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Wie alle Geschichte, so ist auch die Geschichte der Heere und der Kriege eine ununterbrochene Entwicklung, die sich bald in langsameren, bald in schnelleren Umwälzungen vollzieht. Dass diese Umwälzungen im unmittelbarsten Zusammenhang mit den Umwälzungen der jeweiligen Produktionsweise stehen, ist auch in der bürgerlichen Geschichtsschreibung längst zum Gemeinplatz geworden.

Daraus folgt aber weiter, dass es in der Kriegsgeschichte keine starren Gegensätze gibt. Auch Miliz und stehendes Heer schließen sich gegenseitig nicht aus, sondern gehen ineinander über. Mit dem Feldgeschrei: Hie Miliz! Hie stehendes Heer! ist im Allgemeinen gar nichts gesagt; es kommt immer auf die besonderen historischen Umstände an. In wie hoffnungslose Verwirrung man gerät, wenn man die Miliz grundsätzlich über die stehenden Heere stellt, zeigen die Schriften des Herrn Karl Bleibtreu in abschreckender, aber überzeugender Weise.

Das gleiche gilt natürlich von dem Versuch, den stehenden Heeren ein für allemal den Vorzug vor der Miliz einzuräumen. Ihre Verteidiger pflegen bis auf den Vegez1 zurückzugehen, der schon gesagt habe: In omni praelio non tarn multitudo et virtus indocta, quam ars et exercitium solent praestare victoriam; in jeder Schlacht pflegen nicht sowohl die Zahl und die ungelehrte Tapferkeit wie die Kunst und die Übung den Sieg zu verbürgen. Vegez war nun freilich kein großer Denker in Kriegssachen, sondern nur ein Kompilator, der aus den für uns verlorenen Werken der Alten über Kriegskunst – er selbst lebte im fünften Jahrhundert unserer Zeit – allerlei zusammengetragen hat, was ihm einleuchtend zu sein schien. Aber er hat lange Jahrhunderte bis in die neuere Zeit als Autorität in solchen Fragen gegolten, und jener Satz enthält allerdings im Keime alles, was die Befürworter der stehenden Heere zu deren Gunsten darzulegen pflegen.

Dazu ist nun vorerst zu bemerken, dass höchstens von jedem Feldzug gilt, was Vegez von jeder Schlacht sagt. Schlachten hat es genug gegeben, in denen die Zahl und die ungelehrte Tapferkeit den Sieg über gedrillte Soldaten davongetragen hat; bei allen abfälligen Urteilen über die Freiwilligen von 1792 meinte Carnot doch, dass nichts ihrem ersten Anlauf widerstände, und auch Napoleon gab trotz seiner Vorliebe für alte Berufssoldaten zu, dass man mit unerfahrenen Truppen wohl eine furchtbare Stellung stürmen könne. Er sagte nur, man könne mit solchen Truppen keinen Feldzugsplan bis ans Ende verfolgen, oder wie es Carnot noch drastischer ausdrückte, man könne mit ihnen keine Eroberungen machen. Er fürchtete ihre Auflösung nach dem Siege ebenso, ja vielleicht noch mehr als nach der Niederlage; deshalb verschmolz er. sie mit den alten Linienregimentern, um sie an mechanischen Gehorsam zu gewöhnen.**

Gibt man nun aber auch zu, dass eine stramme und straffe Disziplin das A und O jeder brauchbaren Heeresverfassung ist, so ist damit noch keineswegs gesagt, dass eine solche Disziplin ausschließlich durch stehende Heere zu erreichen sei. Auch die Miliz kann eine ebenso gute Disziplin haben, ja eine Disziplin, die der Disziplin stehender Heere weit überlegen ist. Nur bleibt man an der Oberfläche haften, wenn man den Unterschied darin sieht, dass die Disziplin der stehenden Heere sich auf das physische, die Disziplin der Miliz auf das moralische Gebiet beschränke. Auch stehende Heere können von hohen moralischen Antrieben beseelt sein; so die französischen Revolutionsheere, so das deutsche Heer, das bei Gravelotte und Sedan kämpfte. Selbst den alten Söldnerheeren waren moralische Kräfte, kriegerischer Ehrgeiz, soldatisches Ehrgefühl usw. nicht abzusprechen; trotz all seiner Vorliebe für den Stock vermochte sie sogar der Alte Fritz seinen Truppen nicht völlig auszuprügeln; die ostelbischen Junker brauchten noch ein paar Jahrzehnte nach seinem Tode, um dem Heere von Jena jede Spur moralischer Empfindung auszupeitschen. Auf diese Leistung konnten sie sich immerhin ein historisches Patent geben lassen, denn eine ähnliche ist in aller Kriegsgeschichte kaum jemals sonst dagewesen.

