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Franz Mehring 19080123 David Friedrich Strauß

Franz Mehring: David Friedrich Strauß

23. Januar 1908

[Die Neue Zeit, 26. Jg. 1907/08, Erster Band, S. 573-577. Nach Gesammelte Schriften, Band 13, S. 116-120]

Die württembergische Stadt Ludwigsburg ist die Schöpfung eines schwäbischen Sultans, der sie in den zwanziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts ins Leben rief, als ein Trutz-Stuttgart, um die alte Hauptstadt des Ländchens dafür zu strafen, dass sie seiner Dirne nicht die gebührende Reverenz machen wollte. Das ganze achtzehnte Jahrhundert hindurch blieb Ludwigsburg ein künstliches Gewächs, eine Art Theaterkulisse, schnell aufgebaut und schnell verfallend, aber damals schon ist es von Bedeutung für die deutsche Literatur geworden.

Hier in Ludwigsburg sah der Knabe Schiller das höfische Treiben jenes anderen schwäbischen Sultans, der ihm seine Jugend so arg verwüstet hat, das höfische Treiben, das in „Kabale und Liebe" verewigt ist, und in seinem anmutigen „Bilderbuch aus der Knabenzeit" hat Justinus Kerner, der kleine Poet und große Klopfgeisterseher, seine Geburtsstadt geschildert, dies „Louisburg", das heute eine schimmernde Fürstenresidenz war und morgen eine verlassene „Grasburg", wo sich in Gärten und Parks die Hofleute in seidenen Fräcken, Haarbeuteln und Degen drängten, und dann auch das „Kapregiment" die Schlossallee herab marschierte, unter den Klängen von Schubarts Liede: Auf, auf, ihr Brüder, und seid stark, der Abschiedstag ist da; wir müssen über Land und Meer ins heiße Afrika. Es waren tausend Landeskinder, die der elende Herzog an die Holländer verkauft hatte.

Im ersten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts aber wurden als Ludwigsburger Kinder geboren Eduard Mörike, Friedrich Theodor Vischer und David Friedrich Strauß. Ihnen allen war die schwäbische Eigenart gemeinsam: Kraft und Weichheit in eigener Mischung; jeder war auch ein Stück von einem Dichter, wenngleich in verschiedenen Ausmaßen. Sie alle schlugen, wie es einst der Knabe Schiller beabsichtigt hatte, die theologische Laufbahn ein, was in Schwaben, umgekehrt wie im sonstigen Deutschland, eher auf ein starkes als auf ein schwaches Rückgrat schließen ließ, und sie alle haben es dazu gebracht, die Kanzel zu besteigen, um dann wieder zur freieren Menschenerde herabzusteigen. Aber ihre höfische Heimat Ludwigsburg hat ihnen allen auch eine gänzliche Verkümmerung der politischen Mannesorgane mit auf den Lebensweg gegeben.

Am wenigsten tritt dieser Mangel an Mörike hervor, weil er in erster Reihe ein Dichter war, von dem niemand ein politisches Glaubensbekenntnis verlangte; erst nach seinem Tode ist er aus politischen Gründen von der patriotischen Ästhetik zu einem lyrischen Dichtergenie erhoben worden, der in Deutschland nur an Goethe seinesgleichen gehabt habe, zu dem edlen Zwecke, den verhassten Heine in den Hintergrund zu drängen. Die echte Lyrik Mörikes, die nicht bestritten werden kann, wird zur genialen Lyrik gemacht, weil sie von aller „politischen Tendenz" frei war. Vischer und Strauß waren in ihrer Weise auch Dichter, jedoch nicht in erster, eher in letzter Reihe; als Philosophen aber und Schüler ihres schwäbischen Landsmannes Hegel konnten sie sich die „politische Tendenz" nicht völlig vom Leibe halten. Vischer, als die knorrigere Natur von beiden, hat in blöd-burlesken Ausfällen auf die roten Halunken von Sozialdemokraten und sogar auf die zahmen Volksparteiler in Süddeutschland einen Heldenmut betätigt, um den ihn Bismarcks Soldschreiber beneiden konnten und beneidet haben. Strauß hat sich bei gleicher Gesinnung ein größeres Maß in der Form auferlegt; dafür hat er, was von Vischer, so hoch man dessen Ästhetik schätzen mag, doch nicht gesagt werden darf, eine revolutionäre Tat vollbracht, zunächst auf dem Gebiet des deutschen Geisteslebens, von wo diese Tat auch in die politischen und sozialen Kämpfe des Jahrhunderts eingriff. Strauß steht am Eingang des Weges, der von der klassischen Philosophie zum wissenschaftlichen Sozialismus führt, und so geziemt es sich, seines hundertsten Geburtstags, der auf den 27. dieses Monats fällt, auch an dieser Stelle zu gedenken.

