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In der Schrift über die preußische Militärfrage1, die Engels im Jahre 1865, zur Zeit des preußischen Verfassungsstreits, veröffentlichte, nannte er die allgemeine Wehrpflicht die einzige demokratische Einrichtung, die in Preußen, wenn auch nur auf dem Papier, bestehe, und er nannte sie einen so enormen Fortschritt gegen alle bisherigen militärischen Einrichtungen, dass sie, wo sie einmal bestanden habe, auf die Dauer nicht wieder abgeschafft werden könne.

Es fragt sich nun: Wie kam gerade der preußische Staat zu dieser demokratischen Einrichtung? In den Zeiten der ärgsten Not hatte Scharnhorst sich jahrelang vergebens bemüht, die allgemeine Wehrpflicht durchzusetzen; erst als ihm das Messer unmittelbar an der Kehle saß, hatte der König seine Zustimmung gegeben, um sie sofort, nach erfochtenem Siege, durch eine Kabinettsorder vom 27. Mai 1814, noch aus der eroberten Hauptstadt des Feindes, zu widerrufen und die alten Exemtionen von der Kantonpflicht wiederherzustellen. Dann wurde die allgemeine Wehrpflicht durch das Gesetz vom 3. September 1814 über die Verpflichtung zum Kriegsdienst wieder angeordnet, aber keineswegs etwa, weil sich ein allgemeiner oder überhaupt nur irgendein Unwille gegen die Kabinettsorder vom 27. Mai geltend gemacht hätte, sondern sozusagen unter der Hand und ganz im stillen. Vielmehr, als dies Gesetz verkündet worden war, erhob sich eine lebhafte Opposition gegen die allgemeine Wehrpflicht, an deren Spitze die damaligen Parlamente standen, wie man die Stadtverordnetenversammlungen der neuen Städteordnung genannt hat. Merkwürdig genug: Wenn die nach dem endgültigen Sturze Napoleons einsetzende Reaktion den Reformen der napoleonischen Zeit soweit irgend möglich den Kehraus tanzte, zum Kummer der bürgerlichen Bevölkerung, musste sie vor der einen, wirklich demokratischen Reform haltmachen, deren Beseitigung allen Klassen der Bevölkerung, und nicht zuletzt der bürgerlichen, einen Stein vom Herzen gewälzt haben würde.

Die bürgerlichen Historiker erklären sich die seltsame Erscheinung durch die alle Widerstände zerschmetternde Wucht des sittlichen Gedankens, den die allgemeine Wehrpflicht verkörpert habe. Das ist eine Redensart wie andere auch; man kommt der Wahrheit viel näher durch das hausbackene Sprichwort, dass der Knüppel beim Hunde lag. Napoleons Sturz war das Werk nicht bloß des preußischen Staates, sondern einer Koalition der europäischen Mächte, die das gemeinsame Interesse hatten, die französische Hegemonie zu brechen, aber zur Erreichung dieses Zieles von sehr verschiedenen und untereinander widerstreitenden Interessen angetrieben wurden. Bereits im Laufe des Krieges waren sich diese Interessen in die Haare geraten. Als Napoleon nach der Schlacht bei Leipzig über den Rhein zurückgetrieben worden war und sich zum Verzicht auf alle seine Eroberungen erboten hatte, war das gemeinsame Ziel des Krieges tatsächlich erreicht, und seine Fortsetzung vollzog sich nur unter heftigen Reibungen der verbündeten Mächte. Am hartnäckigsten dazu drängte der Zar, natürlich unter dem Vorwand allgemeiner Völkerbeglückungspläne, in Wirklichkeit, um die Erbschaft Napoleons in der Herrschaft über Europa anzutreten. Sein gehorsamer Vasall aber war der König von Preußen. Daran wäre nun noch nicht soviel gelegen gewesen, bei der Hilflosigkeit dieses Idioten, wenn nicht auch die preußischen Generale, die fähigsten Befehlshaber der Koalitionsheere, aus Hass, Rachsucht und wohl auch soldatischem Ehrgeiz die völlige Vernichtung Napoleons verlangt hätten. Ihr ungestümes Vorwärtsstürmen hatte zur Folge, dass sie sich empfindliche Niederlagen zuzogen, wodurch Napoleons Friedenssehnsucht gar sehr abgekühlt und sein Übermut ebenso sehr gesteigert wurde. Das schreckte die Blücher, Gneisenau und Grolman zwar nicht ab, allein die preußischen Streitkräfte schmolzen in den furchtbaren Strapazen des Winterfeldzugs in der unheimlichsten Weise zusammen.

