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Franz Mehring 19090219 3 x 1 = 1

Franz Mehring: 3 x 1 = 1

Ein Kapitel über historische Methode

19. Februar 1909

[Die Neue Zeit, 27. Jg. 1908/09, Erster Band, S. 769-775. Gesammelte Schriften, Band 13, S. 277-295]

Die Notwendigkeit der Entwicklung, die durch Begabung oder Schwäche der einzelnen Personen nur leise berührt, nicht dauernd verschoben werden kann, ist überall wuchtig herausgearbeitet … Wir sind gewohnt, die Größe der Geschichtsschreibung zu messen an der Kraft, mit der sie versteht, das Walten geschichtlicher Notwendigkeiten uns vor die Seele zu führen. An diesem Maßstab gemessen, gebührt Mehrings Darstellung ein hoher Platz. Das alles gilt von der zweiten Auflage, wie es von der ersten galt, aber es sollte auch bei dem Erscheinen der zweiten Auflage gesagt werden, damit die Arbeiterschaft merke, welch einen Schatz sie an diesem Werke hat.

Max Maurenbrecher

Der Leser verzeihe, dass ich mit einer autobiographischen Notiz beginne. Als Knabe sollte und wollte ich Theologie studieren, und mit dem ganzen Ehrgeiz eines hoffnungsvollen Pennälers gedachte ich die theologischen Examina vor dem Konsistorium in Stettin mit allem Glanze zu absolvieren. Aber ich verzichtete auf diese Lorbeeren, als ich zu erkennen glaubte, dass ein erschöpfendes Eindringen in alle Geheimnisse einer Wissenschaft, die auf der Grundtatsache beruht, dass 3 x 1 = 1 ist, eine unheilbare Gehirnverrenkung verursachen müsse, die es mir unmöglich machen würde, jemals wieder die schlichte sinnliche Kutscherlogik des profanen Lebens zu handhaben oder zu verstehen. Und auf diesen bescheidenen Genuss wollte ich nicht verzichten.

Deshalb habe ich nun freilich umso größeren Respekt vor den ernsteren und strengeren Geistern, die sich durch irdische Genusssucht nicht hindern lassen, die steilen Pfade der Gottesweisheit zu erklimmen. So auch vor dem Genossen Maurenbrecher, zumal da ich seine historischen Talente noch viel höher schätze als er die meinigen, was gewiss – siehe das Motto dieser Zeilen! – etwas sagen will. Und als ich in den „Sozialistischen Monatsheften" las, dass Genosse Maurenbrecher meinen Freund Kautsky um alle wissenschaftliche nicht nur, sondern auch um alle menschliche Ehre rezensiert hat, da tat mir dieser arme Kerl zwar aufrichtig leid, und ich hätte eigentlich seine Tränen trocknen sollen, aber es drängt mich doch weit mehr dazu, das Strafgericht des Genossen Maurenbrecher vor ärgerlichen Missdeutungen zu schützen.

Genosse Maurenbrecher tadelt die „eilfertige Methode", womit Kautsky sein Buch über den Ursprung des Christentums geschrieben habe; Kautsky habe ganz nach Willkür und Laune oder nach dem Zufall dessen gearbeitet, woran sein rasches Durchblättern der neutestamentlichen Schriften gerade einmal haftenblieb. Nun hat Kautsky sich seit nahezu einem Menschenalter mit der Entstehung des Christentums beschäftigt – seine erste Arbeit darüber erschien vor fünfundzwanzig Jahren in der „Neuen Zeit" –, während Genosse Maurenbrecher eine Arbeit über die Hohenzollern mit dem ehrlichen Eingeständnis begann, dass er sich nie mit preußischer Geschichte befasst habe, aber in anderthalb Jahren mit zwei Quartanten darüber fix und fertig wurde.

Man wird danach zugeben, dass der Vorwurf der „eilfertigen Methode" etwas eigentümlich klingt, wenn er vom Genossen Maurenbrecher gegen Kautsky gerichtet wird. Aber der kleine Missklang löst sich in vollendete Harmonie, wenn man ihn unter dem Gesichtspunkt betrachtet: 3 x 1 = 1.

