Franz Mehring 18931018 Moloch in Notwehr

Franz Mehring: Moloch in Notwehr

18. Oktober 1893

[Die Neue Zeit, 12. Jg. 1893/94, Erster Band, S. 97-100. Nach Gesammelte Schriften, Band 8, S. 16-20]

Zu den Schattenseiten des deutschen Militarismus gehört die Blödigkeit jedenfalls nicht. Während die innere Politik des Reichs sich vollständig festgefahren hat auf der Frage, wie und woher die Mittel für die neueste Vermehrung des Heeres beschafft werden sollen, amüsiert sich Moloch mit Heldentaten, die er in angeblicher Notwehr verübt haben will. Einerseits in Notwehr gegen die seine Jungfräulichkeit bedrohende Sozialdemokratie, anderseits in Notwehr gegen die bürgerliche Justiz, die ihn nicht genugsam gegen frevelhafte Angriffe schützt.

In dem ersten dieser beiden Fälle handelt es sich um den bayerischen Leutnant Hofmeister, der seine Untergebenen zu sozialdemokratischen Anschauungen verführt haben sollte. Nach halbjähriger qualvoller Untersuchungshaft ist er freigesprochen, aber deshalb ist das junge Menschenleben nicht weniger zerbrochen worden, denn ein Wiedereintritt in den militärischen Dienst ist – „natürlich", wie die bürgerlichen Blätter sagen – für einen Menschen, der überhaupt einmal unter einem so gräulichen Verdachte gestanden hat, ein für allemal ausgeschlossen. Was Hofmeister eigentlich gesündigt haben soll, außer dass er mit seinen dienstlichen Untergebenen außerhalb des Dienstes freundlich und menschlich verkehrt hat, ruht unter den dichten Schleiern des militärischen Gerichtsverfahrens. Obschon dies Verfahren in Bayern das Prinzip der Öffentlichkeit kennt, hat man den Fall Hofmeister hinter verschlossenen Türen verhandelt, und es wird heute noch, nach mehr als einer Woche, in den Blättern darüber gestritten, weshalb Hofmeister eigentlich freigesprochen worden ist, ob wegen geistiger Unzurechnungsfähigkeit oder aber weil ihm wirklich gar nichts nachgewiesen werden konnte.

Eine allzu große Wichtigkeit möchten wir dieser Frage allerdings nicht beilegen. Man braucht sich doch nicht geflissentlich über das Wesen der militärischen Gerichtsbarkeit zu täuschen, die ihrerseits ja nie aus ihrem Herzen eine Mördergrube gemacht hat. Wäre dem Leutnant Hofmeister irgendeine sozialdemokratische Propaganda nachzuweisen gewesen, so hätten die Nürnberger oder diesmal die Würzburger ihn gehängt, da sie ihn einmal hatten, gleichviel wie es sonst um seine geistige Zurechnungsfähigkeit bestellt sein mochte. War ihm aber gar nichts [anderes] nachzuweisen, als dass er mit seinen dienstlichen Untergebenen freundlich und menschlich verkehrt hatte, so konnte das unmaßgebliche Gutachten irgendeines unmaßgeblichen Arztes dem militärischen Gerichtshofe das am Ende doch peinliche Geständnis ersparen, dass ein Mensch einzig um seiner Menschlichkeit willen lange Monate hindurch in qualvoller Weise gefoltert worden war. Nach der ganzen Lage der Dinge kann es sich bei der Frage, weshalb Hofmeister freigesprochen worden ist, nur um eine facon de parier handeln. Dass er freigesprochen worden ist, genügt vollständig als Beweis dafür, wie leichtherzig Moloch mit Menschenleben spielt.

Der andere jener beiden Fälle hat zum Schauplatze die Reichshauptstadt und zum Beweisthema den Mordversuch als militärrechtliche Ergänzung der bürgerlichen Justiz. Vor einiger Zeit hatte das sozialdemokratische Organ für Brandenburg a. d. H. der Tochter eines daselbst garnisonierenden Generalmajors zärtliche Beziehungen zu dem Burschen ihres Vaters nachgesagt. Wir stehen nicht an, zu erklären, dass in diesem ausnahmsweisen Falle die schlechten Sitten der bürgerlichen Presse ein wenig auf das proletarische Organ abgefärbt hatten, denn ein seiner Natur nach so durchaus privates Verhältnis gehörte gewiss nicht in die Öffentlichkeit. Natürlich sprechen wir diesen Tadel nur um unsertwillen aus und nicht etwa, um den Entrüstungstiraden der bürgerlichen Presse irgendein Zugeständnis zu machen. Die hat in ihrer großen Mehrzahl jahraus, jahrein über die privaten Verhältnisse der sogenannten Arbeiterführer so viel gelogen, dass sie übergenug damit zu tun hat, vor ihrer eigenen Türe zu kehren. Ohnehin sorgte die bürgerliche Justiz rechtzeitig dafür, dass die verletzte Ehre des Generalstöchterleins an dem sozialdemokratischen Redakteur mit mehrmonatlichem Gefängnis gesühnt wurde, und mit dieser Genugtuung konnte sich die junge Dame allermeist darüber trösten, dass ihr eine von ihrem Klassenstandpunkte aus so beklagenswerte Geschmacksverirrung nachgesagt worden war.