Darüber erschrak nun aber doch einer der preußischen Heerführer, nämlich Boyen, der mit Gneisenau und Grolman unter der obersten Leitung Scharnhorsts, der inzwischen bei Lützen verwundet und an dieser Wunde gestorben war, das neupreußische Heer geschaffen hatte. Boyen hatte den Invasionskrieg nach Frankreich nicht mitgemacht, vielmehr als Stabschef eines preußischen Korps in einem glücklichen und leichten Feldzug Holland erobern helfen. Als er im Anfang März 1814 wieder zu dem preußischen Invasionsheer stieß, war er entsetzt über den fürchterlichen Zustand namentlich der Landwehrbataillone. Er machte den alten Gefährten Gneisenau und Grolman die lebhaftesten Vorstellungen in dem Sinne, dass es doch nicht die Aufgabe des preußischen Heeres sei, dem Zaren die Kastanien der Weltherrschaft aus dem Feuer zu holen; die Verteilung der Beute werde sich nicht danach richten, wer das größere Verdienst um die Erlegung des Löwen habe, sondern wer noch über die größere Macht verfüge. Diese Vorstellungen Boyens verursachten zunächst neues Blutvergießen; Gneisenau ließ den schon zum letzten Schlage erhobenen Arm sinken, und Napoleon entging noch einmal dem sicheren Untergang.2 Aber eben dadurch zeigte sich, wie stark der Rat Boyens auf die Gneisenau und Grolman gewirkt hatte.

Nach dem Pariser Frieden wurde Boyen, der bereits unter Scharnhorst den wichtigsten Posten im Kriegsministerium bekleidet hatte, am 3. Juni 1814 zum Kriegsminister ernannter war der leitende Kopf der Kommission, die die Grundlagen der gesamten Heeresverfassung feststellen sollte. Neben ihm saßen Gneisenau und Grolman darin, während der – in militärischen Dingen leidlich unbefangene und für die Leitung der auswärtigen Politik verantwortliche – Staatskanzler Hardenberg den Vorsitz führte. Diese Kommission hat durch das Gesetz vom 3. September 1814 die allgemeine Wehrpflicht wiederhergestellt, die die königliche Kabinettsorder vom 27. Mai beseitigt hatte, und sie hat es getan, weil der preußische Staat sonst so gut wie waffenlos in den Kampf um die Beute getreten wäre, der eben auf dem Wiener Kongress3 beginnen sollte. Wenn sie den Widerstand des Königs verhältnismäßig leicht brach, so erklärt es sich sehr einfach dadurch, dass Boyen und seine Genossen als Führer eines siegreichen Volksheeres mit ihm verhandelten, was Scharnhorst nie gekonnt hatte. Es waren die Tage, wo der dankbare Zar seinen Generalen erklärte, man könne nicht wissen, ob er nicht einmal dem König von Preußen gegen dessen eigenes Heer werde helfen müssen.

