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Es waren zuerst die Erfahrungen des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs1, die dem Kampfe der bürgerlichen Aufklärung gegen die stehenden Heere und für die Miliz, der zunächst doch nur mit ideologischen Gründen geführt wurde, eine praktische Handhabe boten. Nun ist es bekannt und braucht nicht nochmals ausgeführt zu werden, dass diese Erfahrungen eine völlige Umwälzung der bisherigen Strategie und Taktik einleiteten, aber ein durchschlagender Beweis für die Behauptung, dass eine Miliz unter allen Umständen einem stehenden Heere überlegen sei, waren sie nicht.

Aus den Briefen Washingtons wissen wir, dass der siegreiche Feldherr der amerikanischen Rebellen keineswegs erbaut davon war, eine Miliz zu kommandieren, sondern sich danach sehnte, ein stehendes Heer zu befehligen. Er selbst war „gedienter" Offizier wie eine Anzahl seiner Mitbefehlshaber; der eigentliche Exerziermeister seiner Milizen war sogar der altpreußische Offizier Steuben, der ehemals als Kapitän zum Stabe des Alten Fritz gehört hatte. Nicht als ob diese Offiziere die Überlegenheit der neuen Kriegsweise verkannt hätten, die sich aus den sozialen Zuständen der amerikanischen Rebellen ergab; Steuben erklärte beim Ausbruch der europäischen Revolutionskriege einem deutschen Besucher, die französischen Freiwilligen führten denselben Krieg wie die amerikanischen Farmer und würden wie diese unbesiegbar sein.

Aber die neue Kriegsweise war auch stehenden Heeren zugänglich, und diese als solche unter die Miliz als solche zu stellen, waren Washington und seine Gefährten keineswegs geneigt. In der Tat wurden die amerikanischen Milizen nicht einmal mit dem englischen Söldnerheer fertig, das überwiegend aus dem – militärisch – unbrauchbarsten Material bestand, aus den deutschen Landeskindern, die mit brutaler Gewalt von schuftigem Fürstengesindel an die englische Regierung verkauft worden waren2. Erst mit einem französischen Hilfskorps regulärer Truppen vermochte Washington den entscheidenden Schlag zu führen. Es ist damit natürlich nicht gesagt, dass die amerikanischen Rebellen auf die Dauer nicht doch das Feld behauptet hätten, aber die Verteidiger der stehenden Heere konnten sich darauf berufen, dass diese die Gräuel des Krieges abzukürzen fähig, also gerade im Interesse des menschlichen Fortschrittes den Milizen vorzuziehen seien.

Die nunmehrigen Vereinigten Staaten konnten dank ihrer geographischen Lage auf ein stehendes Heer verzichten. Wirklich zu lösen war die Streitfrage ob Miliz, ob stehendes Heer nur unter den großen Mächten des europäischen Kontinents. Und hier wurde sie zehn Jahre nach dem Schluss des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs zunächst für Frankreich brennend, als sich die Heere des feudalen Europa heran wälzten, um die Französische Revolution zu ersticken, die das altfranzösische Heer innerlich zerrüttet hatte, so dass Frankreich bis zu einem gewissen Grade waffenlos einer ungeheuren Übermacht gegenüberstand3. Die Gefahr war so groß wie nahe, und namentlich die Masse der Nation, das Landvolk, hatte ein so unmittelbares Interesse, für die Verteidigung des Landes zu kämpfen, wie es sich selten ergeben wird. In der Tat strömten denn auch die Freiwilligen in heller Begeisterung und in dichten Massen an die bedrohten Grenzen.