Auf der anderen Seite ist von vornherein klar, dass eine Miliz, die nur von moralischen Empfindungen beseelt ist, und wären es die edelsten und erhabensten, im Kampfe mit geschulten Truppen von vornherein verloren ist. Und wiederum – sehr berühmte, ja die berühmtesten Milizen der Geschichte, die entscheidende Abwandlungen der Kriegsgeschichte herbeigeführt haben, sind, wenigstens in gewissem Sinn, aller moralischen Kräfte bar gewesen. Die Germanen, die im Teutoburger Walde die Legionen des Varus vernichteten und danach dem fein- und reichgegliederten Organismus des römischen Heeres nicht einmal in der Zahl, sondern nur in der „ungelehrten Tapferkeit" einen unbezwinglichen Widerstand entgegensetzten, waren räuberische Barbaren, ebenso wie die Urschweizer, die ein feudales Ritterheer nach dem andern aufs Haupt schlugen.

Damit soll natürlich nicht die Bedeutung der moralischen Kräfte für das Kriegswesen herabgesetzt werden; es soll vielmehr nur gesagt werden, dass in ihnen nicht das entscheidende Gewicht des Unterschiedes zwischen Miliz und stehendem Heer liegt. Dies Gewicht liegt vielmehr in dem Unterschied der Disziplin, die dem stehenden Heer angelernt, der Miliz aber angeboren sein muss. Angeboren oder, um den immerhin missverständlichen Ausdruck näher zu erläutern: die der Miliz durch die Arbeits- und Lebensgemeinschaft der Mannschaft von vornherein gegeben sein muss. Delbrück hat in seiner Geschichte der Kriegskunst nachgewiesen, dass diese Tatsache die Germanen für das römische Heer unbesiegbar machte, und schon vor Delbrück hatte unser alter Genosse Bürkli den gleichen Nachweis für die Urschweizer in ihren Kämpfen mit den feudalen Ritterheeren geführt.

Beschränken wir uns jedoch auf die Zeit von der großen französischen Revolution bis zum Deutsch-Französischen Kriege von 1870/71, so sehen wir die auf den ersten Blick anscheinend unverständliche, aber aus dem eben entwickelten Gesichtspunkt leicht begreifliche Tatsache, dass die Miliz sich am glänzendsten bewährt hat in der Verteidigung historisch zurückgebliebener Zustände. Ihre hervorragendsten Leistungen in diesem Zeitraum waren der Bauernaufstand der Vendeé im Jahre 1792 und das Tiroler Aufgebot von 1809.2 Die Bauern der feudalen Vendeé schlugen sich ungleich besser als zu gleicher Zeit die Freiwilligen der Republik, über deren militärische Leistungen wir das sachverständige Urteil Carnots gehört haben. Die Milizen der Vendeé und Tirols schöpften ihre Kraft aus dem engen Zusammenhalt der patriarchalischen Zustände, innerhalb denen sie lebten; darüber hinaus waren sie verloren. Auf ungleich weiteren Gebieten verteidigten auch die spanischen Guerillas zurückgebliebene Zustände, und sie sind schließlich durch das stehende Heer nicht besiegt worden, aber doch nur deshalb nicht, weil ihnen ein stehendes Heer zur Seite kämpfte: das englische Söldnerheer, das sogar noch ein Heer von vorrevolutionärem Zuschnitt war.3