Wie berechtigt die Voraussicht der Kommission war, zeigte sich binnen weniger Wochen. Alsbald fielen die Wölfe, die sich um das Erbe des Löwen zankten, übereinander her, und schon am Schlüsse des Jahres schlossen Frankreich, England und Österreich ein Kriegsbündnis gegen Preußen und Russland. Kaum aber hatte sich dies Kriegsgewitter verzogen, als Napoleon von Elba zurückkehrte. Der neue Krieg gegen ihn war zwar kein Volkskrieg mehr, sondern ein reiner Kabinettskrieg von ungetrübt reaktionärer Tendenz4, aber zweimal hintereinander hatte sich nunmehr gezeigt, dass, wenn der preußische Staat, der an Bevölkerungsziffer und Gebietsumfang den anderen Großmächten so weit nachstand, überhaupt in europäischen Fragen mitreden wollte, eine Rückkehr zu der vorjenaischen Heeresverfassung so unmöglich wie sinnlos war.

Zwischen dem friderizianischen Söldnerheer und der allgemeinen Wehrpflicht gab es nun freilich noch manche Zwischenstufen, so namentlich die Konskription mit Stellvertretung, wie sie in Frankreich bestand und von da in die deutschen Rheinbundstaaten eingeführt worden war. Sie hatte auch in Preußen mächtige Fürsprecher; selbst der ostpreußische Landtag, der im Februar 1813 sozusagen aus revolutionärer Machtvollkommenheit tagte5, hatte ausdrücklich die Stellvertretung beschlossen und nur unter dieser Bedingung die Errichtung der ostpreußischen Landwehr beschlossen, die ohnehin außerhalb der Provinz nicht gebraucht werden sollte. Scharnhorst hatte diese Beschlüsse über den Haufen geworfen, aber die Gesinnungen, denen sie entsprossen waren, lebten fort, und nach dem endgültigen Frieden tauchten sie mit neuer Kraft auf. Die Konskription mit Stellvertretung war ein Kompromiss, auf das sich die Junker und die Städte, denen beiden die allgemeine Wehrpflicht gleich widerwärtig war, einigen konnten; der biedere Bürgersmann konnte sich von dem Waffendienst loskaufen, und die Junker kamen ihrem Ideal, einem Heere von Berufssoldaten, so nahe, wie unter den obwaltenden Umständen nur immer möglich war.

Wenn trotzdem dem preußischen Staate seine einzige demokratische Einrichtung erhalten wurde, so darf – wunderlich genug! – das „gebrochene Königswort" dies Verdienst beanspruchen. Wir haben dies schöne Schlagwort aus dem bürgerlichen Sprachschatz übernommen, uneingedenk, dass dergleichen Erbschaften nicht ohne vorsichtige Vorbehalte angetreten werden dürfen. Sicherlich hat der preußische König sein verpfändetes Wort gebrochen, aber es ist wesentlich die formalistisch-moralische Agitation Johann Jacobys in den Tagen des Vormärz gewesen, die unter den Beweisen pöbelhaften Undanks, die der preußische König nach 1815 in Hülle und Fülle zu liefern wusste, gerade das „gebrochene Königswort" sosehr in den Vordergrund geschoben hat; Marx und Engels haben zu gleicher Zeit nie ein Wort darüber verloren. Man darf nämlich nicht übersehen, dass die versprochene Volksvertretung, wenn sie damals wirklich zusammenberufen worden wäre, eine Wiederbelebung der feudalen Stände gewesen wäre, der gegenüber selbst das heutige Dreiklassenparlament noch im Lichte eines revolutionären Konvents erscheinen könnte. Das Haupthindernis der Einberufung war die Sorge der alteingesessenen Junkerbürokratie, der gärenden Unzufriedenheit in den neu erworbenen Landesteilen, die sich alle höchst ungern in die preußische Zwangsjacke stecken ließen, ein Sprachrohr zu verschaffen. Märkische und pommersche Junker sind immer viel zu sehr auf ihren Vorteil bedacht, als dass sie selbst ihresgleichen an ihren altererbten Vorrechten teilnehmen ließen.