Wie aber waren nun die militärischen Leistungen dieser Milizen? Unter den zahlreichen übereinstimmenden Zeugnissen, die darüber vorliegen, wollen wir die Berichte des Mannes hervorheben, der es nach einem bekannten Worte verstanden hat, den Sieg der Französischen Revolution zu organisieren: nämlich Carnots. Im März 1793 waren die Franzosen unter Dumouriez von einem österreichisch-preußischen Heere unter dem Prinzen Josias von Coburg geschlagen worden. Das geschlagene Heer löste sich danach durch Desertion der Freiwilligen so ziemlich auf; Dumouriez selbst gesteht, dass Frankreich infolgedessen eine Zeitlang so gut wie vollkommen wehrlos gewesen und nur dadurch gerettet worden sei, dass die gegen Frankreich verbündeten Heere untätig blieben und sich monatelang mit unbedeutenden Unternehmungen an der Grenze aufhielten. Bestätigt wird seine Darstellung durch Carnot, der nach der Schlacht vom Konvent zur Armee gesandt wurde. Er fand sie in dem bedenklichsten Zustand moralischer Verkommenheit. Er klagt über die Lässigkeit und den Widerwillen der Truppen: über Plünderer, die selbst französische Dörfer verwüsten, über Sorglosigkeit, Feigheit, Mangel an Patriotismus. Als ein besonderes Übel, das die Armee zugrunde zu richten drohe, bezeichnet er die „Herde" von Weibsbildern, die sich ihr angeschlossen hätten; er meint, es seien ihrer ebenso viel wie Soldaten.

Besonders ausführlich berichtet Carnot über eine Expedition, die ein Teil der französischen Armee von Bergen aus nach Fürnes unternahm. Eine kleine holländische Besatzung wurde ohne eigentliches Gefecht vertrieben. Aber kaum waren die französischen Soldaten eingerückt, als sie anfingen, sich zu betrinken, zu plündern und ihre Patronen in die Luft zu verfeuern. Carnot und die Generale wussten dem Unfug nicht anders zu steuern als dadurch, dass sie den ganzen Trupp aufbrechen ließen zum weiteren Marsch nach Nieuport, der ursprünglich nicht beabsichtigt war. Man setzte sich in Bewegung, aber man kam nicht weit. Der Marsch erwies sich als unmöglich. „Fast alle waren mehr oder weniger betrunken; bei jedem Schritte fielen ihrer einige zu Boden; in den Reihen herrschte große Unordnung. Die Tornister der Soldaten waren dermaßen mit gestohlenen Gegenständen angefüllt, dass die Leute sie kaum tragen konnten. Bei den ersten feindlichen Vorposten, auf die man traf, fehlte es an Munition, weil ein großer Teil davon in dem Freudenfeuer verbraucht worden war, das man sich in Fürnes erlaubt hatte." So Carnot.

In solchem Zustand durfte man sich natürlich nicht in Gegenden wagen, wo man einem Feinde begegnen konnte. Man ging zurück nach Fürnes; dort blieb ein Teil der Truppen, während Carnot mit den übrigen am folgenden Tage den Rückzug nach Bergen fortsetzte. Er berichtet nun, dass zahlreiche Patrouillen ausgesandt worden seien, um neue Plünderungen zu verhindern, aber vergebens: „Während dieses Marsches hatten wir den Kummer, zu sehen, dass die Truppen sich nach allen Richtungen zerstreuten und dass außer den ungeheuer vollgepackten Tornistern, die sie auf den Schultern trugen, einige auch Hühner mitnahmen, andere Pferde, wieder andere Ochsen, Schafe und Schweine davon führten. Fast alle verfeuerten vollends die Munition, die ihnen ausgeteilt worden war." Alle Ermahnungen und Vorwürfe der Generale halfen zu gar nichts. Unterwegs wurde auch noch ein Dorf ganz unnützerweise angezündet und niedergebrannt.