Blicken wir nun aber auf die Milizen jenes Zeitraums, die sich unter historisch entwickelten Zuständen gebildet haben – unter Zuständen, in denen die kapitalistische Produktionsweise mit allen patriarchalischen Lebensverhältnissen mehr oder weniger schon aufgeräumt hatte –, so scheiden ihre eigentlichen Ruhmestitel, die französischen Freiwilligen von 1792 und die preußische Landwehr von 1813, von vornherein aus. Wir haben bereits gesehen, dass bei beiden historischen Erscheinungen nur in ganz uneigentlichem Sinne von Milizen gesprochen werden kann. Sieht man dann billigerweise von so lächerlichen Zerrbildern ab wie der Berliner Bürgerwehr des Jahres 1848 und auch von den Revolutionskämpfern der Reichsverfassungskampagne im Jahre 1849, die von vornherein eine erdrückende Übermacht gegen sich hatten, so bleiben als großes historisches Beispiel für die Frage, die uns hier beschäftigt, nur die Milizen übrig, die Gambetta nach dem Tage von Sedan organisierte, um sie den deutschen Heeren entgegenzuwerfen; der amerikanische Sezessionskrieg, so lehrreich er in anderer Beziehung auch für die Milizfrage ist, schaltet hier insofern aus, als auf beiden Seiten Milizen standen. Nun waren für die französischen Milizen nach Sedan die günstigsten Vorbedingungen gegeben; sie kämpften für die Verteidigung des vaterländischen Bodens gegen ein stehendes Heer, das nur noch einen Eroberungskrieg führte, also unter Verhältnissen, unter deren Voraussetzung die Scharnhorst und Genossen die Miliz für berechtigt und notwendig erklärt haben. Auch bestreitet die preußische Militärliteratur keineswegs, dass die Milizen Gambettas Außerordentliches geleistet haben. Gleichwohl haben sie den endgültigen Sieg des deutschen Heeres nicht zu hindern vermocht, gleichsam um zu bestätigen, was Carnot und Napoleon gesagt hatten, dass man mit Milizen wohl glänzende Schlachten schlagen, aber keine planmäßigen Feldzüge führen könne.

Es sei gestattet, die historische Bedingtheit der ganzen Frage: Miliz oder stehendes Heer? noch an einem besonders schlagenden Beispiel zu erläutern. Der Feldmarschall v. d. Goltz, augenblicklich die hellste Leuchte des preußischen Heeres, hat die Junker von Jena zu rechtfertigen gesucht mit dem Worte: Das Heer, das 1806 bei Jena von den Franzosen geschlagen wurde, war dasselbe Heer, das 1757 die Franzosen bei Roßbach schlug. Man hat ihm darauf treffend geantwortet: Ebendeshalb verdiente es kurz und klein geschlagen zu werden. Kaum ein Vierteljahr nach der Schlacht bei Jena kämpfte aber das russische Heer mit den Siegern von Jena bei Eylau in einer unentschiedenen Schlacht, und von diesem Heere kann man allerdings sagen: Das russische Heer, das 1807 den bis dahin unaufhaltsamen Siegeslauf des napoleonischen Heeres zum Stocken brachte, war dasselbe Heer, das 1758 bei Zorndorf dem friderizianischen Heere einen gleich starken Widerstand entgegensetzte.

So verschieden die Kampfweise des friderizianischen und des napoleonischen Heeres war, so vollkommen gleich war die russische Kampfweise bei Zorndorf wie bei Eylau. Massenhafte, ungemein tiefe Aufstellungen, unterstützt durch zahlreiche Artillerie und Verschanzungen; ungeheure, eben durch die Tiefe der Aufstellungen veranlasste Verluste, die sich in jeder der beiden Schlachten auf fast die Hälfte der Mannschaft beliefen, aber ein zäher und am letzten Ende unzerbrechlicher Widerstand. Die Schlacht bei Zorndorf wird zwar in der preußischen Geschichtsschreibung als preußischer Sieg gebucht, aber wenn überhaupt, so war sie es im denkbar dürftigsten Sinne; das treffendste Bild der Schlacht gab ein zeitgenössischer Diplomat, indem er sie mit einer starken Ohrfeige verglich, „da sich einer rund umdrehet, aber stehen bleibet". Das russische Heer blieb stehen, und der König zog ab, um sich im nächsten Jahre von denselben Russen die Niederlage bei Kunersdorf zu holen, die furchtbarste, die das preußische Heer vor Jena erlitten hat. Napoleon zog eine weisere Lehre aus der Erfahrung von Eylau und schloss unter ihrem Eindruck den Frieden von Tilsit, der ihm dann freilich in anderer Weise zum Verhängnis geworden ist.

