Franz Mehring 19050111 Über den Krieg

Franz Mehring: Über den Krieg

11. Januar 1905

[ungezeichnet, Leipziger Volkszeitung Nr. 8, 11. Januar 1905. Nach Gesammelte Schriften, Band 8, S. 79-81]

Einige Ausführungen, die der Genosse M. Beer in der „Neuen Zeit" über den Russisch-Japanischen Krieg gemacht hat, werden in der bürgerlichen Presse dazu benützt, um angebliche Inkonsequenzen der sozialdemokratischen Weltanschauung in der Frage von Krieg und Frieden nachzuweisen. Wir haben keinen Anlass, uns auf die Einzelheiten dieser Polemik einzulassen, die auf bürgerlicher Seite nur die Unfähigkeit bekundet, sich in das Wesen des wissenschaftlichen Sozialismus einzuleben, halten es aber für angezeigt, einige allgemeine Bemerkungen zu der prinzipiellen Frage zu machen, da darüber auch wohl noch in manchen Parteikreisen eine nicht völlig klare Anschauung besteht.

Was hier störend einwirkt, ist die Überlieferung der großen Denker, die das europäische Bürgertum in den Zeiten seines Aufstiegs hervorgebracht hat. Sie vertraten die idealen Anschauungen dieses Bürgertums und hofften von seinem Siege, wie die Herstellung der Freiheit und Gleichheit und Brüderlichkeit, so auch die Herstellung des Ewigen Friedens. Es ist bekannt, welcher Täuschung sie dabei unterlagen. Der Sieg des Bürgertums war nicht die Beseitigung der Klassengegensätze, sondern vielmehr der Sieg einer herrschenden Klasse über eine andre herrschende Klasse. Das siegreiche Bürgertum dachte nicht daran, Freiheit und Gleichheit herzustellen, sondern sich den größten Anteil an dem von den arbeitenden Klassen produzierten Mehrwert zu sichern und, wenn möglich, diesen Mehrwert ausschließlich in die eigene Tasche zu stecken. Über dieser lukrativen Beschäftigung warf es die Ideale seiner großen Denker in den Papierkorb.

Gleichwohl hatte das Ideal des Ewigen Friedens ein längeres Leben als die sonstigen Ideale der bürgerlichen Ideologie. Die große Industrie bedarf – im Gegensatze zu früheren Perioden der kapitalistischen Produktionsweise – des Friedens, um sich in voller Kraft zu entfalten. So erlebte der Traum vom Ewigen Frieden – ein Traum, solange die Klassengegensätze innerhalb der zivilisierten Nationen bestehen – eine neue Auflage, als die Periode der großen Industrie begann. Bekannt ist, mit welcher Zuversicht der größte Historiker des Manchestertums, Thomas Buckle, in seinem Geschichtswerke die ständige Abnahme der Kriege und endlich ihr völliges Aufhören als eine Folge der großindustriellen Entwicklung nachzuweisen unternahm. Und Buckle war ohne Zweifel ein bedeutender Historiker, der unter andern auf die Anschauungen unsers alten Liebknecht einen großen Einfluss gewonnen hat.

Indessen so sehr der großen Industrie nach all ihren historischen Existenzbedingungen am Frieden gelegen ist, so vermag sie ihn doch nicht herzustellen, aus dem einfachen Grunde nicht, weil sie selbst auf dem Klassengegensätze beruht und der Antagonismus zwischen den Nationen oder genauer ihren herrschenden Klassen eben aus diesem Klassengegensätze entspringt. Aus dem Kampfe der ausbeutenden und unterdrückenden Klassen um einen möglichst bequemen und breiten Platz auf dem Weltmarkt entstehen immer wieder die Kriege, die so lange unausrottbar sind, als der Weltmarkt für die große Industrie unentbehrlich ist. Dagegen hilft kein Beten und kein Fluchen, und man muss anerkennen, dass selbst unsre Flottenpatrioten, so sehr sie auf dem Holzwege sind, ihre „beste der Welten" immerhin noch um einige Grane besser verstehen als die bürgerlichen Friedensgesellschaften.

Folgt daraus nun, dass wir Sozialisten den Krieg als eine historische Notwendigkeit anerkennen und ihn also nicht zu bekämpfen brauchen? Diese Schlussfolgerung wäre ebenso töricht, als wenn man uns vorwerfen wollte, dass wir die Klassengegensätze als eine historische Notwendigkeit anerkennten, weil wir nicht bloß einige banale Phrasen gegen sie murmeln, sondern sie zu verstehen suchen, um sie desto nachdrücklicher und namentlich desto wirksamer zu bekämpfen. Nicht die historische Notwendigkeit des Krieges an sich, sondern seine historische Notwendigkeit innerhalb der Klassengesellschaft erkennen wir an, im Unterschied von den bürgerlichen Friedensschwärmern, die sich darin gefallen, den Münchhausen zu spielen, der sich am eigenen Zopf aus dem Sumpfe ziehen will. Erst wenn man historische Erscheinungen in ihrer jeweiligen historischen Notwendigkeit begriffen hat, vermag man sie zu überwinden; erst seitdem die Arbeiterklasse die historische Notwendigkeit des Kapitalismus nach Umständen und Zeiten erkannt hat, hat sie ihrer Gegnerschaft gegen ihn die überlegene Kraft gegeben.

Was vom Kriege im Allgemeinen, das gilt von jedem Kriege im Einzelnen. Wir geben uns nicht dem unnützen Zeitvertreibe hin, durch allgemeine Friedenspredigten die Gräuel des japanisch-russischen Krieges beseitigen zu wollen, Gräuel, die wir deshalb nicht weniger verabscheuen, weil wir erkennen, dass sie die unabwendbaren Folgen des gräuelvollen, von uns bis aufs Blut bekämpften Kapitalismus sind. Wir suchen vielmehr, diese auswärtigen Konflikte der herrschenden Klassen genauso zu studieren und für den Vorteil der arbeitenden Klassen auszubeuten wie ihre inneren Konflikte. In dem Klassenkampfe zwischen Bourgeoisie und Junkertum begeistern wir uns für keinen der streitenden Teile, aber deshalb stehen wir ihm keineswegs gleichgültig gegenüber, sondern suchen, soweit es unsre Prinzipien gestatten, den Sieg der Bourgeoisie zu fördern, die innerhalb der Klassengesellschaft und gegenüber dem Junkertum die höhere Kultur repräsentiert und deren Sieg über das Junkertum einen großen Schritt zu unserm Siege über die Bourgeoisie vorwärtsführt.

In diesem Sinne hat Genosse M. Beer in der „Neuen Zeit" den japanisch-russischen Krieg einer wissenschaftlichen Analyse unterzogen und ist dabei zu dem unseres Erachtens richtigen Ergebnis gelangt, dass sich eben in diesem Kriege und durch diesen Krieg die höhere Kultur Japans, verglichen mit der russischen, offenbart hat. Eine solche Untersuchung entspricht durchaus den Interessen und Tendenzen der Sozialdemokratie, die für die Klopffechter des Kapitalismus freilich immer ein unergründliches Geheimnis bleiben werden.

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