Nun hatte das „Berliner Tageblatt" die Notiz übernommen, und diesem Klatsch- und Skandalblatt, das sonst alle Eiterbeulen des Gegenwartsstaats als lauter Schönheitspflästerchen zu verherrlichen bestrebt ist, vorausgesetzt, dass es sie als pikanten Klatsch breittreten kann, standen selbstverständlich nicht die entschuldigenden Momente zur Seite wie dem Brandenburger Parteiblatte. Gleichwohl kam es bei der bürgerlichen Justiz mit einer Geldstrafe davon, und damit wäre die Sache erledigt gewesen, wenn der angeklagte Redakteur des „Berliner Tageblatt" nicht einen – vom Gerichtshof als unerheblich abgelehnten – Antrag auf Beweisaufnahme gestellt hätte. Möglich oder selbst wahrscheinlich, dass er diesen Antrag nicht im Bewusstsein seiner Unschuld, sondern auf gut Glück stellte in der Hoffnung, dass bei einer gründlichen Erörterung des Falles doch etwas für die Klatsch- und Skandalbedürfnisse seines Blattes abfallen würde. Jedenfalls machte er aber nur von einem Rechtsmittel Gebrauch, das jedem Angeklagten gesetzlich freisteht. Indessen nach Molochs Ansicht beging er damit ein todeswürdiges Verbrechen. Denn eines schönen Morgens erschien besagter Generalmajor bei dem Redakteur des „Berliner Tageblatt" mit einem geladenen Taschenpuffer und stellte an ihn die liebenswürdige Aufforderung, dass er sich schriftlich wegen jenes Antrages auf Beweisaufnahme für einen ganz gemeinen Schuft erklären oder aber sich über den Haufen schießen lassen solle. Und als der Überfallene sich weigerte, das moralische Harakiri an sich selbst zu vollziehen, schoss und traf der Generalmajor wirklich, wenn auch glücklicherweise nur mit einem pickwickischen Revolver, denn der Angeschossene kam mit leidlich heiler Haut und ganz heilen Gliedern davon.

Abgesehen von diesem mildernden Umstände, handelt es sich bei der ganzen Affäre um weiter nichts als um einen feigen Mordversuch. Wir verstehen glücklicherweise die preußische Offiziersehre nicht und haben auch nicht die geringste Neigung, sie verstehen zu lernen, aber wenn sie wirklich in dem bewaffneten Überfall eines nichtsahnenden und wehrlosen Menschen eine heldenhafte oder auch nur männliche Tat sieht, so kann sie uns aufrichtig leid tun. Es ist schwer, sich von dem Redakteur des „Berliner Tageblatt" übertreffen zu lassen, aber jener Generalmajor hat die schwierige Aufgabe glänzend gelöst. Selbst wenn er mit der Pistole in der Hand ein entehrendes Selbstbekenntnis von seinem Opfer erzwungen hätte, würde er noch immer im Hintertreffen bleiben. Denn schließlich ist es die Privatsache jedes Menschen, wie er sich gegen einen räuberischen Überfall, gleichviel ob es sich um den Raub von Ehre oder Eigentum handelt, schützen kann oder will, während die widerrechtliche Erpressung unter allen Umständen eine schimpfliche Handlung ist. Die gutgesinnte Presse höhnt soviel über „amerikanische Sitten", über Revolverschüsse als Erwiderungen auf Angriffe in Zeitungen, aber hier liegt viel Schlimmeres vor. Der Generalmajor hatte den Weg der bürgerlichen Justiz beschritten und von ihr alles Recht erhalten, was er beanspruchen konnte; einzig wegen des Gebrauchs eines gesetzlichen Rechtsmittels überfiel er einen Menschen mit kaltblütiger Überlegung aus dem Hinterhalte, dem ersten besten Räuber nur darin ungleich, dass er nicht die Börse oder das Leben, sondern die Ehre oder das Leben forderte.