Worin lag nun die Kraft des russischen Heeres? In allem, worin sich das französische Heer im Jahre 1806 dem preußischen Heere überlegen erwies, war es auch dem gleichzeitigen russischen Heere überlegen. Eine bluttriefende Disziplin, scheußliche Misshandlung der Soldaten, ihre schlechte Bewaffnung und Verpflegung, eine bestechliche und liederliche Verwaltung, alberne Paradekünste, ein verrücktes Gardeprinzip, alles das fand sich in dem russischen Heere ebenso, wenn nicht in noch verstärktem Maße, und namentlich in der Unfähigkeit seiner Offiziere übertraf das russische Heer selbst noch das preußische Muster. Im Winterfeldzug von 1806/07 war russischer Oberbefehlshaber der Feldmarschall Kamensky, ein im buchstäblichen Sinne des Wortes irrsinniger Mensch, der eines schönen Tages einfach davonlief; sein Nachfolger wurde der General v. Bennigsen, der bei Eylau befehligte; er verdankte seine Stellung jedoch nicht militärischen Talenten, die ihm vollkommen fehlten, sondern dem Umstand, dass ihn der Zar Alexander als einen Hauptmörder seines Vaters, des Zaren Paul, fürchtete. Wie wenig der russische Generalstab, soweit überhaupt von einem solchen gesprochen werden konnte, sich auf moderne Strategie und Taktik verstand, bezeugt die Tatsache, dass der Zar den preußischen Generalstabsoffizier Phull, der die Niederlage von Jena mit verschuldet hatte, nach Jena zu seiner militärischen Leuchte erkor und selbst noch bis ins Jahr 1812 als solche beibehielt4.

In einem wesentlichen Punkte unterschied sich 1806 das russische Heer allerdings von dem preußischen: Während dieses immerhin noch zur kleineren Hälfte aus fremden Söldnern bestand, rekrutierte sich das russische Heer aus Landeskindern. Doch wäre es irrig, deshalb schon von einem „nationalen" Heere als einer moralisch höheren Potenz zu sprechen. Von dem Heere, das bei Zorndorf und Eylau schlug, sagt ein russischer Militärschriftsteller: „Der Russe kennt kein schrecklicheres Schicksal, weiß kein schrecklicheres zu denken als das, Soldat zu werden … Die höchste und wirksamste Drohung, die ein Leibherr gegen seinen Leibeigenen auszusprechen weiß, ist, er werde ihn zum Soldaten abgeben." Die Regierung selbst machte auch gar kein Hehl daraus, wie schrecklich ihr selbst das Los des Soldaten erschien, indem sie die vorschriftsmäßige Dienstzeit von fünfundzwanzig Jahren als Strafe für schwere Verbrechen verhängte. Ebenso wie im preußischen Söldnerheere galt die Verlängerung der Dienstzeit auch als schwere Disziplinarstrafe, nicht anders als Spießrutenlaufen; als in der Schlacht bei Austerlitz ein Infanterieregiment vor den Augen des Zaren flüchtig wurde, strafte er es dadurch, dass er der gesamten Mannschaft die Dienstzeit von fünfundzwanzig auf dreißig Jahre erhöhte. Mit der einzigen Ausnahme Suworows hat das altrussische Heer nie auch nur einen „nationalen Helden" erzeugt wie selbst das altpreußische Söldnerheer in den Derfflinger, Schwerin, Zieten, Seydlitz, Blücher eine ganze Anzahl.5 Das Gewicht der Willenlosigkeit, das eine furchtbare Disziplin dem russischen Soldaten auf eine unabsehbar lange Reihe von Jahren auferlegte, erstickte in ihm jede moralische Empfindung – bis auf eine.

