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Franz Mehring 19010800 Anmerkungen zur Philosophie Demokrits und Epikurs

Franz Mehring: Anmerkungen zur Philosophie Demokrits und Epikurs

1901

[Aus dem literarischen Nachlass von Karl Marx, Friedrich Engels und Ferdinand Lassalle. Herausgegeben von Franz Mehring, Erster Band, Stuttgart 1902, S. 121-126. Nach Gesammelte Schriften, Band 13, S. 24-29]

Die Deklination des Atoms von der geraden Linie. Bei diesem meist umstrittenen Punkte der epikureischen Naturphilosophie handelt es sich um folgendes. Demokrit hatte die Notwendigkeit des Entstehens und Vergehens unzähliger Welten aus dem Wirbel der Atome erklärt und diesen Wirbel so entstehen lassen, dass bei der ewigen Fallbewegung der Atome durch den unendlichen Raum die größeren, weil sie schneller fielen, mit den kleineren zusammenprallten. Hiergegen hatte Aristoteles geltend gemacht, dass, wenn es einen leeren Raum geben könnte, was er für unmöglich hielt, alle Körper darin gleich schnell fallen müssten, da der Unterschied in der Schnelligkeit des Falles durch die verschiedene Dichtigkeit des Mediums, wie Luft oder Wasser, verursacht werde. Nun sagte Epikur, weil im leeren Raum gar kein Widerstand sei, so müssten alle Körper gleich schnell fallen, aber da die Atome ein wenig von der geraden Linie abwichen, so prallten sie gleichwohl aneinander. So entstand die Meinung, Epikur habe die Abweichung der Atome von der geraden Linie erfunden, um sozusagen zwei Fliegen mit derselben Klappe zu schlagen, um den Zusammenstoß der Atome besser zu begründen als Demokrit und die Atome zugleich unabhängig von der mechanischen Notwendigkeit zu machen. Dieser unter anderen von Cicero und Bayle vertretenen Ansicht entgegnet nun Marx: so äußerlich und zusammenhangslos habe sich Epikur die Sache nicht gedacht; träfen sich die Atome nicht ohne Deklination, so sei Demokrits Determinismus, der auf dem Zusammenstoß der Atome beruhe, von selbst beseitigt, ohne dass Epikur ihn noch durch die Erfindung der Deklination hätte beseitigen brauchen; umgekehrt, wenn die Atome sich ohne Deklination träfen, so hätte Epikur nicht nötig gehabt, nach einem Grunde ihres Zusammenstoßes zu suchen. Vielmehr ergebe sich die Deklination des Atoms aus dem Prinzip Epikurs, den Begriff des Atoms zu verwirklichen, sich beide Seiten dieses Begriffs zu verobjektivieren, das Atom einerseits als materielle Existenz und andererseits als formelles Wesen, als isoliertes Individuum, als abstrakt-einzelnes Selbstbewusstsein. Der Widerspruch, in den Epikur wirklich verfalle, sei der Widerspruch zwischen Form und Materie, zwischen Wesen und Existenz des Atoms, der seine ganze Naturphilosophie durchwalte, und da er diesen Widerspruch sehr wohl fühle, so suche er die Deklination möglichst unsinnlich darzustellen.

Marx stützt diese Auffassung hauptsächlich auf Lukrez, aus dessen Gedicht deshalb die entscheidenden Stellen nach Knebels Übersetzung mitgeteilt werden mögen:


Noch verlang' ich, mein Memmius, dir zur Erkenntnis zu bringen,

Dass die Körper des Stoffs, da sie senkrecht fallen im Leeren,

Durch ihr eignes Gewicht in nicht zu bestimmenden Zeiten,

Noch am bestimmten Ort, von der Bahn abtreiben ein wenig,

Wenig, so viel du nur magst die mindeste Änderung heißen.

Fände dieses nicht statt, so fielen die Körper gerade,

Wie die Tropfen des Regens herab, durch Tiefen des Leeren.

Anstoß würde nicht sein, nichts würd' auch treffen zusammen,

Und so hätte Natur nichts bilden können und schaffen.

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Alles muss sich daher, ob bei ungleichem Gewichte,

Abwärts treiben mit nämlicher Eil' im ruhigen Leeren.

Nie kann also das Schwere herab aufs Leichtere stürzen,

Noch erzeugen den Stoß, der aller Erscheinungen Grund wird.

Und so müssen durchaus sich ein weniges beugen die Stoffe.

Aber das Mindeste nur, denn niemals geben wir eine

Schräge Bewegung zu; die Erfahrung streitet dagegen.

