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Franz Mehring 19001128 Christentum und Sozialdemokratie

Franz Mehring: Christentum und Sozialdemokratie

28. November 1900

[Die Neue Zeit, 19. Jg. 1900/01, Erster Band, S. 257-260. Nach Gesammelte Schriften, Band 13, S. 424-429]

In vergangener Woche haben hier zwei große sozialdemokratische Volksversammlungen stattgefunden, die ältere Parteigenossen an alte Zeiten erinnert haben werden: an die Redekämpfe, die der Hofprediger Stoecker mit Most über Christentum und Sozialdemokratie führte. Es liegt uns durchaus fern, den Genossen Göhre mit Stoecker, oder die Genossen, die ihn in jenen Versammlungen bekämpft haben, mit Most zu vergleichen: der entscheidende Vergleichspunkt liegt darin, dass wieder in stark besuchten Arbeiterversammlungen über die Stellung der Partei zum Christentum gestritten worden ist, was mindestens mit dieser ebenso auflodernden wie unfruchtbaren Hitze seit Jahrzehnten, seit den Tagen Mosts und Stoeckers, nicht geschehen war.

Wer hierzu den Anstoß gegeben hat, kann auf sich beruhen bleiben; um der Billigkeit willen sei jedoch hervorgehoben, dass Göhre sich in der zweiten jener Versammlungen als den Getriebenen und nicht als den Treibenden hingestellt hat. Wir zweifeln daran um so weniger, als in deutschen Arbeiterkreisen unzweifelhaft ein lebhaftes Interesse an religiösen Fragen besteht, eine Folge der unerfreulichen Tatsache, dass die Arbeiter bis in ihr vierzehntes Lebensjahr in unseren herrlichen Volksschulen mit religiösem Stoffe vollgestopft werden. Je eifriger diese geistige Zwangsfütterung vollzogen wird, um so heftiger ist die intellektuelle Reaktion dagegen, woraus sich denn auch erklärt, dass ein Buch wie Corvins „Pfaffenspiegel" unter den deutschen Arbeitern eine so überaus große, oft selbst ihre eigene ökonomische und politische Klassenliteratur überflügelnde Verbreitung gefunden hat. Von diesem Standpunkt aus gewinnt die von Göhre, freiwillig oder unfreiwillig, begonnene Propaganda ein allgemeineres Interesse, das wohl einige orientierende Bemerkungen lohnt.

Das sozialdemokratische Programm erklärt die Religion für Privatsache, womit von selbst gesagt ist, dass es sich gegen jede Form der Kirche ablehnend verhält. Diese beiden Forderungen Göhres sind längst erfüllt, und es ist nicht wohl zu erkennen, weshalb er noch ihre „Vertiefung" fordert. Hier oder da mögen wohl Fälle vorkommen, wo sozialdemokratische Redner oder Schriftsteller dem Grundsatz zu nahe treten, dass Religion Privatsache sein soll, aber solche Fälle werden immer mit unterlaufen bei Bekämpfung der Kirchen, von denen Göhre ja auch nichts wissen will. Solange sich die Kirchen zu Werkzeugen der politischen oder sozialen Unterdrückung hergeben und dabei den Schild der Religion über sich halten, solange ist es ganz unvermeidlich, dass die Arbeiter, die keine philosophischen Haarspalter sind, auch einmal auf die Religion schlagen, wenn sie eine Kirche meinen. Das mag ein Übelstand sein, aber ob er einen so großen Umfang angenommen hat, um seinetwegen große Volksversammlungen einzuberufen, erscheint doch fraglich, und jedenfalls würde er wohl praktischer am entgegengesetzten Ende angefasst werden, bei den frommen und gelehrten Kirchenvätern, die nicht aufhören, die Religion als heuchlerischen Deckmantel sehr weltlicher Herrschaftsinteressen zu missbrauchen.