Jedoch nicht nur der „Eilfertigkeit", sondern auch der „Leichtfertigkeit" hat sich Kautsky schuldig gemacht; er hat eine „oberflächliche und leichtfertige Stimmungsmache" betrieben, indem er die Evangelien als historisch wertlos erklärte. Er hat den historischen Materialismus kompromittiert und lächerlich gemacht in den Augen derer, die Sachkenntnis und Quellenstudium für die erste Aufgabe des Historikers ansehen. Genosse Maurenbrecher erklärt, idealistische und materialistische Geschichtsauffassung seien für den Historiker Fragen zweiten Ranges: „Die erste Aufgabe des Geschichtsschreibers bleibt die einfache Feststellung der Tatsachen, in denen die geschichtliche Bewegung sich abgespielt hat. Was ist eigentlich geschehen? Welche Vorgänge haben sich ereignet? Diese Feststellung liegt jenseits der Frage nach der Verursachung der Geschichte. Hier hilft uns keine Philosophie, keine vorgefasste Meinung über das, was möglich oder unmöglich ist, keine Lehre und keine noch so einschmeichelnd vorgetragene Zusammenfassung des weltgeschichtlichen Zusammenhanges, in den man eine bestimmte Erscheinung hineinstellt. Hier hilft nur gewissenhafte, ehrliche und fleißige Arbeit an den Quellen, die über die Erscheinung, das heißt über ihren tatsächlichen Verlauf, unterrichten. Hier gibt es keinen Unterschied zwischen bürgerlichem oder proletarischem Standpunkt. Hier gibt es nur die mehr oder weniger große Sachkenntnis und Treue des einzelnen Forschers." Und auf den Wogen dieser sittlichen Entrüstung schwimmt Kautsky davon wie ein Kork auf der Meereswelle.

Allein amicus Plato, sed magis amica veritas1. Bei allem Mitleid mit dem Verlorenen muss ich doch anerkennen, dass Genosse Maurenbrecher das Recht hat, so zu sprechen, dass er die etwas laut schallende, aber immerhin die harmonische Glocke seiner Taten ist. Um nur ein Beispiel anzuführen, so stellt Genosse Maurenbrecher einmal die einfache Tatsache fest, dass die Hohenzollern in den Tagen der Reformation nicht fürstliche Sonderinteressen verfolgt, sondern das Kaisertum unterstützt haben, wobei er das seltene, aber durch seine eindringenden Forschungen verdiente Glück hat, einen historischen Zusammenhang zu enthüllen, der sterblichen Augen bisher völlig verschleiert war. Aber erst nachdem er die Sachkenntnis und die Treue des Forschers bewährt hat, gibt er den „historisch-materialistischen" Senf dazu, indem er schreibt: „Sie (die Hohenzollern) haben gegen die Solidarität ihrer Klasse gefrevelt, haben, wenn man so will, Streikbrecherdienste getan. Alle anderen Sünden können vergeben werden, aber der feige Verrat an der eigenen Klasse, die Unterstützung des Gegners, gegen den die Klasse als solche kämpft, das ist die Sünde, für die es keine Vergebung gibt. Das ist die eigentliche Erbärmlichkeit, die eigentlich allein wirklich verabscheuenswürdige Niedrigkeit, die die Geschichte kennt."

Es ist leider nicht zu bestreiten, dass Kautsky an diesem Musterbeispiel, den historischen Materialismus zu Ansehen und zu Ehren zu bringen, „blind vorbeigetappt" ist.

Nicht ganz so schwer hat er sich jedoch verfehlt, wenn er die evangelischen Berichte über Jesu Leben und Sterben als historisch wertlos verwirft. Hier ist ihm nicht dolus, sondern nur culpa nachzuweisen2; er hat in freilich recht fahrlässiger Weise unseres Schillers weise Mahnung vernachlässigt: Was ist die Mehrheit? Mehrheit ist der Unsinn! Denn die Mehrheit aller Historiker ist allerdings der Ansicht, dass die Evangelien keine historischen Quellenwerke sind und sein können, dass Erzählungen, die dermaßen von Widersprüchen und Wundern strotzen, auch in denjenigen Teilen nicht den geringsten Glauben verdienen, wo sie an sich glaubhaft sind und nicht widerlegt werden können. In der Praxis mögen Historiker noch oft der Versuchung unterliegen, da, wo gute Quellen fehlen, auch schlechte Quellen zu benutzen, nachdem sie das handgreiflich Falsche ausgemerzt haben, aber im Prinzip herrscht unter ihrer Mehrheit völlige Übereinstimmung, wobei mit dem Genossen Maurenbrecher gesagt werden darf: Hier gibt es keinen Unterschied zwischen bürgerlichem und proletarischem Standpunkt.