Carnot berichtet über alle diese Dinge nicht als eine einmalige und außerordentliche, im allgemeinen unerhörte Erscheinung, sondern als etwas, was man nach der Zusammensetzung der Armee, wie sie nun eben sei, immer wieder erwarten müsse. Er fand es gerechtfertigt, dass man nichts weiter gegen Nieuport und Ostende unternommen habe, und fügte hinzu: „In der Tat, es ist unmöglich, mit Truppen dieser Art, wie brav sie auch sein mögen, an irgendeine ernsthafte Eroberung zu denken. Nichts widersteht ihrem ersten Anlauf, aber sowie der vollführt ist, reißt überall die Auflösung der Ordnung ein, und wenn der Feind zurückkehren sollte, so hinge es nur von ihm ab, sie niederzumetzeln." Wie Carnot diesem Zustand gesteuert hat, ist bekannt, im August 1793 übertrug ihm der Wohlfahrtsausschuss4 die Leitung des gesamten Kriegswesens, und Carnot schuf ein kriegstüchtiges Heer, indem er die freiwilligen Scharen mit den alten Linienregimentern verschmolz.

In neuen Formen war es wieder ein stehendes Heer, das sich nun auch fähig erwies, Eroberungen zu machen, und noch dazu welche Eroberungen! Es zeigte sich alsbald, dass die neue Kriegsweise, die von den amerikanischen Rebellen angebahnt worden war, keineswegs untrennbar mit der Miliz zusammenhing. Gerade das französische Heer brachte sie zur höchsten Vollendung, obgleich es sich in seinen Formen mehr und mehr den alten Söldnerheeren näherte. Die allgemeine Wehrpflicht wurde zugunsten der besitzenden Klassen durch die Stellvertretung zerstört, und der größte Kriegsmeister des französischen Heeres bevorzugte dermaßen alte Berufssoldaten, dass er mit ganz ungebührlicher Geringschätzung auf Volkswehren herabsah, was ihm an den Tagen von Großbeeren und Dennewitz5 und manchen anderen Tagen noch denn auch übel genug bekommen ist.

Klarer noch als bei Washington und Carnot tritt die Vorliebe für die stehenden Heere bei Scharnhorst hervor. Gegenüber den Anklagen der bürgerlichen Aufklärung ist er schon früh ihr beredtester Verteidiger geworden. Nicht als ob er für die alten Söldnerheere geschwärmt hätte; er durchschaute alle ihre Gebrechen und befürwortete Reformen, von denen wir froh sein würden, wenn sie in dem heutigen Heere durchgeführt wären. Nichts war ungerechtfertigter, als wenn sich die Regierungsvertreter bei der Beratung der letzten Wehrvorlage auf Scharnhorst beriefen; sie meinten es auch gar nicht so schlimm, denn sonst wäre vor einigen Wochen der hundertste Todestag des Mannes nicht ohne allen offiziellen Klimbim vorübergegangen. Eine wohlverdiente Ehre für Scharnhorst, dem ein verjunkertes Heer in der Seele zuwider war. Auf der anderen Seite können wir Scharnhorst freilich auch nicht als Schwurzeugen für eine Miliz anrufen, wie wir sie fordern. Wir können wohl sagen, dass unsere Gedanken über Heeresverfassung eine folgerichtige Entwicklung der Gedanken sind, die sich Scharnhorst darüber machte, aber eine Miliz in unserem Sinne zu befürworten lag noch ganz außerhalb seines Gesichtskreises.

Scharnhorst war wesentlich ein historischer Kopf und begriff vollständig, dass sich unter den gegebenen historischen Verhältnissen die Kriege weder durch den witzigen Spott eines Voltaire noch durch die flammenden Anklagen eines Fichte aus der Welt schaffen ließen. Er begriff auch, dass die Heeresverfassung sich nicht nach einem beliebigen weisen oder unweisen Muster einrichten lässt, sondern eben auch an gegebene historische Verhältnisse gebunden ist. Er gab zu, dass die Miliz für eine Insel, eine Festung, ein kleines Land möglich sei, aber für die großen Staaten erklärte er stehende Heere für schlechthin notwendig. Selbst die „Rahmenarmee" Berenhorsts, die doch auch schon die rein philosophischen Anklagen gegen die stehenden Heere wesentlich eingeschränkt hatte, erklärte Scharnhorst für ungenügend; gerade in der Polemik mit Berenhorst entwickelte Scharnhorst, dass Sieg oder Niederlage auf dem Schlachtfeld nicht Sache eines blinden Zufalls seien, sondern dass auch die Kriegführung ihre historischen Gesetze habe.

