ihm der militärische Drill diese gefährlichen Geister auszutreiben suchen. Sind die Väter bereits unzuverlässig geworden, so sollen im Notfall immer noch die Söhne bereit sein, für die Erhaltung der alten Ordnung auf die Väter zu schießen.

So sind wir denn ganz folgerichtig mit vollem Dampfe in einen Zustand hineingetrieben, den eigentlich jedermann als eine unerträgliche Qual, als eine beschämende Barbarei empfindet, den abzuändern jedoch für die herrschenden Klassen zur Unmöglichkeit geworden ist. Diese, durch unversöhnliche Interessen voneinander geschieden, überbieten sich in den einzelnen Ländern in Rüstungen, um in der letzten Instanz für alle Streitfragen, beim Appell an Pulver und Blei, jederzeit über den Gegner obsiegen zu können. Je gefürchteter die Elemente sind, welche die Bourgeoisie in ihre Armeen einreihen muss, je unheimlicher ihr bei diesem Beginnen zumute wird, desto eherner werden die Klammern, mit denen sie das alte, auseinanderstrebende Gefüge zusammenzuhalten sucht."

Genosse Schippel schildert dann, wie der Militarismus, seinem Wesen nach ein Geschöpf des bürgerlichen Zeitalters, seinem Schöpfer gerade in Deutschland über den Kopf gewachsen ist, und sagt weiter:

Wie die deutsche Arbeiterklasse in den vordersten Reihen des internationalen Klassenkampfes ficht, so ist ihr auch der Kampf gegen den Militarismus in erster Reihe zugefallen. Von Deutschland aus hat er seinen Siegeszug um den Kontinent angetreten; in Deutschland hat er die höchste Staffel seiner Macht erreicht, hat er die Bourgeoisie am tiefsten unter sein Joch gebeugt. Er mag hier vielleicht nicht die drohendste Form nach außen hin angenommen haben; nach innen zu, in seiner Missachtung alles höheren Kulturstrebens, in seinem ingrimmigen Kampfe gegen alle freieren Volksregungen, in seiner Degradierung des wehrhaften Mannes zum willenlosen Werkzeug einer von der herrschenden Klasse selbst wieder abgesonderten Kaste, mit einem Worte: in seiner .Erziehung' des bewaffneten Volkes zu einer ehernen Phalanx gegen die vorwärtstreibenden Elemente des Volkes, vor allem gegen das sozialistische Proletariat – in alledem ist der Militarismus in Deutschland am meisten entwickelt."

Aus diesen Darlegungen Schippels, die in geradezu musterhafter Weise die Stellung der Sozialdemokratie zum Militarismus kennzeichnen, ergibt sich klar, was von dem Schlagworte: Kanonen gegen Volksrechte zu halten ist. Ist erst das oberste Volksrecht gesichert, ist jeder wehrhafte Bürger des Staates zugleich ein freier Mann, der aus eigenem Rechte seine Waffen trägt, wenn er in den Reihen des nationalen Heeres das Vaterland verteidigt, so kann die Partei Kanonen bewilligen, soviel ihrer für die Zwecke der nationalen Verteidigung nötig oder wünschenswert sind. Dies Volksrecht wird nun freilich von der herrschenden Klasse niemals freiwillig gewährt, es kann nur durch die Arbeiterklasse erobert werden. Von allen anderen Volksrechten aber muss man sagen, dass der Vorschlag, sie gegen Kanonen einzuhandeln, der kompletteste Nonsens ist, und zwar nicht bloß gegenüber dieser oder jener besonders reaktionären, sondern gegenüber jeder bürgerlichen Regierung.

Sehr mit Recht macht Schippel die Bourgeoisie als solche für den modernen Militarismus verantwortlich. Ein „traditioneller Kriegsadel" und ähnliche Umstände mögen ihn hier noch gemeingefährlicher machen als dort, aber im Wesen der Sache steht und fällt er mit der Herrschaft der Bourgeoisie. In den bürgerlichen Parteien des Deutschen Reiches ist Eugen Richter der verhältnismäßig konsequenteste Gegner des Militarismus, und man lese nur in den berühmten Memoiren seiner Spar-Agnes1, wie er der Sozialdemokratie ihre prinzipielle Gegnerschaft gegen den heutigen Militarismus als abscheuliches Verbrechen anrechnet. Eine noch deutlichere Sprache führen die Vorgänge der letzten Jahre in Frankreich; selbst in einer bürgerlichen Republik sind die Volksrechte auf Sand gebaut, solange der Alp des Militarismus auf ihr lastet. Unter solchen Umständen läuft der Vorschlag, Kanonen gegen Volksrechte zu gewähren, darauf hinaus, dem Todfeind formidable Zwinguris zu errichten, wenn er als Gegenleistung einige Kartenhäuser für das Volk erbaut.

Trotzdem wird man sich vor einer Schablonisierung hüten müssen. So sehr die Bourgeoisie sich bemüht, alles zu unterdrücken, was im heutigen Militarismus dank seiner inneren Dialektik zum Volksrecht der Volkswehr drängt, so vermag sie es doch nicht völlig, und alle Ansätze dieser Art zu stärken liegt allerdings im Interesse der Sozialdemokratie. Sie kann eine bessere Verpflegung oder eine zweckmäßigere Bekleidung der Mannschaften, kurzum alles bewilligen, was die völlige Versklavung der im heutigen Heere „dienenden" Massen zu paralysieren geeignet ist. Nicht jedoch würden hierher Reformen gehören, die so oder so darauf abzielen, die Machtmittel des modernen Militarismus zu verstärken. Wie die Sozialdemokratie der „ehernen Phalanx" gegen die Arbeiterklasse Kanonen überhaupt verweigert, so kann sie ihm auch nicht technisch verbesserte Kanonen bewilligen.

Der Einwand, dass sie dann die eigenen Landeskinder mit unzulänglichen Waffen gegen den auswärtigen Feind senden wolle, ist aus einem doppelten Grunde hinfällig. Solange sie das Heerwesen nicht als nationale Volkswehr ordnen kann, ist die Frage der Bewaffnung gar nicht von ihr abhängig; sie muss dann die Verteidigung des Landes der Bourgeoisie überlassen, die es aus den von Schippel angeführten Gründen auch so gut macht und machen muss, als es unter den obwaltenden Umständen möglich ist. Liegt es aber erst in der Hand der Sozialdemokratie, praktisch zu entscheiden, ob und welche Kanonen eingeführt werden sollen oder nicht, dann ist sie auch stark genug, die allgemeine Volkswehr durchzusetzen, die gegen den auswärtigen Feind eine ungleich schärfere Waffe sein wird, als der heutige Militarismus, eben wegen seiner „beschämenden Barbarei", sein kann.

1 Eine Figur aus Eugen Richters antisozialdemokratischem Pamphlet „Bilder aus der Gegenwart", auf das Mehring 1892 mit seiner Broschüre „Herrn Eugen Richters Bilder aus der Gegenwart" antwortete.

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