Selbstverständlich ist damit, dass die Evangelien als historische Darstellungen für sich allein nicht den geringsten Glauben beanspruchen dürfen, nicht auch bestritten, dass sie als Geistesprodukte ihrer Zeit zwar nicht die Zeit, von der sie erzählen, aber die Zeit, in der sie entstanden sind, erleuchten können. Insoweit bestreitet Kautsky aber durchaus nicht ihren historischen Quellenwert, sondern benutzt sie reichlich genug, um Klarheit über die Entstehung des Christentums zu schaffen; was er ihnen bestreitet, das ist nur ihre Glaubwürdigkeit als historische Erzählungen. Darin hat er aber die Mehrheit aller Historiker auf seiner Seite, so dass sich in diesem Punkte sein Vergehen darauf beschränkt, gedankenlos mit dem Strome zu schwimmen.

Denn es gibt allerdings eine Minderheit von Historikern, die der Meinung sind, dass die Evangelien als historische Darstellungen gebraucht werden können. Das sind die theologischen Historiker, deren Methode sich gründet auf den ehernen Felsen: 3 x 1 = 1. Genosse Maurenbrecher schildert diese Methode sehr gut, indem er sagt, man müsse sich nur die Mühe geben, genau, geduldig und Satz für Satz die Evangelien zu lesen. Man müsse sie „vorsichtig zergliedern"; nur die „scharfe Zergliederung im Einzelnen" könne helfen. „Ein Annehmen oder Verwerfen in Bausch und Bogen ist zwar sehr bequem, denn es enthebt von einer mühsamen Untersuchung der einzelnen Worte. Aber die Bequemlichkeit des Forschens ist doch nicht der Maßstab, nach dem die Methode des Forschers sich richten soll." Diese mühsame Untersuchung der einzelnen Worte sei die richtige Methode, wie sie sich in den Werken Wredes über das Markusevangelium, Harnacks und Wellhausens über die drei ersten Evangelien bewähre. Kautsky kenne kein einziges dieser Werke, was ihn nicht hindere, ein Buch von 508 Seiten über den Ursprung des Christentums in die Welt gehen zu lassen. Es sei ein Grundfehler seines Buches, dass er nur den Anfang der modernen Bibelkritik, die Strauß und Bauer, kenne, aber nicht ihren Fortgang. Es bleibe ein Versuch mit untauglichen Mitteln, wenn er die wirklich geschehenen Tatsachen nicht soziologisch erkläre, sondern einfach beiseite schiebe und andere rein aus den Fingern gesogene Phantasieprodukte an ihre Stelle setze.

In der Tat! Aber da der advocatus diaboli3 eine theologische Einrichtung ist, so gestattet Genosse Maurenbrecher mir vielleicht einen Augenblick, ihn zu spielen. Ich will nicht so frivol sein, hier einen bürgerlichen, dem Herrn Harnack sehr nahestehenden Historiker zu zitieren, der in einem Herrn Harnack gewidmeten Werke ausführt, dass die Wortkritik, wie sie Genosse Maurenbrecher empfiehlt, der Tod aller historischen Forschung sei. Der Unglückliche wird eben auch nicht begriffen haben, was der Satz: 3 x 1 = 1 für jeden ernsten Denker bedeutet. Wir erkennen durchaus an, dass Genosse Maurenbrecher die „richtige Methode" der Harnack und Genossen richtig schildert, allein wir möchten es nicht als einen „Grundfehler" Kautskys wahrhaben, dass er sich mit dieser Literatur gar nicht oder nur beiläufig beschäftigt hat. Das Maß seiner Kenntnisse auf diesem Gebiet vermögen wir nicht mit der apodiktischen Sicherheit des Genossen Maurenbrecher zu bestimmen, aber wenn er auch nur das „Wesen des Christentums" von Harnack gelesen haben sollte, das er, wie sein Buch ausweist, gelesen hat, so dürfte er keinen Tadel, sondern nur das Lob verdienen, ein sorgsamer Haushalter mit seiner Zeit zu sein. Ich selbst beklage, mich dessen nicht rühmen zu können, da ich nicht bloß das „Wesen des Christentums", sondern noch zwei oder drei dicke Wälzer Harnacks durchgeackert habe.