Ursprünglich in friderizianischen Anschauungen aufgewachsen und der Anschauung nicht so gar fremd, dass nur der Stock die notwendige Disziplin aufrechterhalten könne und moralische Triebkräfte für den gemeinen Soldaten ausgeschlossen seien, lernte Scharnhorst aus den amerikanischen Unabhängigkeits- und noch mehr aus den französischen Revolutionskriegen, in denen er als hannöverscher Offizier mitgekämpft hatte. Aber er ist nie soweit gegangen, von moralischen Triebkräften allein die Disziplin zu erwarten, die die erste Vorbedingung einer erfolgreichen Kriegführung sei. Ein Heer, worin der unbedingte Gehorsam rein mechanisch geworden sei, werde immer einem Heere überlegen sein, das nur von politischer oder religiöser Begeisterung – „Schwärmerei", wie Scharnhorst sagt – in den Kampf getrieben würde.

Im Jahre 1801 trat Scharnhorst in das preußische Heer über, dessen Schäden er nun aus nächster Nähe und in bereits hervorragender Stellung gründlich studieren konnte. Die praktischen Reformen, die er nach französischem Muster vorschlug, scheiterten natürlich an dem Dünkel der altfritzigen Kamaschenknöpfe. Der bemerkenswerteste dieser Versuche ist eine Denkschrift aus dem Frühjahr 1806, die noch in zwölfter Stunde das Unheil, das dem altpreußischen Heere drohte, zu beschwören suchte.6 Sie zeigt Scharnhorsts Gedanken über Miliz und stehendes Heer sogar klarer als seine späteren praktischen Reformen, die er im Kampfe mit einer Welt von Hindernissen doch nur ruck-, stoß- und teilweise durchsetzen konnte.

Scharnhorst ging in dieser Denkschrift davon aus, dass im Kriege nicht nur physische Kräfte entschieden, sondern dass es ebenso sehr auf moralische Kräfte ankäme. Solle der drohende Krieg mit Frankreich siegreich bestanden werden, so müsse die Armee, die Nation und ganz Europa offenbar sehen, dass der König sich nur für die Unabhängigkeit des Staates schlüge, sich nur einer schändlichen Unterjochung widersetze. Dann könne er sich außerordentliche Hilfsmittel schaffen, einmal eine Vermehrung und dann eine zweckmäßigere Einrichtung des Heeres. Die Vermehrung sei nur in beschränktem Maße möglich; Scharnhorst rechnet etwa 25.000 Kombattanten. Ungleich wichtiger sei die Einrichtung einer Nationalmiliz. „Nur dadurch, dass man die ganze Masse des Volkes bewaffnet, erhält ein Kleines eine Art von Gleichgewicht der Macht in einem Defensivkrieg gegen ein Größeres, welches einen Unterjochungskrieg führt und angreift." Diesen Satz hat Scharnhorst selbst unterstrichen. Er begründet ihn damit, dass der Angreifer keinen zureichenden Grund habe, eine große Anstrengung der nationalen Kräfte, eine Bewaffnung der ganzen Volksmasse zu beanspruchen; ein erobernder Monarch dürfe und könne nicht soviel von seinen Untertanen verlangen wie ein angegriffener Monarch von einem Volke, das sich für seine Existenz zu schlagen gezwungen werde. Man sieht Scharnhorst hier ganz im Einklang mit Carnot: Hatte dieser gesagt, mit einer Miliz ließen sich keine Eroberungskriege führen, so sagt jener: Eine Miliz ist nur im Verteidigungskrieg brauchbar.

