Franz Mehring‎ > ‎Philosophie‎ > ‎

Franz Mehring 19880222 Arthur Schopenhauer

Franz Mehring: Arthur Schopenhauer

22. Februar 1888

[ungezeichnet. Volks-Zeitung (Berlin) Nr. 45, 22. Februar 1888. Nach Gesammelte Schriften, Band 13, S. 149-151]

Wenn wir heute an den hundertjährigen Geburtstag Schopenhauers einige Worte der Betrachtung knüpfen, so geschieht es und kann es selbstverständlich nur in dem Rahmen einer politischen Tageszeitung geschehen. Mit anderen Worten: wir verzichten von vornherein auf jeden Versuch einer Würdigung dessen, was Schopenhauer als strenger Systematiker geleistet oder nicht geleistet hat; unsere Aufgabe ist darauf beschränkt, seinen Einfluss auf unsere nationale Entwickelung abzuwägen.

Bekanntlich hat mehrere Jahrzehnte hindurch von einem solchen Einfluss in keiner Weise gesprochen werden können. Länger als ein Menschenalter lag das philosophische Hauptwerk Schopenhauers im Drucke vor, ohne dass es über die engsten Fachkreise hinaus beachtet worden wäre. Ob es heute viel weiter gekannt ist und gelesen wird, mag dahingestellt bleiben. Jedenfalls trat Schopenhauer unter die geistigen Führer der Nation erst durch eine Sammlung von Abfällen, amüsanten und in ihrer Art geistreichen Abfällen, aber immerhin doch nur Abfällen seines philosophischen Denkens, die „Parerga und Paralipomena"1, welche im Anfang der fünfziger Jahre erschienen und mächtig einschlugen, weil sie ein rechtes Wort zur rechten Zeit waren.

Ein rechtes Wort zur rechten Zeit, vorausgesetzt, dass man den Begriff des „Rechten" nur nicht im sittlichen Sinne fasst. Die bürgerlichen Klassen von Deutschland hatten im Jahre 1848 endlich einmal den Versuch gemacht, das bürokratisch-militärisch-polizeiliche Joch abzuschütteln und das deutsche Staatswesen auf moderne Grundlagen zu stellen, und dieser Versuch war gänzlich gescheitert. Nicht ganz, aber großenteils durch ihre eigene Schuld, oder noch richtiger: durch die alleinige Schuld eines großen Teiles von ihnen, des Teiles, welcher sich vor einem Menschenalter „Gothaer" nannte und heute sich „Nationalliberale" nennt. Diese Biedermänner hatten weder den Mut gehabt, den Stier bei den Hörnern zu fassen, noch auch hatten sie den Mut gehabt, mit den arbeitenden Klassen ein ehrliches Bündnis gegen den gemeinsamen Feind zu schließen. Gekeilt in drangvoll fürchterliche Enge, hatten sie die Sache der Freiheit verraten, weil die Angst vor dem roten Gespenst ihnen noch schrecklicher war als die Angst vor der Fuchtel des Despotismus. Freilich, als diese Fuchtel dann tatsächlich auf ihrem Rücken tanzte, bemächtigte sich ihrer doch eine gar katzenjämmerliche Stimmung, denn so gänzlich ermangelte der Nationalliberalismus der fünfziger Jahre noch nicht der Scham, wie das Gothaertum der achtziger Jahre ihrer ermangelt.

In diese dumpfe Trübsal fiel nun erlösend die Lehre Schopenhauers. Wie tröstlich klang für die, welche das Vaterland in die elendeste Lage gebracht hatten, der weltflüchtige Pessimismus, welcher „bewies", dass die Menschen überhaupt nach unabänderlichen Naturgesetzen in der denkbar elendesten der Welten leben müssten; wie tröstlich klang für die Verräter an der Freiheit und am Volke das Evangelium der Trostlosigkeit! Ein Evangelium, welches für jeden vernünftigen Menschen nichts bewies, als dass der Prophet, welcher es verkündete, selber nicht bei Troste sein könne. Denn in der Tat liegt der grellste Widerspruch darin. Wenn die Welt ein Ding ist, das besser nicht wäre, so ist ja auch das Denken des Philosophen, das ein Stück dieser Welt bildet, ein Denken, das besser nicht dächte. Der pessimistische Philosoph bemerkte nicht, wie er vor allem auch sein eigenes, die Welt für schlecht erklärendes Denken für schlecht erklärt; ist aber ein Denken, das die Welt für schlecht erklärt, ein schlechtes Denken, so ist ja die Welt vielmehr gut.