Jedenfalls wenn das königliche Versprechen damals eingelöst worden wäre, so wäre es ohne jeden Zweifel um die einzige demokratische Einrichtung des preußischen Staates geschehen gewesen. So gelang es Boyen und seinen Genossen, die allgemeine Wehrpflicht aufrechtzuerhalten, und sie widerstand auch neuen Stürmen, als Boyen und Grolman im Jahre 1819 aus dem Heere geekelt wurden; Gneisenau war schon 1816 gegangen. Es zeigte sich nun wirklich, dass die allgemeine Wehrpflicht nicht mehr beseitigt werden konnte, nachdem sie einmal eingeführt worden war. Sie gestattete dem Staate, wenigstens den Schein einer Großmacht aufrechtzuerhalten, und die besitzenden Klassen versöhnten sich mit ihr, teils durch die sehr undemokratische Einrichtung der Einjährig-Freiwilligen, teils und namentlich dadurch, dass sie wesentlich auf dem Papier stehenblieb.6

Die Armut des vormärzlichen Absolutismus in Preußen, der sich zudem den Staatsgläubigern verpflichtet hatte, keine neuen Anleihen einzugehen und keine neuen Steuern zu erheben ohne vorherige Genehmigung der künftigen Volksvertretung, machte es zur unabwendbaren Notwendigkeit, das stehende Heer möglichst zu beschränken. Man konnte nicht mehr als 115.000 Mann unter den Waffen halten, von denen zudem ein volles Drittel aus Berufssoldaten bestand, aus Kapitulanten, die freiwillig über die gesetzlichen drei Jahre hinaus bei der Fahne blieben. Ein großer Teil der Jugend, die ins wehrfähige Alter trat, konnte nicht in das Heer aufgenommen werden. Man half sich mit der Landwehrverfassung. Die gesamte Dienstpflicht wurde auf neunzehn Jahre bemessen: fünf Jahre im stehenden Heere, davon drei Jahre bei den Fahnen, zwei Jahre als beurlaubte Reservisten, dann je sieben Jahre im ersten und zweiten Aufgebot der Landwehr. Die Reservisten und die Landwehrmänner des ersten Aufgebots waren, ebenso wie das stehende Heer, zum Kriegsdienst im In- und Ausland verpflichtet; sie wurden zu jeder Mobilmachung sofort eingezogen, um die aktive Feldarmee zu bilden und vor den Feind geführt zu werden.

Diese Heeresverfassung hatte den unzweifelhaften Vorteil, den Staat vor allen kriegerischen Abenteuern zu bewahren. Mit einem Heere, das zur größeren Hälfte – sieben unter zwölf Jahrgängen – aus schon älteren Leuten bestand, die eine Stellung im bürgerlichen Leben einnahmen und gewöhnlich Familienväter waren, ließen sich keine Kriege vom Zaun brechen. Aber sonst war sie von dem Ideal einer Miliz und gar einer demokratischen Miliz recht weit entfernt. Sie wälzte dem einen Teil der wehrfähigen Mannschaft eine äußerst drückende Militärlast auf, während sie einen anderen Teil völlig frei ließ. Sie war ein Mittelding zwischen Miliz und stehendem Heer, das von beiden die Schattenseiten aufwies: Die Landwehrmänner des ersten Aufgebots waren nicht mehr disziplinierte Soldaten, aber sie waren auch nicht Freiwillige, die in heller Begeisterung zu den Waffen griffen.

Diese Landwehrverfassung war von vornherein nur ein Notbehelf, und die liberale Legende, als ob die Organisatoren des neupreußischen Heeres in ihr ein Ideal erblickt hätten, ist sehr auf dem Holzweg. Scharnhorst wollte der von ihm befürworteten Miliz, den „Reserve- und Provinzialtruppen", nur die Aufgaben zuweisen, die nunmehr der Landwehr zweiten Aufgebots zugewiesen waren: den Verteidigungskampf innerhalb ihrer heimischen Provinzen. Die bittere Not hatte dann erzwungen, dass 1813 und 1814 die Landwehr wie das stehende Heer verwandt wurde, und nach dem Kriege zwang die bittere Not dazu, daran festzuhalten. Gneisenau und Grolman haben sich vorsichtigerweise über die Frage nicht geäußert; namentlich von Grolman ist gut bezeugt, dass er jedem Gespräch über die Landwehrverfassung auswich. Von Boyen aber liegt ein ausdrückliches Zeugnis dafür vor, dass er von dem Ruhme, der Schöpfer der Landwehrverfassung gewesen zu sein, nicht allzu tief durchdrungen war. Er sagt in einer Darstellung der Grundsätze der alten und der gegenwärtigen Kriegsverfassung:

Eine Ansicht ist gegen die stehenden Heere gerichtet; sie hält die Verteidigung des Staates durch Landwehren allein ausreichend gesichert … Wie unhaltbar diese Behauptung sei, da selbst die beste Landwehr, unter den günstigsten Verhältnissen gedacht, einem zerstreut kantonierenden Heere ähnlich, nie zur rechten Zeit auf den bedrohten Grenzen würde vereinigt werden können, ergibt sich bei dem ersten Blick auf die bestehenden Einrichtungen anderer Staaten und durch unsere eigene Erfahrung. Hätte das stehende Heer die Schlachten bei Lützen und Bautzen nicht geschlagen, wie würde es der Landwehr möglich geworden sein, sich zu bilden? Aber auch die glücklichen Resultate der letzten Feldzüge können nur bedingungsweise als Muster für die kommenden aufgestellt werden. Fast ganz Europa, zu einem Zweck verbündet, stellte solche bedeutende Streitkräfte in den Kampf, die, wenn auch nicht alle vorhergegangenen Ereignisse jenen herrlichen Willen erzeugt hätten, schon ihrer bloßen Zahl nach überwiegend waren. Der Feind hatte den größten Teil seiner alten, erfahrenen Soldaten verloren. Unseren neu ausgehobenen Wehrmännern wurden nur junge Konskribierte entgegengestellt. Nicht alle künftigen Feldzüge werden gleich günstige Verhältnisse gewähren. Höchst verderblich würde es daher sein, bei der jetzigen Art, Krieg zu führen, die Ausbildung unserer Soldaten auf die unterbrochene Übung weniger Wochen beschränken zu wollen."

Wenn man erwägt, dass Boyen in seiner verantwortlichen Stellung als Kriegsminister sich mit äußerster Reserve über die nun einmal gesetzlich bestehende und einstweilen unentbehrliche Landwehrverfassung aussprechen musste, so wird man um so deutlicher erkennen, dass für ihn die Landwehrverfassung nur ein Notbehelf war.

Sie hat sich denn auch als unfähig erwiesen, ernsthaften Stößen zu widerstehen, im Jahre 1830 erschütterten die geringen Unruhen an der polnischen Grenze sie bereits so, dass der Dienst bei den Fahnen auf zwei Jahre herabgesetzt und an den Ausrüstungsgegenständen für die Landwehr aufs äußerste geknausert werden musste. Im Jahre 1848 wurden die sehr mäßigen Ansprüche, die in Posen, in Schleswig-Holstein, in Baden und der Pfalz an die Kriegstüchtigkeit des preußischen Heeres gestellt wurden, nur in sehr bescheidenem Maße erfüllt, und obendrein bewies die preußische Landwehrverfassung, dass sie nicht einmal dazu taugte, Staatsstreiche zu verhindern. Allerdings kam es bei der Einkleidung der Landwehren im Frühjahr 1849 zu einzelnen Szenen der Widersetzlichkeit; auch mussten manches Mal Landwehrmänner durch Husarenpatrouillen zu ihren Regimentern geschleppt werden, aber im allgemeinen fand die Gegenrevolution an dem Heer ein williges Werkzeug. Im Jahre 1850 offenbarte die Mobilmachung die größten Schäden des Heerwesens, und der Kriegsminister selbst erklärte, wie Bismarck in seinen Denkwürdigkeiten erzählt, einen Krieg mit Aussicht auf Sieg für unmöglich.7