Zeigt ja der Augenschein, kein Körper, stürzend von oben,

Könne sich schräg hinab durch eigene Schwere bewegen.

Aber ob solcher durchaus vom geraden Wege nicht etwas

Abweicht, könnte das wohl die Schärfe des Auges bemerken?

Ferner wenn alle Bewegung genau aneinander geknüpft ist,

Also dass stets ein Glied bestimmt erregte das andere,

Wenn nicht läge der Grund, der auf Abweichungen hinzielt,

Schon in den ersten Keimen des Stoffs, zu zerreißen des Schicksals

Bande, damit nicht ewig sich Folg' ankettet an Folge,

Woher ließe sich dann der freie Wille gedenken?

Dieser dem Schicksal entrissene Wille der lebenden Wesen,

Durch den jegliches geht, wohin es die eigene Lust führt.

Auch wir beugen die Richtung, in unbestimmetem Zeitlauf

Und an unbestimmetem Ort, nach eigener Willkür,

Denn wer zweifelte noch, dass unsrer Bewegungen jede

Erst im Willen entsteht, von da in die Glieder sich fortpflanzt!


Lukrez erläutert diesen Satz an dem Beispiele der Rosse, die kaum die Öffnung der Schranken erwarten können, um sich in die Rennbahn zu stürzen. Freilich könnten überragende Kräfte den Menschen wider seinen Willen fortreißen, aber am Ende siege dann wieder der Wille.


Daraus magst du ersehn, obgleich die äußere Kraft oft

Viele treibt und zwingt, auch wider den eigenen Willen,

Ja mit Gewalt sie reißet, dass dennoch in unserer Brust selbst

Etwas noch sei, das sich könn' entgegen ihr setzen und streiten,

Und auf dessen Geheiß die angehäufeten Stoffe

Müssen Gehorsam leisten in allen Gelenken und Gliedern,

Dass sie den Fortschuss hemmen, sich wieder in Ruhe zurückziehn.

Eben dasselbe musst du demnach erkennen im Grundstoff,

Dass noch ein anderes sei, das außer dem Stoß und der Schwere

Ihn in Bewegung setz' und erteile dies innre Vermögen,

Weil aus nichts nichts wird, wie bereits die Erfahrung es lehret.

Eigene Schwere verhindert, dass äußere Wirkung des Stoßes

Alles allein nicht vermag. Dass aber im Innern der Geist selbst

Nicht notwendig bestimmt zu jeder der Handlungen werde,

Gleichsam gefesselt sei, jedwedes zu dulden und leiden,

Dieses bewirkt allein die geringe Beugung des Stoffes

Am verschiedenen Ort und in nicht zu bestimmenden Zeiten.


Soweit Lukrez. Die Schwäche seiner Argumentation tritt gerade durch sein heißes Bemühen, diese Schwäche zu verdecken, umso schärfer hervor: die Körper sollen senkrecht im leeren Räume fallen, und sie sollen doch wieder nicht senkrecht fallen. Aber philosophische Konsequenz ist wirklich in dieser physikalischen Inkonsequenz, und Marx hebt treffend hervor, dass durch die ganze epikureische Philosophie jenes Gesetz des Ausweichens gehe, das sich in der Deklination des Atoms ausdrücke. Namentlich was er über die Götter Epikurs sagt, die mit der Gottlosigkeit dieses Philosophen in scheinbar so schroffem Widerspruche stehen, ist so richtig wie schön ausgeführt; diese Götter haben einen ästhetischen und keinen religiösen Ursprung.

Die sozusagen unsinnliche Deklination führt zur Repulsion, zum abprallenden Zusammenstoße der Atome, worin sich der Begriff des Atoms verwirklicht: die Repulsion ist die erste Form des abstrakt-einzelnen Selbstbewusstseins und ruft zugleich jene Wirbelbewegung hervor, aus der die Welten entstehen. Den Schlusssatz dieses Kapitels, wonach Epikur auch konkretere Formen der Repulsion angewandt habe, im Politischen den Vertrag, im Sozialen die Freundschaft, hat Marx eigenhändig hinzugefügt; anscheinend mit der Absicht, ihn noch näher zu begründen, worauf eine rubrizierte, aber nicht ausgefüllte Anmerkung hindeutet. Zeller sagt über diesen Punkt: „Als die höchste Form des menschlichen Gemeinlebens betrachtet Epikur die Freundschaft, und auch dies ist bezeichnend für ein System, welches von der atomistischen Betrachtung des Individuums ausgeht; ein solches wird folgerichtig auf die frei gewählte, nach der Individualität und der individuellen Neigung gebildete Vereinigung mit anderen größeren Wert legen, als auf diejenige, worin sich der Mensch vor aller Welt als Glied eines natürlichen oder geschichtlich gewordenen Ganzen gesetzt und bestimmt findet." So auch wird Marx die „konkreteren Formen der Repulsion" aufgefasst haben; es liegt auf der Hand, dass, was in dieser Beziehung von der Freundschaft, in gleicher Weise vom Vertrage gilt.