Sowenig wie der Prophet selbst, entdeckten seine Gläubigen den inneren Widerspruch des neuen Evangeliums. Sehr begreiflicherweise, denn ihnen war jedes Narrenseil gut genug, welches sie aus dem moralischen Elend ihres Katzenjammers heraus zu schleifen versprach. Und es ist ja auch nicht zu bestreiten: amüsant und pikant genug wusste Schopenhauer seine Widersinnigkeiten auszustaffieren. Wie im Allgemeinen, so kam er auch im Einzelnen dem Geschmacke der Zeit entgegen. Er schimpfte besonders auf Hegel, die Juden und die Weiber. Auf Hegel natürlich, denn sie waren ja alle Schüler von Hegel, die unsere bürgerlichen und arbeitenden Klassen aus der dumpfen Ruhe der Philisterhaftigkeit aufgestachelt hatten, die Ruge und Strauß und Feuerbach, und nun gar die Lassalle und Engels und Marx. Auf die Juden natürlich, denn die Juden hatten ja nach der rechtgläubigen Mär 1848 gemacht. Auf die Weiber nun gar, ach, die Weiber! Wie hätten sie nicht von denen gehasst werden sollen, welche 1848 bewiesen hatten, dass sie so gar keine Männer, aber auch wirklich so gar keine Männer waren!

So wurde Schopenhauer ein „geistiger Führer" des deutschen Volkes, und er, welcher, als diese Nation noch nicht „reif" für seine Philosophie war, nicht genug über das „Kröten- und Otterngezücht" zetern konnte, spiegelte sich mit der widerlichsten Eitelkeit in dem neuen Glanze seines Ruhms. Überhaupt hat es nie einen Philosophen in der Weltgeschichte gegeben, welcher seinen persönlichen Lebenswandel sowenig philosophisch führte wie dieser Mann. Abergläubisch und furchtsam, geizig und misstrauisch, nur auf seinen kleinlichen Vorteil, auf sein persönliches Behagen, auf seine Rente bedacht, lebte er ein jammervolles Philisterdasein. Er hasste das Volk, und seine Kriecherei vor jedem Despotismus ging so weit, dass er die „blauhosigen Stockböhmen", welche 1848 die deutsche Jugend in Frankfurt und Wien niederkartätschten, für seine „werten Freunde" erklärte, ihnen seinen „großen doppelten Operngucker" lieh, damit sie nur ja in aller Bequemlichkeit die „souveräne Kanaille" abschießen konnten.

Und so haftet denn auf unserer geistigen Entwicklung seit einem Menschenalter der dunkle Fleck, dass Schopenhauer der gelesenste Philosoph des deutschen Volkes ist. Er und seine Jünger, welche ebenso wie der Meister hinter der Maske ihres hochmütig einher stelzenden Pessimismus nur den einen Stolz kennen, die „geistreichen" Schergen jedes geistlosen Despotismus zu sein. Hat doch der begabteste dieser Jünger, der große „Philosoph des Unbewussten", in dieser trostlosen, dieser denkbar schlechtesten Welt noch zwei vortreffliche Dinge zu entdecken gewusst: nämlich erstens die Gründungen der Schwindeljahre, welche er für den Anfang zur Lösung der sozialen Frage erklärte, und zweitens das Sozialistengesetz, in welchem er, wie es scheint, das Ende jener Lösung erblickt. Es ist unglaublich, aber es ist buchstäblich wahr: die Lobpreisung der Gründungen und des Sozialistengesetzes hat Herr Eduard von Hartmann aus der Tiefe seines philosophischen Denkens geschöpft, und eben dadurch hat er sich auch als echten Jünger Schopenhauers beurkundet.

Um nicht unbillig zu urteilen: in einem Punkte blieb Schopenhauer allerdings den Überlieferungen unserer großen Denker und Dichter treu; in religiösen Fragen war er ein Freidenker. Aber die Zeiten sind längst vorüber, in denen man den himmlischen Gewalten den Krieg machen und in untertänigster Demut vor den irdischen Gewalten ersterben konnte. Heute heißt es: entweder – oder, und wir werden die letzten sein, die Reaktion zu tadeln, weil sie den ganzen Menschen verlangt. Und so ist es denn bezeichnend, dass vor einigen Jahren der Name von Bennigsen unter einem Aufruf für ein Denkmal Schopenhauers prangte, während er heute auch unter einem Aufruf für ein Denkmal des Stoecker prangt. Von Schopenhauer bis zum Stoecker, das ist freilich noch ein großer Schritt; es ist der Schritt, welcher den Hass von der Verachtung trennt. Aber diesen Schritt getan zu haben ist die einzige „Entwickelung", welche vom Gothaertum zum Nationalliberalismus führt, und der geistige Führer auf dem Wege dieser Entwicklung war trotz seines persönlichen Freidenkertums doch kein anderer als Schopenhauer.

1 Parerga und Paralipomena - Beiwerk und Ausgelassenes.

Kommentare