Wer in der Geschichte der deutschen Bibelkritik mitreden will, muss freilich die Aufklärer Reimarus und Lessing, den Romantiker Schleiermacher, den Rationalisten Paulus, den Philosophen Hegel, die Junghegelianer Strauß und Bauer kennen, aber er braucht die Harnack und Genossen sowenig zu kennen wie die Kohorte der Theologen, die unter dem Schlachtruf: 3 x 1 = 1 gegen Lessing oder gegen Strauß anstürmten. Von Reimarus bis Bruno Bauer vollzieht sich in der deutschen Bibelkritik eine historische und logische Abfolge, die darin mündet, dass weder ein Gott noch ein Mensch die christliche Religion gestiftet habe, sondern dass diese Religion sich aus Gedankenelementen gebildet habe, die vor ihrem Entstehen durchweg in der griechisch-römischen und in der jüdischen Welt vorhanden gewesen seien, dass die christliche Religion also ein Produkt der antiken Welt gewesen sei. Was danach noch übrigblieb, war die Untersuchung der Fragen, woher diese Gedankenelemente entstanden seien und wieso sie sich in einer Weltreligion kristallisiert haben. Diese Fragen will Kautsky in seinem Buche untersuchen, und gar so „leichtfertig" scheint er mir deshalb nicht zu handeln, wenn er an Bruno Bauer anknüpft und sich gar nicht oder ganz beiläufig bei den Versuchen aufhält, die den Herrn Jesum Christum wieder als Stifter der christlichen Religion in die Historie einschmuggeln möchten.

Mit der Wissenschaft haben diese Versuche nichts zu schaffen, obgleich Harnack und Genossen sich rühmen, die „Geschichtlichkeit" der Evangelien „im großen Umfang wiederhergestellt" zu haben, weil sie gelernt hätten, auch Wunderberichte als geschichtliche Quellen zu würdigen. Ich weiß sehr wohl – und habe es auch in meiner Besprechung von Kautskys Buch hervorgehoben –, dass Harnack und Genossen die grob-rabulistischen Künste verschmähen, die von den Theologen gegen Lessing und Strauß aufgeboten worden sind, aber ebendeshalb gehen sie nicht nur hinter diese Theologen, sondern selbst gegen die alten Evangelisten zurück. Wenn schon, denn schon, und bei dem historischen Talent, das mir Genosse Maurenbrecher zu bescheinigen die Güte hat, gehe ich lieber zum Matthäus als zum Harnack, wenn es nun einmal nicht ohne Wunder in der Historie abgehen soll. Wenn ein Mensch die christliche Religion gestiftet haben soll, dann ist es entschieden rationeller gedacht, dass dieser Mensch seiner Zeit dadurch zu imponieren verstand, dass er Tote zu erwecken und den Sturm auf der See zu beschwichtigen wusste, als dass er weiter nichts vermochte, als in einem verlorenen Winkel des römischen Weltreichs einigen armen Teufeln Gedanken vorzutragen, die allesamt – davon beißt nun einmal kein Mäuslein einen Faden ab – längst in der antiken Literatur vorhanden waren.