Da die altpreußischen Junkeroffiziere gegenüber dem drohenden Ungewitter des Krieges auch mit dem Gedanken einer Miliz zu spielen begonnen hatten, so verwahrt sich Scharnhorst gegen jede spielerische Miliz. Er hat mit eigener Hand den Satz in die Denkschrift eingeschaltet: „Eine kleine, unbedeutende Miliz würde eine halbe Maßregel sein und als solche mehr schaden als nützen." Er verlangt für seine Nationalmiliz die allgemeine Wehrpflicht; jeder Staatsbürger ohne alle Ausnahme soll in ihr dienen; die Befehlshaberstellen sollen der erste Adel und die ersten Zivilbediensteten erhalten. Scharnhorst rechnet 300.000 streitbare Männer, um die auf diese Weise das stehende Heer von 220.000 Mann vermehrt werden könne, wobei er noch von den polnischen Landesteilen absieht, die vor 1806 bekanntlich einen viel größeren Teil des preußischen Staates bildeten als nach 1806. Wenn danach nun also die Nationalmiliz um 80.000 Mann stärker sein würde als das stehende Heer, so ist Scharnhorst doch weit entfernt davon, sie diesem gleichzustellen.

Nur unter der Voraussetzung, dass die Armee zum dritten oder vierten Teile aus Nationalmiliz bestünde, würde diese, wie er weiter ausführt, recht angewandt, beinahe das leisten, was Feldtruppen leisten würden. Nie müsse dieser Teil der Nationalmiliz für sich allein agieren, sondern immer in Verbindung mit Feldtruppen die durchschnittenen Gegenden besetzen und den Teil der Feldtruppen verstärken, der zum Figurieren bestimmt sei, den Feind in Respekt halten und gewisse Posten verteidigen solle. Im übrigen müsse die Nationalmiliz bei allen Abteilungen der Armee als die leichtbewaffnete der Römer dienen, bei den Hauptkolonnen die Nebenwege gehen, die vorliegenden Gehölze und Gebüsche besetzen, dem Feind in die Flanke fallen usw., überall da agieren, wo es mehr auf die geschickte Benutzung der Umstände und auf das einzelne zerstreute Gefecht als auf das regelmäßige ankomme.

An dem stehenden Heere hat Scharnhorst in dieser Denkschrift nichts auszusetzen als die Unfähigkeit der oberen Befehlshaber, um mit einem Worte auszudrücken, was er natürlich in der für den König und die oberste Heeresleitung bestimmten Arbeit weitläufiger umschreibt. Er hat auch hier aus dem französischen Vorbild gelernt, wozu dann noch der berechtigte Hass des Bauernsohnes kommen mochte, dem das hochmütige Junkerpack das Leben sauer machte. Scharnhorst verlangt nicht gerade die Guillotine, womit der Wohlfahrtsausschuss fähige Generale machte, aber er fordert, dass beim Ausmarsch alle anerkannt unfähigen Befehlshaber beseitigt und nach jeder unglücklichen Affäre mehrere der Offiziere, die dabei Fehler gemacht hätten, unbarmherzig kassiert werden sollten. Die Verantwortlichkeit müsse in einem Grade erhöht werden, dass kein Mensch von gewöhnlichen Charakter- und Geisteseigenschaften mehr nach den ersten Stellen im Heere trachte.

Alles in allem zeigt diese Denkschrift Scharnhorsts, dass er die Miliz nur als eine minderwertige Ergänzungs- und Hilfstruppe des stehenden Heeres betrachtete. Ihrem leitenden Gedanken ist er denn auch treu geblieben, als er nach der Schlacht bei Jena das preußische Heerwesen nach den Grundsätzen der modernen Strategie und Taktik umschuf. Zunächst handelte es sich ihm immer um das stehende Heer, ihm wie seinen Gefährten Gneisenau, Grolman und Boyen. Gneisenau hat gelegentlich wohl eine wegwerfende Äußerung über die stehenden Heere gemacht, aber gerade Gneisenau hat gelegentlich auch wieder schroffer als die anderen an den Überlieferungen selbst des Söldnerheeres festgehalten, sogar gegen den Einspruch des Generalauditeurs das Recht des Offiziers durchgesetzt, einen widerspenstigen Soldaten auf der Stelle niederzumachen.7