Der deutsch-russische Schriftsteller Bernhardi, der in einem sehr lehrreichen Aufsatz ein Bild des altrussischen Heeres am Vorabend des Krimkriegs, des russischen Jena, aufgenommen hat, schreibt unter anderem: „Die Stimmung, worin der russische Soldat lebt, ist eine schweigende Resignation. Er empfindet seinen Zustand als ein unabänderliches Verhängnis, das ihm die Verpflichtung des unbedingtesten Gehorsams auferlegt: die Notwendigkeit, unter den Augen seiner Vorgesetzten nichts zu tun und nichts zu sagen, als was befohlen wird. Er hat überhaupt das Gefühl, dass er unbedingt in der Gewalt einer ihrer Natur nach grenzenlosen, unermesslichen Macht steht, die in letzter und höchster Instanz vom Kaiser ausgeht… Eine Vorstellung aber gibt es, die, den nächsten begreiflichen Verhältnissen des Soldaten entnommen, ganz von selbst unter allen Bedingungen und ohne dass sie besonders angeregt zu werden braucht, bestimmend in seinem Gemütsleben hervortritt: Naschy, die Unserigen. So nennt der Soldat im engeren Sinne die Regimentsgefährten, im Weiteren das gesamte russische Heer. Er hält es für Frevel und schimpflich, ,die Unserigen' in irgendeiner Not und Gefahr zu verlassen, und ist großer Hingebung für die Genossen fähig."

Was Bernhardi und andere Kenner des russischen Heeres als unanfechtbare Tatsache hinstellen, erläutert Engels in seinen Ursachen, indem er schreibt: „Der russische Soldat ist von unbezweifelter großer Tapferkeit. Solange die taktische Entscheidung in dem Angriff geschlossener Infanteriemassen lag, war er in seinem Element. Seine ganze Lebenserfahrung hatte ihn angewiesen auf den Anschluss an seine Kameraden. Auf dem Dorf die noch halbkommunistische Gemeinde, in der Stadt die genossenschaftliche Arbeit des Artels; überall die krugovaja poruka, die gegenseitige Haftbarkeit der Genossen; kurz ein Gesellschaftszustand, der handgreiflich hinweist einerseits auf den Zusammenhalt, in dem alles Heil liegt, andrerseits auf die hilflose Verlassenheit des vereinzelten, auf die eigene Initiative angewiesenen Individuums. Dieser Charakter bleibt dem Russen auch im Militär; die Bataillonsmassen sind fast nicht zu sprengen, je größer die Gefahr, desto fester ballen sich die Klumpen zusammen."6 Was Engels dann weiter darüber ausführt, dass dieser Instinkt des Zusammenhaltens, der sich noch zur Zeit der napoleonischen Feldzüge als unschätzbar erwiesen habe, heute eine entschiedene Gefahr für das russische Heer geworden sei, das ist eine Sache für sich; ich habe schon angedeutet, dass der Krimkrieg das Jena des altrussischen Heeres gewesen sei. Hier kommt es nur darauf an, dass just in dem Jahrhundert, in dessen Verlauf ein wüster, noch halb asiatischer Erobererstaat entscheidend in das europäische Völkerleben einzugreifen begann, der innere Kitt seiner Truppen nicht die Disziplin des stehenden Heeres, sondern die Disziplin der Miliz gewesen ist, das heißt die aus der engen Arbeits- und Lebensgemeinschaft der Truppen entfließende Disziplin, ein Kitt so dauerhafter Art, dass ihn jene ungeheure Umwälzung der Kriegsweise, an der das preußische Musterheer in tausend Scherben zersplitterte, nicht einmal leise berührte.