Man gestatte einen Vergleich aus der profanen Geschichte, der zwar von dem Rechte aller Vergleiche, nämlich zu hinken, einen reichlichen Gebrauch macht, aber gerade als Lahmer seine Sache noch weit überzeugender führt, als wenn er auf gleichen Beinen ginge. Wie der Ursprung des Christentums, so ist auch der Ursprung des römischen Weltreichs, auf den Kautsky in seiner Schrift ja auch zu sprechen kommt, in einen dichten Schleier von Sagen gehüllt. Diesen Schleier hat zuerst Niebuhr in seiner Römischen Geschichte, die in zwei Jahren ihren hundertsten Geburtstag feiert, in tausend Fetzen zerrissen, so dass Mommsen, als er vor fünfzig Jahren seine Römische Geschichte schrieb, sich bei diesen Sagen gar nicht mehr aufhielt, sondern sie – ganz wie Kautsky die Evangelien – als historische Zeugnisse behandelte, nicht der Zeit, die sie widerspiegeln wollen, sondern vielmehr der Zeit, die sich in ihnen widerspiegelt. Nun setze man den Fall, nach Mommsen wäre ein profaner Harnack gekommen und hätte die „Geschichtlichkeit" der Sagen über die Entstehung Roms wiederhergestellt, auf dem Wege der fleißig und mühsam zergliedernden Wortkritik, die Genosse Maurenbrecher so anschaulich schildert. Wenn solch profaner Harnack nicht gekommen ist, so hätte er doch kommen können; bei der hohen Meinung, die Genosse Maurenbrecher von meinen historischen Fähigkeiten hat, wird er mir gewiss glauben, wenn ich mich anheischig mache, streng nach der „richtigen Methode" zu beweisen, dass der Ursprung und das Wachstum des römischen Weltreichs zurückzuführen ist auf die weisen Ratschläge, die die Nymphe Egeria dem König Numa Pompilius erteilt hat. Und wenn nun heute ein Forscher über römische Geschichte an Niebuhr und Mommsen anknüpfen wollte, statt an diesen profanen Harnack, würde er dann die glühende Lava erhabenen Zornes verdienen, die Genosse Maurenbrecher über Kautsky ausschüttet?

Der Vergleich hinkt, gewiss, weil er auf einer Voraussetzung beruht, die niemals eingetroffen ist und auch niemals eintreffen wird, aus dem ebenso einfachen wie einleuchtenden Grunde, weil kein Sterblicher je riskiert hat oder riskieren wird, das unermessliche Hohngelächter über sich zu beschwören, das jeder Versuch hervorrufen müsste, die „Geschichtlichkeit" in den Sagen über die Entstehung Roms nachzuweisen. Und so führt uns gerade das Hinken dieses Vergleichs auf den Ursprung zwar weder des Christentums noch des römischen Weltreichs, aber wohl der „richtigen Methode", die Harnack und Genossen handhaben. Die herrschenden Klassen scheren sich den Teufel um die Nymphe Egeria, aber sie haben ein sehr lebhaftes Interesse daran, dass dem Volke die Religion erhalten bleibt und Jesus in seiner welthistorischen Glorie wiederhergestellt wird.

Soviel möchte ich als advocatus diaboli für den armen Sünder Kautsky geltend machen. Aber umgekehrt wie Mephisto habe ich es nun satt, den Teufel zu spielen, und will mich wieder des trockenen Tones befleißigen. Genosse Maurenbrecher rühmt an meinen historischen Arbeiten, dass sie die Notwendigkeit der Entwicklung, die, durch Begabung oder Schwäche der einzelnen Personen nur leise berührt, nicht dauernd verschoben werden könne, überall wuchtig herauszuarbeiten wüssten. Nun ist meine Methode keine andere als die Methode Kautskys, und Kautskys Methode keine andere als meine; nimmt man einmal den Maßstab des Genossen Maurenbrecher an, so spielen Begabung und Schwäche der einzelnen Personen in meiner Parteigeschichte sogar viel mehr mit als in Kautskys Buche. So müsste Kautsky mindestens ebenso sehr oder sogar noch mehr gelobt werden als ich, allein statt dessen wird er aufs härteste getadelt, weil er nichts von Harnack und Genossen weiß oder wissen will, die aller Notwendigkeit der geschichtlichen Entwicklung „wuchtig" den Hals brechen, indem sie die Entstehung einer weltgeschichtlichen Erscheinung an die Begabung einer einzelnen Person knüpfen. Hier liegt also ein Widerspruch vor, der recht ärgerliche Missdeutungen für den Genossen Maurenbrecher hervorrufen könnte, aber denken wir ja an die entsühnende Kraft des Satzes: 3 x 1 = 1!