In den fünfziger Jahren wurde dann schon vieles gebessert, aber die Mobilmachung von 1839 zeigte alsbald, dass der Kern der bisherigen Landwehrverfassung überlebt war. Engels sagt darüber in seiner schon erwähnten Schrift: „Ein aus meist verheirateten Leuten von 26 bis 32 Jahren bestehendes Aufgebot lässt sich nicht monatelang an den Grenzen müßig aufstellen, während täglich die Briefe von Hause einlaufen, dass Frau und Kinder darben; denn auch die Unterstützungen für die Familien der Einberufenen zeigten sich als über alle Begriffe ungenügend. Dazu kam noch, dass die Leute nicht wussten, gegen wen sie sich schlagen sollten, gegen Franzosen oder Österreicher – und keiner von beiden hatte damals Preußen etwas zuleide getan. Und mit solchen durch monatelanges Müßigstehen demoralisierten Truppen sollte man festorganisierte und kriegsgewohnte Armeen angreifen?"8 Aus dieser missglückten Mobilmachung entstand dann die Reorganisation des Heeres, die zu dem preußischen Verfassungsstreit führte.

Sie bestand darin, dass man mit der allgemeinen Wehrpflicht zwar noch keineswegs vollständigen, aber doch weit größeren Ernst machte, als bisher geschehen war. Man ließ die mobilgemachten Landwehrregimenter als neue Linienregimenter bestehen; man verdoppelte dadurch die Infanterie und vermehrte die Artillerie und Kavallerie so weit, dass sie dem stärkeren Stande der Fußtruppen entsprachen, jede etwa um die Hälfte. Man verschob dann den Schwerpunkt der aktiven Feldarmee, der bisher in der Landwehr ersten Aufgebots gelegen hatte, in der Weise, dass ihre beiden jüngsten Altersklassen, in denen die Zahl der Unverheirateten noch überwog, zur Reserve geschlagen wurden, ihre fünf älteren Altersklassen aber mit der Landwehr zweiten Aufgebots, deren Dienstzeit um vier Jahre verkürzt wurde, auf reine Verteidigungszwecke beschränkt wurde. Wiederhergestellt wurde die dreijährige Dienstzeit bei der Fahne, die gesetzlich seit 1814 bestanden hatte, aber seit den dreißiger Jahren tatsächlich auf zwei Jahre herabgesetzt worden war.

Diese eine Bestimmung musste von vornherein der bürgerlichen Opposition anstößig sein, denn es war ein offenes Geheimnis, dass die Rückkehr zur dreijährigen Dienstzeit nicht durch eine militärische Notwendigkeit geboten war, sondern jenen „soldatischen Geist" pflegen sollte, der je nachdem das Heer zum gehorsamen Werkzeug für Staatsstreichzwecke machen sollte. Sonst aber war gegen die Militärreorganisation vom liberalen Standpunkt aus nichts einzuwenden. Wer in dem preußischen Staat eine historische Notwendigkeit oder gar das von der Vorsehung für die Rettung der deutschen Nation geschaffene Staatswesen erblickte – und so dachte ja in erster Reihe die preußische Demokratie –, der musste die größere Kampffähigkeit und Kampftüchtigkeit des preußischen Heeres, wie sie durch die Militärreorganisation unzweifelhaft hergestellt wurde, freudig begrüßen. Es kam dazu, dass ihre Kosten – etwa zehn Millionen Taler im Jahre – gar nicht von der Bourgeoisie und selbst nicht einmal vom Proletariat, sondern vom Junkertum aufgebracht werden sollten durch die Aufhebung der feudalen Grundsteuerbefreiungen. Ebendies war das eigentliche Geheimnis der Neuen Ära, des liberalen Ministeriums, das der Prinzregent von Preußen, der spätere Kaiser Wilhelm, im Herbst 1858 berufen hatte: Beschränkter und verbissener Reaktionär, wie er war, wusste er, dass er keinen waschechten Junker finden würde, der als Minister das junkerliche Vorrecht der Grundsteuerfreiheit antasten würde.9