Die Qualitäten des Atoms. Nach Demokrit sind die Atome ungeworden, unvergänglich, ihrer Substanz nach gleichartig; um aber die Verschiedenheit der Dinge zu erklären, die aus den Atomen entstehen, gab Demokrit ihnen die Eigenschaften der Gestalt und der Größe. Hierin sah Hegel schon eine „Inkonsequenz", doch fügte er hinzu, für Demokrit handle es sich um äußere Beziehungen und gleichgültige Bestimmungen, das heißt unwesentliche Verhältnisse, welche nicht die Natur des Dinges an sich selbst beträfen und seine immanente Bestimmtheit, sondern deren Einheit nur in einem andern sei. Hegel bezog sich bereits auf die Stelle des Aristoteles, an deren Hand Marx ausführt, dass es dem Demokrit bei den Eigenschaften, die er den Atomen beilege, nur auf hypothetische Bestimmungen für die Erklärung der Erscheinungswelt angekommen sei. Epikur aber, dem es auf den Begriff des Atoms ankommt, musste den Widerspruch tiefer fassen. Um die mannigfaltige Erscheinungswelt hervorzurufen, müssen die Atome sich durch Eigenschaften unterscheiden, aber das Atom als abstrakte Einzelheit ist sich selbst gleich und kann keine Eigenschaften besitzen. Epikur hilft sich nun so, dass er Gestalt und Größe dem Atom als Eigenschaften beilegt, die ihm als „Ding an sich" zukommen, gleichwohl aber im Prinzip wieder Gestalt und Größe negiert, indem er den Atomen nur einige Größen- und Gestaltenwechsel zuerkennt.

Verwickelter steht es um die Schwere der Atome. Die Alten kannten das Gravitationsgesetz nicht, und so sagt Zeller über diesen Punkt: „Es steht außer Zweifel, dass nicht erst Epikur, sondern schon Demokrit und Leukipp den Atomen Schwere beilegten und ihr Gewicht ihrer Größe proportional setzten, wie dies ja auch alle Voraussetzungen ihrer Theorie verlangten. Unter der Schwere hat aber niemand im Altertum etwas anderes verstanden als diejenigen Eigenschaften der Körper, vermöge deren sie sich nach unten bewegen, wenn ihnen dies nicht durch ein äußeres Hindernis verwehrt wird." In der Tat, wenn Marx sagt, die Schwere der Atome habe sich für Demokrit von selbst verstanden, weil alles Körperliche schwer sei, so hat Demokrit doch auch schon die Schwere als verschiedenes Gewicht aufgefasst, da nach seiner Theorie die größeren Atome schneller fallen als die kleineren. Die richtige und äußerlich vollkommen mit der modernen Physik übereinstimmende Auffassung Epikurs, wonach die Atome, ob auch ungleich an Gewicht, im leeren Raum gleich schnell fallen, leiten Albert Lange und andere von Aristoteles ab, den Marx in diesem Zusammenhange nicht erwähnt. Vielmehr entwickelt er aus dem Gedankengange der epikureischen Naturphilosophie, dass die Bestimmung des Gewichts fortfallen müsse, wo die Atome nur in Beziehung auf den leeren Raum gedacht würden, während ihnen die Schwere als verschiedenes Gewicht zukomme bei der Repulsion und den Kompositionen, die aus der Repulsion hervorgehen.

Es liegt hier ein ähnlicher Fall vor, wie bei der heraklitischen Weltverbrennung. Es ist möglich, dass Epikur seine Ansicht von dem gleich schnellen Fall ungleich schwerer Körper aus Aristoteles entnommen hat, aber dann hat Marx aus dem epikureischen Grundprinzip klarere Schlüsse zu ziehen verstanden als Epikur selbst.