Etwas weitläufiger ist der Zusammenhang da, wo Genosse Maurenbrecher das Schwert zum letzten Gnadenstoß gegen Kautsky zückt. Die Aufgabe, die sich Kautsky gestellt hatte – gleichviel ob er sie gelöst hat oder nicht –, bestand darin, die geistigen Vorstellungen, die sich in der christlichen Religion kristallisiert haben, abzuleiten aus den gesellschaftlichen Verhältnissen der Zeit, worin sie entstanden ist, und diese gesellschaftlichen Verhältnisse wieder aus dem unmittelbaren Produktionsprozess des Lebens in der römischen und in der jüdischen Welt. Genosse Maurenbrecher aber sagt: Keineswegs! „Die Aufgabe ist die: Es muss als Grundtatsache des Christentums der Glaube an die Auferstehung und göttliche Weltherrschaft des eben getöteten Menschen Jesus gelten." Dieser Glaube müsse mit anderen Ideologien der orientalischen Welt zusammengebracht und dann müsse nachgewiesen werden, weshalb der christliche Glaube zunächst und auf Menschenalter Sache der armen Leute gewesen sei. „Diesen Zusammenhang von Glaubensvorstellung und sozialer Schichtung hat gerade eine sozialistisch orientierte Darstellung der Religionsgeschichte ins rechte Licht zu rücken. Es ist eine eigenartige Erscheinung, dass gerade der, der sich für den marxistischen Gralshüter hält, an dieser echtesten Aufgabe einer in Marx' Schule geformten Religionsgeschichte mit blinden Augen vorbeigetappt ist." Wobei wir den „Gralshüter" freudig als willkommene Abwechslung des ewigen „Großinquisitors" begrüßen.

Die Behauptung dagegen, dass Kautsky den Zusammenhang zwischen der christlichen Religion in ihren Anfängen und den armen Leuten nicht beachtet oder nur auch nicht ins rechte Licht gerückt habe, zeichnet sich allein durch den einen, freilich in seiner Art großartigen Vorzug aus, durch ihre – sagen wir – Kühnheit zu frappieren. Indessen soll es mir auf eine Handvoll Noten nicht ankommen, und zur Abkürzung der Diskussion will ich sogar annehmen, wenn auch nicht zugeben, dass Genosse Maurenbrecher die Tötung Jesu als den irdischen Kern nachgewiesen habe, aus dem die christliche Glaubensvorstellung entstanden sei. Wie kommt er gerade dann aber dazu, zu höhnen, dass Kautsky sich als Gralshüter aufspiele und doch am Gral mit blinden Augen vorbeitappe?

Lassen wir gleich den Gral selbst leuchten. „Die Technologie enthüllt das aktive Verhalten des Menschen zur Natur, den unmittelbaren Produktionsprozess seines Lebens, damit auch seiner gesellschaftlichen Lebensverhältnisse und der ihnen entquellenden geistigen Vorstellungen. Selbst alle Religionsgeschichte, die von dieser materiellen Basis abstrahiert, ist – unkritisch. Es ist in der Tat viel leichter, durch Analyse den irdischen Kern der religiösen Nebelbildungen zu finden, als umgekehrt, aus den jedesmaligen wirklichen Lebensverhältnissen ihre verhimmelten Formen zu entwickeln. Die letztre ist die einzig materialistische und daher wissenschaftliche Methode."4 Da will mir doch scheinen, dass der Gralshüter wirklich den Gral gehütet hat.

Aber vergessen wir nicht, weder dass Genosse Maurenbrecher bei seinen umfassenden Forschungen auf dem Gebiet der Hohenzollerngeschichte unmöglich schon die Zeit gewonnen haben kann, das „Kapital" zu lesen, noch dass er wirklich den theologischen Kontakt auch mit den profansten seiner Leser herzustellen gewusst hat. Wir möchten den sehen, der die kritischen Aufsätze Maurenbrechers lesen könnte, ohne dass ihn eine rabies theologica, der sprichwörtlich höchste Grad menschlicher Wut, über den Anspruch dieses Genossen überkäme, ein berufener „Volksbildner" zu sein. Jedoch erwürgen wir die unchristliche Empfindung durch den christlichen Glaubenssatz: 3 x 1 = 1!

Wer von der welterlösenden Wahrheit dieses Satzes durchdrungen ist, der wird auch die schriftstellerischen Leistungen des Genossen Maurenbrecher verstehen. Freilich, wenn George Sand gemeint hat, alles verstehen heiße alles verzeihen, so gibt es doch Fälle, wo man nicht verzeihen darf, gerade weil man versteht. Allein ob der Fall des Genossen Maurenbrecher zu diesen Fällen gehört, das will ich lieber ungesagt sein lassen.

1 amicus Plato, sed magis amica veritas — befreundet ist mir Plato, aber noch mehr die Wahrheit.

2 dolus — absichtliche Täuschung, Betrug; culpa — Schuld, Verschulden.

3 advocatus diaboli — Anwalt des Teufels.

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