Bekanntlich gelangte Scharnhorst erst im Jahre 1813, mit dem Ausbruch des Krieges gegen Frankreich, an sein Ziel, eine Nationalmiliz einzurichten und die allgemeine Wehrpflicht durchzusetzen, diese auch nur für die Dauer des Krieges. Die Landwehr – wie sie auf einen deutschen Namen getauft wurde – hatte nun wirklich mit den französischen Freiwilligen von 1792 nichts gemein; sie hatte überhaupt verzweifelt geringe Ähnlichkeit mit einer demokratisch organisierten Miliz. Der Freiwilligkeit wurde dabei nur der Spielraum gelassen, dass jeder sich freiwillig meldende Wehrmann zum Gefreiten ernannt wurde, eine Bestimmung, die schon zeigt, wie wenig Scharnhorst auf eine massenhafte Beteiligung Freiwilliger rechnete. Die preußische Landwehr war im Wesen der Sache kaum mehr als eine ungleich dürftiger ausgestattete Kopie des stehenden Heeres; Gneisenau ist bei der Organisation der schlesischen Landwehr, trotz seiner berühmten Abhandlung über die Freiheit der Rücken, nicht davor zurückgescheut, die barbarischen Körperstrafen des Söldnerheeres anzuwenden.8

In dem Frühjahrsfeldzug von 1813 hat die Landwehr, mit Ausnahme einiger ostpreußischen Bataillone, noch gar nicht mit gefochten; erst nach Ablauf des Waffenstillstandes von Poischwitz9 Mitte August, also erst fünf Monate nach der Kriegserklärung, war die Landwehr felddienstfähig.

Die märkischen und pommerschen Bauern haben sich bei Großbeeren und Dennewitz dann gleich vortrefflich geschlagen; langsamer ging es mit der schlesischen Landwehr, mit den blutarmen Leinewebern, die durch die Fremdherrschaft nichts verloren hatten und durch deren Abschüttlung nichts gewinnen konnten. Sie ist noch nach der siegreichen Schlacht an der Katzbach haufenweise von den Fahnen entwichen; erst in der verhältnismäßigen Waffenruhe im September wurde sie so weit gedrillt, dass sie am 3. Oktober bei Wartenburg und am 16. Oktober bei Möckern ihre Feuertaufe glänzend bestehen konnte.

Es geschah unter furchtbaren und ganz unverhältnismäßigen Verlusten; das Korps Yorcks, der preußische Kern des schlesischen Heeres, war bei seiner Ankunft am Rhein von 40.000 auf 10.000 Mann zusammengeschmolzen. Entgegen den ursprünglichen Plänen Scharnhorsts war die Landwehr auch nicht die leichtere Truppe geworden, die nur die nebensächlichen Aufgaben des Korps zu lösen hatte, sondern ganz im Gegenteil! Es gehört zu den liebenswürdigen Eigenschaften der stehenden Heere, zwar mit unsäglicher Verachtung auf alle Miliz herabzuschauen, aber ihr mit großer Bereitwilligkeit die eigentliche Blutarbeit zu überlassen. Die Gefechte und Schlachten, in denen 1813 und 1814 die Landwehr und namentlich die schlesische Landwehr geschlagen hat, sind nicht zu zählen, während die preußische Garde in diesen Feldzügen überhaupt nur zweimal ins Feuer gekommen ist: in der ersten Schlacht, bei Lützen, als es überhaupt noch keine Landwehr gab, und in der letzten Schlacht, vor den Toren von Paris, als die Garde ehren- oder schandenhalber ins Gefecht geschickt werden musste, da ihr die Ehren des Einzugs in die eroberte Hauptstadt des Feindes vorbehalten werden sollten, während die – nach dem erhebenden Worte eines ehrenwerten Hohenzollernkönigs – „schmutzigen Leute" der Landwehr vor den Toren kampieren mussten.