Daraus ergab sich nun aber wieder, dass die liberalen Minister alles beim Alten ließen, fast genau ebenso, wie es unter Manteuffel gewesen war, und nur die Heeresreform mit Eifer betrieben. Das machte die bürgerliche Opposition um so stutziger, als sich ja nicht bestreiten ließ, dass diese Reform, bei aller ihrer militärischen Notwendigkeit, die Macht des König- und des Junkertums erhöhte, nicht nur nach außen, sondern auch nach innen. Die Sache hatte also freilich ihre zwei Seiten, wozu dann noch kam, dass die der Bourgeoisie angenehmere Seite einstweilen noch nicht einmal mit dem Mikroskop zu entdecken war; nichts sprach dafür, aber vieles dagegen, dass der Prinzregent und seine liberalen Minister das reorganisierte Heer benutzen würden, um dasjenige Maß deutscher Einheit herzustellen, das den Interessen der Bourgeoisie entsprach.

Am klügsten hätte sie unter diesen Umständen gehandelt, wenn sie die Heeresreform angenommen, aber ihre Zustimmung an Bedingungen geknüpft hätte, die ihr ein Stück wirklicher Macht, auch über das Heer, gesichert hätten. Sie konnte damals viel erreichen. Dem Prinzregenten steckte die Angst von 1848 her noch in den Knochen; wie sehr er einen Kampf mit der Bourgeoisie scheute, zeigte ja die Tatsache, dass er die Kosten der Heeresreform dem Junkertum aufbürden wollte und für diesen Zweck seine innersten Herzensneigungen so weit überwunden hatte, ein liberales Ministerium zu ernennen. Statt aber mit dreister Hand zuzugreifen, tat die liberale Mehrheit des Abgeordnetenhauses das dümmste, was sie tun konnte, und vermutlich das dümmste, was je eine parlamentarische Mehrheit getan hat: Sie bewilligte aus Hochachtung vor den „Ehrenmännern" von Prinzregent und liberalen Ministern die Kosten der Militärreorganisation provisorisch erst auf ein und dann noch auf ein zweites Jahr, und erst als die neuen Regimenter, Schwadronen und Batterien fix und fertig dastanden, fasste sie ihren festen Entschluss und rief: Fort mit euch!, ein Bannspruch, dessen Wirkung begreiflicherweise vollständig versagte.

Nun verlegte sich die Bourgeoisie allerdings aufs Schachern, aber unter wesentlich ungünstigeren Umständen, als sie es von Anfang an hätte tun können. In der Hauptsache ging es um die Frage der zweijährigen Dienstzeit. Die Liberalen wagten auch hier nicht, den Stier bei den Hörnern zu packen, sondern schacherten im verzweifeltsten Sinne des Wortes, indem sie sagten: Gewiss ist die dreijährige Dienstzeit besser als die zweijährige, und die vierjährige würde noch besser als die dreijährige sein, aber das Land kann die finanzielle Last nicht tragen. Der Streit war damit von vornherein auf den Kostenpunkt reduziert, der allein das Blut der liberalen Bourgeoisie gegenüber den stehenden Heeren in Wallung bringen kann; nach fünfzigjährigem Exerzitium unter Molochs Fuchtel ist sie darin freilich auch ein abgehärteter Veteran geworden, der sich kaum noch über so viele Milliarden aufregt wie im Jahre 1863 über Millionen.

Wie das im Einzelnen kam, wird sich zeigen, wenn wir nunmehr die historischen Zusammenhänge von Miliz und stehendem Heer in ihren tieferen Ursachen untersuchen.

2 Obwohl sich Blücher Anfang März 1814 mit den aus Holland heran marschierten Korps Bülow und Wintzingerode vereinigt und damit seine Truppen auf über 100.000 Mann verstärkt hatte, ging er auf Drängen Boyens vom Angriff zur Verteidigung über. Bei Laon schlug er am 9. und 10. März 1814 einen Angriff Napoleons zurück, verfolgte aber den geschlagenen Feind nicht energisch; so wurde die Möglichkeit nicht genutzt, Napoleon eine entscheidende Niederlage zuzufügen.