Strauß zählte noch nicht dreißig Jahre, als er im Jahre 1835 sein „Leben Jesu" veröffentlichte. Es war nicht der Absicht, sondern der Wirkung nach eine revolutionäre Tat; wie es Luther einst mit den Thesen gegen den Ablass, die er an die Tür der Schlosskirche von Wittenberg schlug, in der Tat nur auf ein bloßes Mönchsgezänk abgesehen hatte und selbst am meisten darüber verwundert war, dass sie wie ein Blitz in ein offenes Pulverfass schlugen, so hatte auch Strauß nur eine rein historische Arbeit beabsichtigt, als er die Grundsätze der dialektischen Kritik, die er von Hegel gelernt hatte, auf die evangelische Geschichte übertrug. Nicht dass er mit ihrer historischen Wahrheit gründlich aufräumte, war das Entscheidende; das hatten vor ihm schon viele andere getan, und auch für Hegel war diese historische Wahrheit eine längst abgetane Sache gewesen, aber wie Strauß seine kritische Aufgabe löste, das schreckte die romantische Reaktion aus der selbstgefälligen Sicherheit auf, in die sie sich seit zwanzig Jahren eingesponnen hatte. Es war sozusagen der erste Kanonenschuss, der auf ein Heer abgefeuert wurde, das nur mit feudalen Speeren und Spießen kämpfen konnte; von diesem Schuss zitterten der romantischen Reaktion alle Glieder, und wie sehr sie dabei vom Instinkt der Selbsterhaltung beseelt war, bewies die Kanonade, die nunmehr anhub und bald nicht nur über das religiöse Gebiet, sondern auch das politische und soziale Gebiet fegte.

Den Kanonier aber, der den ersten Schuss abgefeuert hatte, erschreckte auch das Echo dieses Schusses. Strauß hat seinen ersten und größten und im Grunde sogar einzigen Erfolg nie völlig verwunden. Es ist für jeden Schriftsteller, ja für jeden öffentlich wirkenden Mann, eine zweischneidige Sache, wenn sein erstes Hinaustreten in die Öffentlichkeit von einer überwältigenden Wirkung begleitet wird: dadurch werden Ansprüche erweckt, die zu befriedigen sehr schwer, und die zu übertreffen oft unmöglich ist. Bei Strauß kam hinzu, dass er einen Kampf auf großem Maßstabe führen sollte, während er doch keine Kampfnatur war. Der heftige Widerstand, auf den sein „Leben Jesu" stieß, erschütterte selbst seine Überzeugung, und in den nächsten Auflagen des Buches machte er seinen Gegnern große Einräumungen, die er später selbst bitter bereut hat. Er war nichts weniger als eine feige, aber er war eine – in hohem Sinne des Wortes – zaghafte Natur; er gestand selbst, dass ihm, bei allem natürlichen Verlangen nach der Freude des Lebens, doch die rechten Organe fehlten, sich des Lebens zu bemächtigen; er habe sich zum Leben eigentlich immer nur elegisch und sentimental verhalten, die rechte Lebensfreude und Lebenslust nie empfunden.

Die bittere Wahrheit dieses Bekenntnisses tritt am schlagendsten darin hervor, dass die erste Lahmlegung seiner schriftstellerischen Tätigkeit durch seine Ehe veranlasst wurde. Strauß lebte in den glücklichsten Verhältnissen von der Welt, die ihm eine völlige Unabhängigkeit sicherten, als er aus freier Herzensneigung eine berühmte und schöne Künstlerin von tadellosem Rufe heiratete. Die Ehe wurde auch mit wohlgeratenen Kindern gesegnet, und doch schreibt Strauß: „Während der vierjährigen Dauer meiner Ehe habe ich nichts, kein Buch, keine Abhandlung, keinen Aufsatz geschrieben. Von den furchtbarsten Fragen der eigenen Existenz bedrängt, wie ich jene ganze Zeit über war, lagen mir die wissenschaftlichen Fragen fern; so fern wie dem Schiffbrüchigen, dem das Wasser bis ans Kinn geht, die Sorge für die Bewirtschaftung seiner Güter am Lande." Es bleibt keine andere Erklärung, als die Strauß selbst mit den Worten gegeben hat, es habe ihm das Organ gefehlt, sich des Lebens zu bemächtigen.