Wo im russischen Heere selbst die Disziplin der Miliz mit der Disziplin der Knute zusammenstieß, siegte jene über diese. Der Instinkt des Zusammenhaltens führte zu jenen dichten, massenhaften, ungemein tiefen Aufstellungen, die ungeheure Verluste verursachten und deshalb namentlich auch von den deutschen Generalen des russischen Heeres bekämpft wurden, durch Anpassung sei es an die friderizianische Linear- oder die napoleonische Tirailleurtaktik, aber immer vergebens. „Es ist", schreibt Bernhardi verwundert, aber sehr bezeichnend, „als ob man selbst des sinnlichen Eindrucks einer massenhaften Aufstellung bedürfe." Er berichtet dann aber auch folgende Episode aus der russischen Kriegsgeschichte:

Bei dem Sturme von Warschau 1831 bemächtigte sich in sehr charakteristischer Weise ein Gefühl von Unmut und Beschämung, das zuletzt sehr laut wurde, der gesamten Infanterie der Garde, die auch hier wieder, wie den ganzen Feldzug über, außer dem Gefecht in Reserve gehalten wurde. Die Gardesoldaten sahen von ihrer Stellung aus in der Entfernung, gleichsam am Horizont, einen Teil des Gefechtes und hörten das Rollen des Feuers und mussten untätig zusehen. Sosehr der russische Soldat gewöhnt ist zu schweigen, erhoben sich doch hier aus den Gliedern unzufriedene Stimmen. Die Unsrigen raufen sich dort (derutsa) und haben einen harten Stand, und uns hält man hier zurück! Es ist eine Schmach! (stydno!) - in solchen Worten äußerte sich die wachsende Unzufriedenheit; der Stimmen wurden so viele, dass es nicht mehr möglich war, Stillschweigen zu gebieten. Die Offiziere mussten tun, als hörten sie nicht; es blieb nichts anderes übrig." Dies Beispiel zeigt namentlich auch die Ohnmacht des korrumpierenden Gardeprinzips gegenüber der Disziplin der Miliz. Die preußischen Garden haben 1813 und 1814 niemals aufgemuckt, weil sie aus sicherer Stellung dem Verbluten der Landwehr zusehen mussten.

Es mag nun aber der historischen Beispiele genug sein. Was sich aus ihnen ergibt, ist im Wesentlichen folgendes: Die Frage: Miliz oder stehendes Heer? ist eine Frage der Heeresverfassung, und die Seele jeder Heeresverfassung ist die Disziplin. Rein gedanklich betrachtet ist die Disziplin der Miliz, die sich aus engster Arbeits- und Lebensgemeinschaft ergebende Disziplin, unendlich überlegen der Disziplin der stehenden Heere, der durch Mittel der Lehre und Zucht erzeugten Disziplin: so überlegen, wie etwa das Leben der Schule überlegen sein mag. Nicht die Schule, sondern das Leben schmiedet den Kämpfer. Aber die Voraussetzung jeder Miliz ist eben eine enge Arbeits- und Lebensgemeinschaft, wie sie nur durch eine historische Entwicklung geschaffen werden kann; wo sie fehlt, steht die Miliz dem stehenden Heere nach wie ein Analphabet dem Abc-Schützen.

Nun war es die historische Aufgabe der kapitalistischen Produktionsweise, alle ursprünglichen Gesellschaftszustände, in denen sich Reste des Urkommunismus erhalten haben, zu zersetzen und zu zerstören, sie in eine Masse aufzulösen, die durch den Konkurrenzkampf innerlich zersplittert ist. Damit zerfiel auch die Heeresverfassung dieser Gesellschaftszustände.7 Aber die modernen Klassenstaaten, die die kapitalistische Produktionsweise schufen, bedurften der Heere in noch weit höherem Maße als der Gesellschaftszustände, an deren Stelle sie getreten waren. Denn sie beruhten nach außen auf dem Prinzip der Eroberung, nach innen auf dem Prinzip der Unterdrückung. So entstanden die stehenden Heere als Werkzeuge, die, in mechanischem Gehorsam gedrillt, jederzeit tauglich waren, nach außen zu erobern und nach innen zu unterdrücken. Ebendeshalb zeigten sie aber auch am ehesten und unmittelbarsten, dass der moderne Klassenstaat alles andere eher war als der Anfang vom Tausendjährigen Reiche des Friedens und der Glückseligkeit.