Ατομοι άρχαι und ατομα στοιχεία.1 Auch in diesem Kapitel hat Marx die epikureische Naturphilosophie vermutlich schärfer durchdacht als ihr Urheber. Er selbst gibt zu, dass Epikur oder doch dessen Lieblingsschüler Metrodor zwischen den Atomen als άρχαι und στοιχεία2 unterschieden haben könne, aber er schreibt diese Unterscheidung der subjektiven Weise des atomistischen Bewusstseins zu, das dem Epikur eigen gewesen sei. Auf die Polemik gegen Schaubach braucht hier nicht näher eingegangen zu werden. Es ist klar, dass die epikureische Naturphilosophie vollständig in der Luft hängen würde, wenn sie zwei verschiedene Arten von Atomen voraussetzte. Epikur ringt mit dem Widerspruche seiner Philosophie, wenn er zwischen dem Atom als άρχη, als formalem Prinzip des Selbstbewusstseins, und dem Atom als στοιχειον, als materiellem Substrat der Erscheinungswelt, unterscheidet, aber der Widerspruch entsteht eben daraus, dass ihm dasselbe Atom beides soll; gäbe er zwei besondere Arten von Atomen zu, so hätte er zwar den Widerspruch beseitigt, aber mit ihm auch seine ganze Philosophie.

Die Zeit. Für Epikurs Naturauffassung ist die sinnliche Wahrnehmung das einzige Kriterium der Wahrheit; die Sonne ist ihm zwei Fuß groß, weil sie dem menschlichen Auge so groß zu sein scheint. In diesem physikalischen Unsinn den philosophischen Sinn zu entdecken, ist die Aufgabe dieses Kapitels. Marx findet ihn in der Lehre Epikurs von der Zeit als der absoluten Form der Erscheinung. Die Zeit ist für Epikur der ewige Wechsel der Erscheinungswelt, so wie es Lukrez in den Versen ausspricht:

So auch bestehet die Zeit für sich nicht; erst aus den Dingen Selber ergibt der Begriff sich von dem, was früher geschehen, Was jetzt eben geschieht und was in der Folge geschehn wird. Noch hat keiner die Zeit als was für sich selber empfunden, Von der Bewegung der Dinge getrennt, in friedlicher Ruhe.

Die Zeit ist die Bewegung der Dinge, die mit den menschlichen Sinnen wahrgenommen wird; von ihr ist nichts anderes auszusagen, als dass sie nach der Enargie, nach der Augenscheinlichkeit zu bestimmen ist; die Sinnlichkeit des Menschen ist die verkörperte Zeit. ;

Abermals ergibt sich die Auffassung Epikurs aus dem Widerspruch zwischen Form und Materie. Kann das Fundament der konkreten Natur, das Atom, nur mit der Vernunft aufgefasst werden, so die konkrete Natur selbst nur mit den menschlichen Sinnen, in denen sich die Naturprozesse entzünden und zum Lichte der Erscheinung drängen. Die Zeit scheidet und verbindet zugleich die Welt des Wesens und die Welt der Erscheinung; von jener ausgeschlossen, wird sie dieser zur absoluten Form, allein sie ist, wie Marx mit einem prächtigen Vergleiche sagt, das Feuer des Wesens, das die Erscheinung ewig verzehrt und ihr den Stempel der Abhängigkeit und Wesenlosigkeit aufdrückt. Ist somit die sinnliche Wahrnehmung als verkörperte Zeit das einzige Kriterium der Erscheinungswelt, so verzehrt sie zugleich diese Welt, drückt ihr den Stempel der Abhängigkeit und Wesenlosigkeit auf, hebt mit einem Worte den Widerspruch zwischen Erscheinung und Wesen nicht auf, sondern treibt ihn zu jener grenzenlos-willkürlichen Erklärung der physischen Phänomene, die der epikureischen Naturphilosophie so vielen Spott zugezogen hat.

Die Meteore. Alle Widersprüche der epikureischen Naturphilosophie lösen sich in den Himmelskörpern auf, aber an ihrer allgemeinen und ewigen Existenz scheitert das Prinzip des abstrakt-einzelnen Selbstbewusstseins. So wirft es alle Vermummungen von sich, und als größter griechischer Aufklärer kämpft Epikur gegen die Religion, die mit dräuendem Blick aus den Höhen des Himmels die sterblichen Menschen schreckt. Es ist dieser Aufklärer, an dem der junge Marx ein so tiefes Interesse genommen hat. Was er übrigens von dem Himmelskultus der griechischen Philosophen sagt, führte Ludwig Feuerbach gleich darauf in seinem „Wesen des Christentums" ebenso aus; auch Feuerbach berief sich auf das Wort des Anaxagoras, wonach der Mensch zur Anschauung der Sonne, des Mondes und des Himmels geboren sei. […]

1 Atome als Prinzipien (atomoi archai) und Atome als Elemente (atoma stoicheia).

2 Prinzip (arche) und Element (stoicheion).

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