Nun legt Göhre aber auch das Schwergewicht seiner Ausführungen in die dritte Forderung, die er „im Interesse der sozialdemokratischen Partei" stellt; er verlangt, „auf Grund der neueren theologischen Forschungen die sozialistische Literatur der letzten vierzig Jahre zu revidieren und das zu verwerfen, was wissenschaftlich nicht mehr haltbar sei"; er will nicht für sein Christentum innerhalb der Partei Propaganda machen, aber er will als modern-wissenschaftlicher Theologe, dass die Partei in diesem einen Punkte nicht roste. Nach Göhres Ansicht sind nämlich Strauß und Bauer mit ihrer Evangelienkritik sehr auf dem Holzweg gewesen: er meint, neuere theologische Forscher, wie Harnack und Holzmann, hätten nachgewiesen, dass Jesus in der Tat eine historische Person gewesen sei und dass wir in den vier Evangelien eine authentische Darstellung seines Lebens besäßen. Darnach sei das Christentum von einer machtvollen, in sich harmonisch abgeschlossenen Persönlichkeit ausgegangen, von dem einzigen Übermenschen, den die Geschichte kenne; durch die Person Jesu und nicht durch die Verhältnisse sei die Riesenbewegung des Christentums entstanden. Göhre erkennt an, dass er damit den historischen Materialismus verleugne, aber er glaubt, dessen Wert dadurch nicht zu beeinträchtigen. Die materialistische Geschichtsauffassung habe das Verdienst, der historischen Wissenschaft ein neues Motiv für die Betrachtung der Geschichte zu geben, aber man könne aus ihr nicht alle Verhältnisse, namentlich nicht die Entstehung der Religion erklären.

Mit diesem Urteil über den historischen Materialismus stellt sich Göhre auf den Boden der bürgerlichen Historiker, die heute ja so ziemlich alle sagen, dass der historische Materialismus ein anregendes Motiv, aber keine wissenschaftliche Methode sei. Wir heben dies beiläufig hervor, nicht um darin einen Verstoß Göhres gegen das Parteiprogramm zu denunzieren, denn das Bekenntnis zum Parteiprogramm verpflichtet keineswegs auf den historischen Materialismus, sondern weil der alte Irrtum, als könne eine wissenschaftliche Methode je nach Belieben durchlöchert werden, als sei sie eine Regel, die gerade durch ihre Ausnahmen bestätigt werde, nicht oft genug zurückgewiesen werden kann. Die Ausnahme, die Göhre mit dem „einzigen Übermenschen" Jesus macht, kann natürlich mit genau demselben Rechte jeder andere mit den „Übermenschen" Alexander oder Cäsar oder Kant oder Nietzsche machen: da muss allen billig sein, was einem recht ist. Entweder ist der historische Materialismus eine wissenschaftliche Methode, und dann erklärt er allerdings alle historischen Verhältnisse und speziell auch die Entstehung der Religion, wie er sich beiläufig gerade an diesem Problem in erster Reihe entwickelt hat. Oder aber er versagt auch nur in einem einzigen Falle, auch nur an dem „einzigen Übermenschen" Jesus, und dann ist er ein zerbrochenes Schwert, von dem es ganz unrichtig wäre zu behaupten, dass seine Trümmer gleichwohl und trotz alledem sehr wertvoll für die Arbeiterklasse seien.

Wie Göhre nun seinen Revisionsplan selbst verstanden wissen will, geht aus seinen Vorträgen oder wenigstens aus den Zeitungsberichten über seine Vorträge nicht ganz klar hervor. Will er nur etwaige wissenschaftlich haltlose Äußerungen über das Christentum verbessern, wie sie sich namentlich in der älteren Parteiliteratur gewiss finden, so ist seine Forderung ganz nebensächlich und selbst ein wenig komisch. Eine Partei überlebt ihre Irrtümer, aber korrigiert sie nicht wie ein Schulmeister die Schreibübungen seiner Zöglinge. Wohin sollte es führen, wenn in der älteren Parteiliteratur alles „revidiert" werden soll, was sich darin an wissenschaftlich unhaltbaren Behauptungen etwa über das eherne Lohngesetz oder die Werttheorie findet? Man kann wenige Parteischriften und kaum eine Parteizeitung der sechziger und siebziger Jahre aufschlagen, ohne, wir möchten sagen, auf jeder Seite eine inzwischen hinfällig gewordene Behauptung zu finden, aber wer möchte deshalb diesen Dokumenten die Achtung versagen, die den historischen Marksteinen der Arbeiterbewegung gebührt?