Die bürgerliche Ideologie, die sich frühzeitig gegen sie erhob, verkannte in allen berechtigten Anklagen und allem treffenden Spotte, dass die bürgerliche Entwicklung untrennbar war von dem System der stehenden Heere. Sie hatte überhaupt die naivsten Vorstellungen vom Kriegswesen. Voltaire hat einmal gedichtet: Die Kugel fliegt hinweg, dann blitzt das Pulver auf, und ein andermal den König Friedrich mit der Frage belustigt, ob dieser während der Schlacht nicht von wilder Wut hingerissen sei. Und Fichte hat im Jahre 1813 in der Falstaffgarde des akademischen Landsturms in Berlin mit einer rostigen Ritterlanze seinen Spott über das Rechts- und Linksschwenken und Gewehrpräsentieren selbst verspottet. Diesen Ideologen gegenüber waren Carnot und Scharnhorst durchaus nicht beschränkte Kamaschenknöpfe, sondern Männer von historischem Blicke, sachkundige Kenner des Kriegswesens, die – wenn einmal der moderne Klassenstaat gegeben war – treffend nachzuweisen wussten, weshalb in ihm ein stehendes Heer notwendig und eine Miliz höchstens daneben, in zweiter Reihe und in bescheidenen Grenzen möglich sei. Die Beschränktheit dieser Männer lag nur darin, dass sie nicht über ihre Zeit hinaus die Vergänglichkeit des Klassenstaats zu erkennen vermochten.

Inzwischen je höher sich die kapitalistische Produktionsweise entwickelte, [um] so mehr verstärkten ihre staatlichen Gebilde ihre erobernden wie ihre unterdrückenden Tendenzen, und die stehenden Heere wurden zu so furchtbaren Geißeln der Völker, wie es die Fichte und die Voltaire nicht einmal geahnt hatten. Und in demselben Maße schwand jede Aussicht, dass, wie einst das antike Berufsheer an den Germanen und das mittelalterliche Berufsheer an den Urschweizern gescheitert war, das moderne Berufsheer je an der überlegenen Disziplin einer patriarchalischen Miliz seinen Meister finden würde. Indessen die biederen Feudalen hatten schon im Morgengrauen der großen französischen Revolution entdeckt: Die Barbaren, die von außen her die antike Zivilisation zerstört haben, brütet die moderne Zivilisation im eigenen Schoße aus. Mit anderen Worten: Die kapitalistische Produktionsweise schafft selbst in der modernen Arbeiterbewegung die erste Voraussetzung einer Miliz, die auf unendlich höherer Stufenleiter die Disziplin ursprünglicher Gesellschaftszustände erneuert und alle Bürgschaften in sich trägt, die Disziplin der stehenden Heere weit zu überflügeln.

Die Forderung der Miliz gehört zum modernen Arbeiterprogramm8 ebenso untrennbar, wie die Forderung der stehenden Heere zum modernen Klassenstaat gehört. Und die moderne Arbeiterbewegung allein hat wie die historische Pflicht, so das historische Recht, die Miliz zu fordern, weil sie allein ihre unerlässliche Voraussetzung zu schaffen weiß: die Disziplinierung der Massen, ohne die alles noch so inbrünstige Gerede über die Miliz ein tönendes Erz und eine klingende Schelle bleibt. Die Forderung der Miliz durch die Sozialdemokratie kann gar nicht scharf genug getrennt werden von der Spielerei, die radikale Bourgeoiskreise mit dem Milizgedanken treiben und namentlich getrieben haben.

Jedoch hierüber und über einiges andere noch in einem Schlussartikel.

1 Die militärtheoretische Abhandlung „Anleitung zur Kriegswissenschaft an den Kayser Valentinian" des Flavius Vegetius Renatus ist nicht eine Kompilation oder Modernisierung älterer Arbeiten. Sowjetische Forschungen beweisen, dass sie eine selbständige wissenschaftliche Arbeit ist, die auf dem damaligen theoretischen Stand basierte. Allerdings hat Vegetius manche Probleme zu stark vereinfacht. (Vgl. I. A. Rjasin: Geschichte der Kriegskunst, Bd. 1, Berlin 1959, S. 499 f.)