Freilich eine Entschuldigung hat er noch und eine sehr triftige dazu: dass sich nämlich die bürgerliche Gesellschaft dergleichen Attentate ruhig bieten lässt. Nur einige wenige Blätter, wie die „Nation", haben den Mut gehabt, die Sachlage leidlich richtig zu zeichnen. Die große Masse der bürgerlichen Presse zeigt sich so erbärmlich wie immer, wenn sie mit Moloch einen ernsthaften Tanz riskieren soll. Das „Berliner Tageblatt" selbst kriecht winselnd zu Kreuz vor dem Attentäter, und die „Freisinnige Zeitung" findet, dass die Sache gar kein öffentliches Interesse habe. Das sind schon die richtigen Helden! Ja, wenn einmal einem klassenbewussten Arbeiter die Galle überliefe und er züchtigte einen Redakteur derjenigen Presse, die täglich so viel ungewaschenes und verleumderisches Zeug über seine Partei verbreitet, auch nur mit einer nichts weniger als lebensgefährlichen Backpfeife, so würde des Mordspektakels kein Ende sein von Memel bis Saarbrücken. Aber über den Mordversuch eines Offiziers, der den Gebrauch eines gesetzlichen Rechtsmittels mit dem Revolver ahndet, kräht kein Hahn oder doch so gut wie kein Hahn. Mag das „Berliner Tageblatt" selbst unter seinesgleichen noch sowenig geachtet sein, mag der Offizier noch so sehr unter dem beherrschenden Einflüsse der korrupten Anschauungen von Offiziersehre gestanden haben, mag der Bedrohte ursprünglich noch so sehr im Unrechte, der Bedroher noch so sehr im Rechte gewesen sein: Alles das ist vollkommen gleichgültig gegenüber dem Prinzip, das hier ins Spiel kommt und von der bürgerlichen Klasse immer schmählich preisgegeben wird.

Je jammervoller diese Haltung ist, umso üppiger entfaltet sich der Militarismus. In bezeichnendem Gegensatze zu der qualvollen Untersuchungshaft Hofmeisters spaziert der mordlustige General auf freiem Fuße umher; konservative Vereine feiern ihn als Helden, und die militaristische Presse rechtfertigt sein feiges Attentat als „Notwehr im Geiste des Rechts". Mit diesem geflügelten Worte ist Moloch freilich so üppig geworden, dass es ihm auf die Dauer am Ende doch nicht gut bekommen könnte. Wird der hier besprochene Mordversuch gerechtfertigt als „Notwehr im Geiste des Rechts", so trifft dieselbe Rechtfertigung noch tausendmal eher zu auf einen Arbeiter, der einen ihn aus politischen Gründen auf die Straße werfenden Unternehmer einfach niederschlüge, oder auf einen Soldaten, der einen ihn misshandelnden Vorgesetzten über den Haufen schösse wie einen tollen Hund, oder einen unschuldig Verurteilten, wie es deren heute so viele gibt, der den ihn verurteilenden Gerichtshof mit einer Dynamitpatrone in die Luft sprengte. Es gibt der Kombinationen geradezu unzählige, in denen die Durchführung von Molochs preiswürdigem Grundsatze unter den heutigen Verhältnissen die unerfreulichsten Konsequenzen für die herrschenden Klassen nach sich ziehen müsste. Wir wissen nun zwar wohl, was diese Klassen hierauf antworten werden. Sie werden sagen: Wer behauptet denn auch, dass einem Arbeiter oder einem Soldaten billig sein soll, was einem Generalmajor recht ist? Aber das offene Bekenntnis dieses Grundsatzes hat doch auch wieder seine Schattenseiten, und wer immer den famosen Satz von der „Notwehr im Geiste des Rechts" in diesem Zusammenhange erfunden hat, der hat sich eigentlich keine Sicherheitsprämie um die heutige Gesellschaft verdient.

Wir sagen: in diesem Zusammenhange, denn freilich gibt es auch eine „Notwehr im Geiste des Rechts", die sich als solche über den Buchstaben des Gesetzes wegsetzen darf und wegsetzen muss. Es sei nur an die Kämpfe der Arbeiterklasse unter dem Sozialistengesetze erinnert. Aber wie diese Kämpfe sittlichen Gründen entsprangen, so gebrauchten sie auch nur sittliche Waffen; mörderische Anfälle und räuberische Erpressungen haben niemals zu ihrem Rüstzeug gehört. Dagegen werden so erfreuliche Kampfmittel heute von denselben Blättern gefeiert, die über den Widerstand der Arbeiterklasse gegen das Sozialistengesetz in ewigen Weinkrämpfen lagen. Man möchte fragen: Haben diese Blätter denn kein Gedächtnis, oder haben sie kein Schamgefühl mehr? Doch braucht man ihnen gar nicht zu nahe zu treten, um eine überzeugende Erklärung der Sachlage zu finden. Sie besitzen kein Vertrauen mehr in die eigene Kraft, und so verblenden sie sich gern oder ungern gegen die Sittlichkeit in den Reihen der Gegner und gegen die Unsittlichkeit in den eigenen Reihen: dort bis zur Beschimpfung der Überzeugungstreue, hier bis zur Verherrlichung des Mordversuchs.

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