Meint aber Göhre seinen Revisionsplan nicht in diesem äußerlichen Sinne, und dass er ihn so meint, ist kaum anzunehmen, so stellt er allerdings eine sehr ernste, wichtige und, falls er sonst recht hat, auch sehr notwendige Forderung an die Partei. Die Evangelienkritiken der Strauß und Bauer waren die ersten Schlachten in dem großen Befreiungskampf, den heute die moderne Arbeiterklasse führt; auf diesen Evangelienkritiken haben Marx und Engels weitergebaut, und es ist gar nicht zu sagen, wie tief und weit sich die Wirkungen jenes lächerlichen Irrtums, den jetzt die Harnack und Holzmann aufgedeckt haben sollen, in die wissenschaftliche Parteiliteratur erstrecken. Jenes lächerlichen Irrtums, sagen wir, denn wenn die Evangelien authentische Geschichtsquellen sind, so waren die Strauß und Bauer allerdings die reinen Don Quixote, indem sie diese Tatsache mit einem ungeheuren Aufwand von Gelehrsamkeit und Scharfsinn bestritten. Und mit diesem Irrtum haben sie dann ein Wunder vollbracht, das weit jedes biblische Wunder übertrifft; sie haben damit eine geistige Revolution eingeleitet, die in dem Emanzipationskampf des modernen Proletariats gipfelt und eben in diesem Kampfe die Bürgschaft ihres unaufhaltsamen Sieges besitzt. Es ist somit unbedingt zuzugeben, dass, wenn „die modern-wissenschaftliche Theologie" die Evangelienkritik der Strauß und Bauer und damit auch deren historische Konsequenzen als irrtümlich nachgewiesen hat, eine Revision der wissenschaftlichen Parteiliteratur nicht abgewiesen werden kann.

Jedoch wird die Ansicht, dass Harnack und Holzmann die Evangelien als authentische Geschichtsquellen nachgewiesen haben, innerhalb der Partei, soweit darüber öffentliche Kundgebungen vorliegen, bisher nur von Göhre vertreten, und es ist zunächst seine Sache, die Notwendigkeit seiner Revisionsforderung so zu begründen, dass sie der Partei einleuchtet. Seine subjektive Überzeugung, so unanfechtbar sie als solche sein mag, ist kein Beweis. Hält Göhre die von ihm geforderte Revision für eine Pflicht der Partei, so ist es zunächst seine Pflicht, seine Forderung da zu erheben, wo sie zu wirklichem Frommen und Nutzen der Partei diskutiert werden kann. Das ist aber am allerwenigsten möglich in Volksversammlungen, die niemals Tribunale für die Entscheidung wissenschaftlicher Fragen sein, die niemals entscheiden können, ob die Strauß und Bauer oder die Harnack und Holzmann mit ihrer Evangelienkritik ins Schwarze treffen. Gerade wenn man Volksversammlungen hochhält als mächtige Waffen der Arbeiterbewegung, muss man sich hüten, ihnen Dinge zuzumuten, die sie nicht leisten können. Sie sind nicht für wissenschaftliche Untersuchungen da, sondern für die politische, soziale und, wenn man sonst will, für die – religiöse Propaganda. Göhre verwahrt sich gegen den Verdacht, religiöse Propaganda zu treiben; er will nur die wissenschaftlichen Waffen der Partei vom Roste säubern, und wir zweifeln durchaus nicht an seinem Worte. Aber es ist handgreiflich, dass er dann das Opfer einer jener Verwechslungen wird, denen unaufhörlich zu verfallen das Los der „modern-wissenschaftlichen Theologie" ist.