** Nur aus diesem Gesichtspunkt und nicht etwa, weil er die Reste des ehemaligen königlichen Heeres für kriegstüchtiger hielt als die Freiwilligen. Über diese Reste urteilte ein Gesinnungsgenosse Carnots, der spätere napoleonische Marschall Gouvion Saint-Cyr, aus eigener Anschauung: „Die Truppe war von einer körperlichen Schwäche, wie es diejenigen, die lange Zeit die Kaserne bewohnt haben, immer sein werden. Der Soldat erhält nur eine ungenügende Nahrung; die Laster, denen er infolge des Müßigganges frönt, und die schweren Krankheiten, die sie herbeiführen, haben bald die stärkste Gesundheit zerrüttet und machen es ihm unmöglich, die Anstrengungen des Krieges zu ertragen." Es ist nur die ars und das exercitium, die die Freiwilligen von den ehemals königlichen Truppen erlernt haben.

2 In der Vendeé begann 1793 unter adliger Führung ein konterrevolutionärer Aufstand, der sich auf die royalistisch gesinnte Bauernschaft dieses ökonomisch rückständigen Gebietes stützte und erst nach schweren und langandauernden Kämpfen unterdrückt werden konnte.

Die Erhebung der Tiroler Bauern, die am 11. April 1809 ausbrach und in deren Verlauf die französischen und bayrischen Truppen dreimal aus Tirol vertrieben wurden, bevor der Aufstand im November von Napoleon endgültig niedergeworfen werden konnte, war ein gerechter und volkstümlicher Kampf um die Befreiung des Landes von napoleonischer Knechtschaft. Obwohl die Führung der Bewegung unter Andreas Hofer rückständigen Ideen anhing und stets ihre Treue zur habsburgischen Monarchie betonte, stützte sie sich auf die niederen Volksschichten und handelte objektiv revolutionär.

3 Im Mai 1808 erhob sich das spanische Volk gegen die französischen Unterdrücker. In einem fünfjährigen Guerillakrieg fesselten die Aufständischen ständig über 100.000 Mann französischer Truppen. Die Anwesenheit der englischen Armee unter Wellington verstärkte den Volkswiderstand und band ebenfalls starke französische Kräfte. Die englische reguläre Armee war ein stehendes Heer, das sich durch Freiwilligenwerbung ergänzte. Die Ausbildung, Ausrüstung und Bewaffnung entsprach völlig den Anschauungen des 18. Jahrhunderts. Noch 1815 in der Schlacht bei Waterloo kämpfte die englische Armee äußerlich nach der überlebten Lineartaktik.

4 Mehring überschätzt hier den Einfluss Phulls auf die fortgeschrittene russische Generalität. Karl Ludwig August Freiherr von Phull stand jahrelang als Generalleutnant in russischen Diensten. Bis 1812 beeinflusste er Zar Alexander I. Stark. Seine militärtheoretischen Lehren, die in der überlebten Kriegskunst des 18. Jahrhunderts wurzelten, wurden aber von der Mehrheit der russischen Offiziere abgelehnt, sie wurden insbesondere von Kutusow verurteilt.

5 Mehring lässt sich hier noch von der zu Beginn des Imperialismus überholten Einschätzung der deutschen Sozialdemokratie über die Rolle Russlands als Gendarm in Europa beeinflussen. Das russische Heer hat nicht nur in Suworow, sondern auch in Rumjanzew, Kutusow, Admiral Uschakow und in vielen anderen Feldherren befähigte und volkstümliche Heerführer hervorgebracht.

7 Mehring meint hier die Volksaufgebote in der Periode der militärischen Demokratie, die mit dem Entstehen der Klassengesellschaft immer mehr an Bedeutung verloren und im Feudalismus schließlich nur in den seltensten Fällen bei großer Gefahr aufgerufen wurden, militärisch aber nicht mehr entscheidend waren.

8 Punkt 3 des auf dem Erfurter Parteitag 1891 angenommenen sozialdemokratischen Parteiprogramms lautet: „Erziehung zur allgemeinen Wehrhaftigkeit. Volkswehr an Stelle der stehenden Heere. Entscheidung über Krieg und Frieden durch die Volksvertretung. Schlichtung aller internationalen Streitigkeiten auf schiedsgerichtlichem Wege." (In: Karl Marx: Kritik des Gothaer Programms, Berlin 1946, S. 156.)

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