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Franz Mehring 19081120 Bemerkungen über Hegel

Franz Mehring: Bemerkungen über Hegel

20. November 1908

[Die Neue Zeit, 27. Jg. 1908/09, Erster Band, S. 310/311. Nach Gesammelte Schriften, Band 13, S. 86-88]

Max Adler, Marx als Denker. Zum 25. Todesjahr von Karl Marx. Berlin 1908, Verlag Buchhandlung Vorwärts, Berlin SW 68. 96 Seiten. Preis 1,20 Mark.

Die Schrift Max Adlers ist die erweiterte Wiederholung eines Vortrags, den der Verfasser der Freien Vereinigung sozialistischer Akademiker und Studenten in Wien gehalten hat. Worauf es ihr ankommt, ist ein Überblick über die Gedankenelemente, die an dem Aufbau der Lehre von Karl Marx wirksam gewesen sind, um dadurch sowohl zu zeigen, in wie innigem Zusammenhang die theoretischen Grundlagen des modernen Sozialismus mit der kritischen Arbeit der deutschen Philosophie stehen, als auch welche Einheit des philosophischen Standpunktes, welche Geschlossenheit und Konsequenz der Gedankenentwicklung die Geistesarbeit des jungen Marx mit seiner reifen Zeit verbindet.

Es ist fast überflüssig, zu sagen, dass die Lösung dieser Aufgabe einem philosophisch so hervorragend begabten Kopfe wie Max Adler in vorzüglicher Weise gelungen ist. Wenn wir vor einigen Jahren einer Gedächtnisschrift, die er zu Kants hundertstem Todestag veröffentlichte, nicht ohne manche kritische Bedenken gegenüberstanden, so sind wir gegenüber seiner Gedächtnisschrift auf Marx in der ungleich erfreulicheren Lage, zu bekennen, dass wir sie von Anfang bis zu Ende mit lebhaftestem Interesse gelesen haben und sie angelegentlich jedem empfehlen können, dem an einem erschöpfenden Verständnis des Denkers liegt, zu dessen Ehren sie erschienen ist.1 Sie ist freilich keine Agitationsschrift im populären Sinne des Wortes; sie setzt eine gewisse Vertrautheit mit der philosophischen Schulsprache voraus, die nicht mehr jedermanns Sache ist und schwerlich jemals wieder jedermanns Sache werden wird, allein über die Grenze des Notwendigen hinaus ist Max Adler im Gebrauch dieser Sprache nicht gegangen.

Besonders wohltuend berührt in seiner Schrift die objektive Würdigung Hegels. Der Streit um Kant hätte nie solche Schärfe und solchen Umfang angenommen, wenn es sich nur um die historische Bedeutung des Königsberger Philosophen gehandelt hätte, die niemand bestreiten kann; die berufene Forderung aber, auf Kant zurückzugehen, von den Irrwegen, auf die nach Kant die „Begriffsromantiker" Fichte und Hegel geraten sein sollen, musste rückhaltlos und rücksichtslos zurückgewiesen werden, gerade auch um dem Denker Marx seine historische Bedeutung zu sichern.

Max Adler legt nun in dankenswerter Weise den Weg von Kant zu Hegel als eine notwendige Entwicklung dar. Für Kant ist die Erfahrung das nicht weiter Abzuleitende; sie ist einfach vorauszusetzen, oder besser gesagt: mit ihr ist anzufangen. Das Denken hat gegenüber dem Erfahrungsstoff, wenn es kritisch sein will, nicht etwa die Frage aufzuwerfen, woher die Erfahrungsmannigfaltigkeit komme oder warum sie gerade so und nicht anders sei, sondern nur die Frage, wieso das Denken die Dinge überhaupt in sich aufnehmen könne, wieso ein Wissen von dem Erfahrungsstoff, der nun einmal da ist, in einer für alle Menschen gültigen Weise möglich sei. Für Hegel dagegen ist gerade dies der Stein des Anstoßes, bei dem stehenzubleiben, was nun einmal da ist. Die Erfahrung in ihrer bloßen Zufälligkeit dürfe nicht einfach angenommen werden. Im prinzipiellen Gegensatz gegen den Standpunkt der Erkenntniskritik verkündet Hegel daher schon im Beginn seiner Enzyklopädie den Grundsatz, worin die Eigenart seiner nicht mehr formalen, sondern inhaltlich interessierten Problemstellung zu unverkennbarem Ausdruck kommt, dass die denkende Betrachtung die Notwendigkeit ihres Inhaltes aufzuzeigen habe, also sowohl das Sein als auch die Bestimmungen des Seins in seinen einzelnen Erscheinungen erst beweisen müsse.

So musste Hegel die Philosophie Kants als eine äußerlich konstruktive und grundsätzlich verfehlte Denkrichtung ablehnen. Dabei war er aber weit entfernt davon, in irgendeine „Begriffsromantik" zu geraten. Sehr gut und treffend schreibt Max Adler: „Wie sehr diese großartige Denkweise Hegels einem Realismus zustrebte, der alle Wahrheit der Philosophie nur aus der Selbsterfassung des objektiven Weltinhaltes zu gewinnen suchte, wie sehr deshalb auch dieser Denker in der methodischen Grundlage seiner Lehre aller müßigen Spekulation sowie willkürlicher Schwärmerei abhold sein musste, das zeigt sich nun auch darin, dass gerade Hegel, der so verschrieene Ideenkonstrukteur, sich wiederholt in scharfer Polemik gegen jene Auffassung von der Philosophie wendet, welche ihre Aufgabe nur dahin zu bestimmen weiß, der Wirklichkeit einen idealen Schein gegenüberzustellen." Max Adler sagt damit eigentlich nichts Neues; Marx und Engels haben schon in der „Heiligen Familie" und Lassalle im „System der erworbenen Rechte" darauf hingewiesen, dass die leere Schaumschlägerei und Wortmacherei der „Begriffsromantik" nur von den bürgerlichen Nachfahren Hegels verschuldet worden sei, aber es ist sehr dankenswert, dass gerade ein Mann, dem man keinerlei Voreingenommenheit gegen Kant vorwerfen kann, es einmal wieder mit allem Nachdruck ausspricht.

Die wirkliche Schranke der Hegelschen Philosophie war ihre metaphysische Form. Sie isolierte das menschliche Denken nicht mehr in unbegreiflicher Weise gegenüber der Natur, sondern dies Denken war ihr nur ein Teil des Weltprozesses, aber die, wie Max Adler sich ausdrückt, „Eigengesetzlichkeit des Weltprozesses" war für Hegel die mystische Eigenbewegung eines in außerzeitlichen Verhältnissen lebenden absoluten Geistes, während Marx sie in die profane Bewegung des in konkreten, raumzeitlichen Verhältnissen lebenden Geistes der Menschen verlegte. So vollzog Marx zugleich die Fortbildung wie die Umwälzung der Hegelschen Philosophie, was Max Adler nunmehr in lichtvoller Weise an der geistigen Entwicklung des Denkers Marx darlegt.

1 Mehring hat Adlers Schrift nicht richtig eingeschätzt. Max Adler suchte in seinen Arbeiten die materialistischen philosophischen Grundlagen des Marxismus zu zerstören, indem er „nachweisen" wollte, dass Marx und Engels keine Materialisten, sondern eigentlich Kantianer und Positivisten gewesen seien. Adler suchte der marxistischen Dialektik ihren objektiven, wissenschaftlichen Charakter zu nehmen und sie auf eine „Methode der Betrachtung und Wertung" zu reduzieren.

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