Setzen wir den Fall, irgendein Parteigenosse hätte die Überzeugung gewonnen, dass alles, was die wissenschaftliche Parteiliteratur über Alexander oder Cäsar oder Kant oder Nietzsche enthalte, gänzlich verkehrt sei und gründlich revidiert werden müsse, glaubt man denn, dieser Genosse würde eine Volksversammlung berufen, um seine Forderung zu begründen? Er würde sicherlich nicht daran denken, sondern sich an die wissenschaftliche Literatur und Presse halten. Im Falle Kants ist die Frage übrigens ja auch schon praktisch geworden; auch nicht einer der Neukantianer in der Partei ist auf den Gedanken verfallen, seine Forderungen von wegen Revision der Parteiliteratur in Sachen Kants vor einer Volksversammlung zu plädieren. Wenn Göhre gleichwohl einen so unpassenden Weg einschlägt, so erklärt es sich sehr einfach daraus, dass ihm Jesus eben nicht ein Mensch ist wie Kant, sondern ein Übermensch, der einzige Übermensch der Geschichte, der über die sonst gültigen Gesetze der historischen Entwicklung hinweg geschritten sei, also, um so deutlich wie kurz zu sprechen, weil ihm Jesus ein Gott ist. Das ist aber nicht Wissenschaft, sondern Religion, und die Forderung, die Parteiliteratur auf diesen angeblich durch die „modern-wissenschaftliche Theologie" erwiesenen Gesichtspunkt hin zu revidieren, ist religiöse Propaganda. Auf der anderen Seite – wenn ein Neukantianer eine Volksversammlung einberiefe, etwa mit der Tagesordnung: Kant und die Sozialdemokratie, glaubt man denn, dass er den Zulauf haben würde, den Göhre gehabt hat? Nicht hundert Arbeiter kämen, und nicht zehn hielten eine mehrstündige Diskussion über Kant aus. Wie den Redner, so trieb auch die Hörer, bewusst oder unbewusst, das feindliche oder freundliche Interesse an der religiösen Propaganda. Diese Volksversammlungen, die den Satz: Religion ist Privatsache, vertiefen sollten, haben ihm den härtesten Stoß versetzt, den er seit Jahrzehnten zu erdulden gehabt hat.

Ihr tatsächlicher Verlauf bestätigte denn auch durchaus, was sich logisch aus ihrem Ursprung ergab. Sie waren erfüllt von dem religiösen Streite, den jener Punkt des Parteiprogramms als einen hindernden Ballast des proletarischen Emanzipationskampfes unterdrücken will. Allerdings meinte Göhre selbst, die Versammlungen seien nicht „unfruchtbar" gewesen, und wir fürchten in gewissem Sinne, dass er recht hat, in gewissem Sinne, wenn auch gewiss nicht in seinem Sinne. Harnacks Vorlesungen über das Wesen des Christentums werden in keine Arbeitervereins-, geschweige denn Arbeiterbibliothek dringen, aber Corvins „Pfaffenspiegel" könnte leicht eine noch größere Verbreitung in Arbeiterkreisen finden, als er leider schon hat. In der Tat, wenn die von Göhre begonnene Propaganda mit ihren zunächst gänzlich unbewiesenen und in Volksversammlungen unmöglich zu entscheidenden, aber den historischen Überlieferungen der Partei ins Gesicht schlagenden Behauptungen sich „fruchtbar" erweist, so kann es nur darin sein, dass sie wieder jenen flachen, phrasenhaften und verbissenen Religionshass erweckt, von dem man gern mit Göhre wünschen mag, dass er für die deutsche Arbeiterklasse stets ein überwundener Standpunkt bleibe.

Ein großer Schaden ist freilich auch davon nicht zu befürchten; es ist nicht wahrscheinlich, dass diese Volksversammlungen lange andauern werden, so lebhaft sie immer eingesetzt haben. Man könnte vielleicht meinen, dass es deshalb ratsam sei, ihr Absterben durch Totschweigen zu beschleunigen. Allein das Totschweigen ist allemal eine unfeine Taktik, und manche Erscheinungen in diesen Versammlungen legten es denn doch nahe, einmal zu erörtern, was es eigentlich auf sich hat mit den Programmsätzen: Religion ist Privatsache.

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