3 Wiener Kongress – die Zusammenkunft der am Kriege gegen Napoleon I. beteiligt gewesenen Herrscher und leitenden Staatsmänner der meisten europäischen Staaten, die vom September 1814-Juni 1815 in Wien stattfand. Sie diente der Restaurierung der politischen Verhältnisse Europas. Der Kongress wurde durch die Wiener Kongressakte vom 8. Juni 1815 abgeschlossen, die von den fünf Großmächten sowie von Portugal und Schweden unterzeichnet wurde. England, Russland, Österreich und Preußen annektierten zum Teil erhebliche Gebiete. Außerdem erfolgte die Gründung des Deutschen Bundes (siehe Anm. 27)

4 Obwohl die Führung des Krieges in den Händen der Feudalreaktion lag, entsprach die Vertreibung Napoleons dem Interesse der europäischen Völker, denn es bestand die Gefahr, dass Napoleon versuchen würde, sich durch neue Raub- und Eroberungskriege an der Macht zu halten.

5 Ohne Genehmigung und Billigung des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. traten am 15. Februar 1813 auf Initiative des Freiherrn vom Stein die ostpreußischen Landstände zusammen und fassten auf Drängen Steins, Clausewitz' und russischer Offiziere den Beschluss, auf Kosten der Provinz eine Armee auszurüsten und alle Männer bis zu 45 Jahren, mit Ausnahme von Geistlichen und Lehrern, landwehrpflichtig zu machen. Diese Tat gab der Befreiungsbewegung des deutschen Volkes großen Auftrieb.

6 Die Bevölkerung Preußens war von 11 Millionen Menschen nach den Befreiungskriegen auf 18 Millionen in den sechziger Jahren angewachsen. Da jährlich aber nur etwa 40.000 Rekruten ausgehoben wurden, blieben in jedem Jahr einige zehntausend Dienstfähige ohne militärische Ausbildung. Das Prinzip der allgemeinen Wehrpflicht war also stark durchbrochen. Darüber hinaus gab die reaktionäre Institution der Einjährig-Freiwilligen der Bourgeoisie die Möglichkeit, ihre wissenschaftlich vorgebildeten Söhne in einer nur einjährigen – statt zwei- bis dreijährigen – Dienstzeit zu Offizieren der Reserve und der Landwehr avancieren zu lassen. Sie mussten für Bekleidung, Ausrüstung und Versorgung selbst aufkommen, konnten sich aber den Truppenteil, in dem sie dienen wollten, aussuchen.

7 Die Mobilmachung von 1850 ging nur sehr stockend voran, weil schwerwiegende organisatorische und technische Mängel auftraten. Die Ergänzung der Truppen und die Versorgung mit Pferden, Ausrüstungen, Waffen und Munition war mangelhaft. Die Offiziere der Landwehr erwiesen sich als ungenügend ausgebildet, und ihre Zahl reichte bei weitem nicht aus. Außerdem erregte die Einberufung älterer, verheirateter Landwehrmänner erneut große Unzufriedenheit, da viele junge Männer zu Hause blieben.

9 Prinz Wilhelm von Preußen, der im August 1858 als Prinzregent eingesetzt wurde, um an Stelle seines geisteskranken Bruders zu regieren, wollte die Machtpositionen des preußischen Staates nach innen und nach außen festigen. Zur Durchführung einer preußischen Großmachtpolitik aber musste das preußische Heer erneuert und verstärkt werden. Das jedoch war ohne das Geld der Bourgeoisie nicht möglich. Um sie zu gewinnen, entließ der Prinzregent die reaktionäre Regierung Otto von Manteuffel und setzte eine aus gemäßigt liberalen Aristokraten ein.

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