Um jedoch die richtige Moral aus diesen historischen Skizzen über Miliz und stehendes Heer zu ziehen, ist noch ein kurzer Blick auf die preußisch-deutsche Heeresgeschichte von 1815 ab notwendig.

1 Der Freiheitskampf der 13 britischen Kolonien in Nordamerika begann am 19. April 1775 mit dem Gefecht von Lexington und endete mit dem Frieden von Paris vom 3. September 1783. Die Unabhängigkeit der USA von Großbritannien wurde besiegelt. Der Krieg hatte den Charakter einer bürgerlichen Revolution mit stark demokratischem Inhalt, blieb aber hinsichtlich der Beseitigung der Sklaverei und des Großgrundbesitzes unvollendet.

2 Die englische Bourgeoisie warb zur Unterdrückung des amerikanischen Befreiungskrieges auch ausländische Soldtruppen an. Die Duodezfürsten von Hessen-Kassel, Hessen-Nassau, Braunschweig, Waldeck, Anhalt-Zerbst und Ansbach-Bayreuth verschacherten insgesamt 30.000 Soldaten, die den Kern des englischen Söldnerheeres in Nordamerika bildeten. Schiller brandmarkte in seinem Drama „Kabale und Liebe" den Menschenschacher der deutschen Despoten.

3 Im Frühjahr 1793 kämpfte das revolutionäre Frankreich gegen fast alle reaktionären Staaten Europas: gegen England, Österreich, Preußen, Holland, Spanien, Sardinien und das Deutsche Reich. In Frankreich selbst brachen konterrevolutionäre Aufstände aus. In der Armee, die noch von adligen Offizieren und Generälen geführt wurde, gab es Verrat und Verwirrung. Erst die Militärgesetzgebung der Französischen Revolution von 1793 führte der Armee die benötigten Soldatenmassen zu, um die Republik zu retten.

4 Der Ausschuss für öffentliche Wohlfahrt (Comité du salut public) wurde am 6. April 1793 gebildet und mit besonderen Vollmachten für den Kampf gegen die Konterrevolution ausgestattet. Unter der Jakobinerdiktatur war er die eigentliche revolutionäre Regierung Frankreichs.

5 In den Schlachten bei Großbeeren am 23. August 1813 und bei Dennewitz am 6. September erlitten die gegen Berlin operierenden französischen Truppen zwei empfindliche Niederlagen von den tapfer fechtenden preußischen Landwehrbataillonen. Diese Siege trugen viel dazu bei, das Selbstbewusstsein und die Kampfkraft der neugeschaffenen Landwehrtruppen zu festigen.

6 Gemeint ist die Denkschrift Scharnhorsts „Ein dem Generaladjutanten von Kleist und Herzog von Braunschweig übergebenes Memoire", die er im April 1806 vor dem Feldzug gegen Napoleon verfasste. (Vgl. Max Lehmann: Scharnhorst, Erster Teil, Leipzig 1886, S. 377-385.)

7 Obwohl die preußischen Reformer für die unbedingte Abschaffung der Körperstrafen eintraten und dies auch in den Kriegsartikeln vom 3. August 1808 und der ebenfalls am 3. August erschienenen „Verordnung wegen der Militärstrafen" erreichten, konnten sie jedoch angesichts der tödlichen Bedrohung durch die französische Okkupationsarmee nicht auf ein hartes Strafsystem verzichten.

8 Die Organisation der preußischen Landwehr erfolgte im Frühjahr und Sommer 1813 nach dem gegebenen Vorbild des stehenden Heeres, doch unterschieden sich beide Teile des preußischen Feldheeres nach ihrem sozialpolitischem Charakter. Um die Kampfkraft der Landwehr rasch herzustellen und zu festigen, mussten zum Teil strengste Disziplinarmaßnahmen ergriffen werden.

9 Gemeint ist der Waffenstillstand von Pläswitz zwischen den Verbündeten und Frankreich, vorläufig am 1. Juni, endgültig am 4. Juni 1813 abgeschlossen.

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