So schlug er sich auch im Jahre 1848 zur Reaktion. Selbst die guten Ludwigsburger, die ihn in den württembergischen Landtag gesandt hatten, schickten ihm ein Misstrauensvotum, als er die Ermordung Robert Blums zu beschönigen versuchte. Danach trieb er zwanzig Jahre lang eine Schriftstellerei, die Engels einmal wegwerfend als „philosophische und kirchengeschichtliche Belletristik" gekennzeichnet hat. Dies Urteil begreift sich, wenn man die Schriften von Strauß aus dieser Zeit mit dem „Leben Jesu" vergleicht; an sich aber sind namentlich die Biographien Schubarts, Frischlins, Huttens und Voltaires doch mehr als bloße Belletristik. Am gelungensten ist wohl die Biographie Huttens, wenn sie auch an dem Grundfehler leidet, dass Strauß nichts davon ahnt, was Hutten historisch gewesen ist, nämlich der theoretische Vorkämpfer des niederen Adels; den Humanisten und den Kämpfen gegen Rom wird sie vollkommen gerecht. Über die Belletristik ragen diese Schriften schon deshalb empor, weil sie „Rettungen" im Lessingschen Sinne des Wortes waren und Kämpfer- oder auch Wildlingsnaturen aus allerlei landläufigen Vorurteilen erlösten; Strauß meinte, solche Naturen zögen ihn unwiderstehlich, da sie seiner eigenen Natur so ganz entgegengesetzt wären.

Bei aller Schwachheit aber drückte ihn doch die Empfindung, nicht auf der Höhe seiner Anfänge geblieben zu sein, und so entstand ihm das Verlangen einer „letzten Abschlagszahlung", die seinem „Leben Jesu" gerecht und gleichwertig sei. Er veröffentlichte die Schrift über den alten und den neuen Glauben, die ihm ein Bekenntnis war und dem modernen Menschen eine Art Lebensbrevier sein sollte. Bis zu einem gewissen Grade oder doch in einem gewissen Sinne erreichte Strauß seinen Zweck. Im Jahre 1872, wo diese Schrift erschien, war sein Name, wie einst im Jahre 1835, der meist umstrittene in der deutschen Grenze, wenn auch nicht mehr für Monate und Jahre, sondern nur noch für Tage und Wochen. Und im Grunde fielen die Lose seiner letzten Schrift doch gerade umgekehrt, wie sie seiner ersten Schrift gefallen waren. War „Das Leben Jesu" eine nicht der Absicht, aber der Wirkung nach revolutionäre Tat, so sollte „Der alte und der neue Glaube" der Absicht nach revolutionär sein, aber der Wirkung nach wurde er es nicht.

Nur in religiöser Beziehung war Strauß fortgeschritten, indem er das Christentum als völlig tot für die moderne Entwicklung erklärte und sich zum naturwissenschaftlichen Materialismus bekannte; der dritte Abschnitt der Schrift, der eine klare und knappe Darstellung des Darwinismus gibt, ist entschieden ihr bester. Allein die politische und soziale Entwicklung von vier Jahrzehnten war spurlos an Strauß vorübergegangen; mit seiner Bekämpfung des allgemeinen Stimmrechtes, mit seiner Geringschätzung der Arbeiterbewegung, mit seiner Verherrlichung der Todesstrafe und der Monarchie hätte sich die politische Romantik von 1835 ganz gut einverstanden erklären können; es hieß sogar ihren eigensten Glauben bekennen, wenn Strauß schrieb: „In der Monarchie ist etwas Rätselhaftes, ja etwas scheinbar Absurdes, doch gerade darin liegt das Geheimnis ihres Vorzugs. Jedes Mysterium erscheint absurd, und doch ist nichts Tieferes, weder Leben noch Kunst noch Staat, ohne Mysterium." Es lohnte sich wahrhaftig, das Mysterium von Jesus Christus zu zerstören, um das Mysterium vom alten Fritz und vom alten Wilhelm zu verkünden.

Ein Glück, dass die satten Glückspilze des neuen Deutschen Reiches auch nicht einmal den religiösen Radikalismus vertragen mochten. Sie stürzten wie die Berserker über Strauß her, die Altkatholiken und die Protestanten wieder an der Spitze – auch der brave Nietzsche verdiente sich bei dieser Hetze seine Sporen –, in einem „Sauherdenton", der dem Angegriffenen die Sympathien aller anständigen Leute sicherte. Strauß selbst wies in einem Nachwort zu einer neuen Auflage seines Buches auf die sozialdemokratischen Blätter hin, die bei aller Ablehnung seiner politischen Ansichten doch seine philosophischen Ausführungen sachlich zu würdigen gewusst hätten, ganz im Gegensatz zur „gebildeten" Bourgeoispresse. Es war sein letztes Wort in der Öffentlichkeit. Gleich darauf ergriff ihn die schwere Krankheit, die binnen Jahresfrist sein Ende herbeiführte. Dem Tode sah er mit philosophischer Ruhe entgegen, und in seinem Schatten fand er die Versöhnung mit sich und der Welt, die ihm im heißen Getümmel des Lebens versagt geblieben war. So erfüllte sich ihm, was er in seinem letzten Gedicht gewünscht hatte:

Heute heißt's: verglimmen,

Wie ein Licht verglimmt,

In der Luft verschwimmen,

Wie der Ton verschwimmt.


Möge schwach wie immer,

Aber hell und rein

Dieser letzte Schimmer,

Dieser Ton nur sein.

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