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Franz Mehring 19000411 Die Neukantianer

Franz Mehring: Die Neukantianer

11. April 1900

[Die Neue Zeit, 18. Jg. 1899/1900, Zweiter Band, S. 33-37. Nach Gesammelte Schriften, Band 13, S. 189-194]

Von den Neukantianern behandelt Vorländer in dieser Reihenfolge F. A. Lange, Cohen, Stammler, Natorp und Staudinger.

Es ist hier nicht der Ort, weitläufig zu untersuchen, weshalb Albert Lange den historischen Materialismus nicht gekannt hat, obgleich er erst im Jahre 1875 gestorben ist und sich sehr eingehend mit Marx beschäftigt hat. Er bekämpft ausschließlich den naturwissenschaftlichen Materialismus der fünfziger Jahre, den Materialismus der Büchner, Moleschott, Vogt, den er ganz richtig als Begleiterscheinung des mächtig sich ausreckenden Kapitalismus auffasst. So gut er nun aber an der Hand von Marx versteht, wie der Kapitalismus einschlagen muss in den Sozialismus, sowenig versteht er an der Hand von Marx zu erkennen, dass der naturwissenschaftliche Materialismus für Deutschland längst überholt war durch den historischen Materialismus. Er übersieht den historischen Prozess, der sich in der „Begriffsromantik" der Fichte und Hegel vollzogen hatte, und indem er die Büchner, Moleschott und Vogt als ungleich seichtere Nachbeter der Lamettrie, Holbach und Helvétius auffasst, geht er etwa so auf Kant zurück, dass er meint, was dieser gegen die französischen Originale eingewandt habe, das gelte auch noch gegen die deutschen Kopien.

Dabei war Lange aber viel zu sehr Historiker und Ökonom, um die historischen Schranken zu übersehen, in denen Kant gelebt und gewirkt hatte. Wie Vorländer selbst hervorhebt, erklärte Lange die „ganze praktische Philosophie" Kants, so mächtig sie auf die Zeitgenossen gewirkt habe, „für den wandelbaren und vergänglichen Teil der Kantischen Philosophie", und noch stärker als in seiner „Geschichte des Materialismus" lässt er sich darüber in seinem Schillerkommentar aus, wo er sagt, dass Kant scheinbar nur Kritiker sei und doch eine Spekulation begründe, die uns nicht nur unwandelbare und schlechthin notwendige Ideen dichte, sondern auch noch den Anspruch erhebe, das gesamte Wissen nach diesen Ideen zu ordnen. Es ist zu wenig gesagt, wenn Vorländer meint, eine „systematische" Verbindung zwischen Langes „Kantianismus" und „Sozialismus" habe nicht bestanden; eine solche Verbindung bestand vielmehr überhaupt nicht. Lange ging auf Kants Erkenntnistheorie zurück, um den schnöden Übermut des naturwissenschaftlichen Materialismus zu dämpfen, der im Hause der Philosophie tobte wie der Stier im Porzellanladen; zu dem historischen Materialismus, der sich folgerecht aus der deutschen Philosophie entwickelt hatte, hat er überhaupt keine Stellung genommen.

Mit diesem Materialismus bindet nun aber der eigentliche Neukantianismus an. Als seinen Führer betrachtet Vorländer den Professor Hermann Cohen in Marburg, „den ersten Kantianer, der offen auf die grundlegende Bedeutung der Kantischen Ethik für die Fundamentierung des Sozialismus hingewiesen habe". Nun nimmt Cohen allerdings dem „dermaligen politischen Sozialismus" sein ganzes Fundament, indem er fordert, die sozialdemokratische Partei solle den (historischen) Materialismus nicht nur „zeitweise abschütteln", sondern „radikal aufgeben". Aber als neues Fundament bietet er ihr dafür drei, wie Vorländer meint, „sehr gewichtige" Grundsteine. Erstens soll der Sozialismus die Gottesidee nicht abweisen, die freilich nach Cohen nichts anderes als den Glauben an die Macht des Guten, die Hoffnung auf die Verwirklichung der gerechten Sache zu bedeuten braucht. Zweitens haben Recht und Staat als Ideen auch vom Sozialismus Ehrfurcht zu fordern, denn wie keine Freiheit ohne Gesetz, so kann ohne die im Gesetz bestehende Gemeinschaft keine freie Persönlichkeit, keine wirkliche Gemeinschaft moralischer Wesen bestehen. Drittens ist mit der Idee der Menschheit (menschlichen Gesellschaft) die Idee des Volkes (der Nationalität) zu verbinden, indem wir jene, die wir ehren und achten, in diesem, das wir lieben, zu verwirklichen streben.

Soweit diese Forderungen einen greifbaren historischen Sinn haben, werden sie vom „dermaligen politischen Sozialismus" in vollstem Maße erfüllt. Glaubt Herr Cohen wirklich, dass die sozialdemokratische Partei die zahllosen Kämpfe, die sie seit bald vierzig Jahren überstanden hat, und namentlich die zwölf Jahre des Sozialistengesetzes überstanden haben würde, wenn sie nicht den Glauben an die Macht des Guten und die feste Zuversicht gehabt hätte, dass die gerechte Sache siegen müsse? Oder weiß er nicht, dass der „dermalige politische Sozialismus" schon in seinen ersten Anfängen, schon durch den Mund Lassalles seinen innern Sinn dahin erläutert hat, dass Freiheit ohne Gesetz nur Willkür sei, dass er die Solidarität in der Freiheit, die Freiheit in der Solidarität sucht, dass ohne diese Solidarität keine freie Persönlichkeit, keine wirkliche Gemeinschaft moralischer Wesen bestehen könne? Oder endlich, kennt Herr Cohen so wenig die Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, um nicht darüber unterrichtet zu sein, dass sie die Idee des Volkes immer mit der Idee der Menschheit zu „verbinden" gewusst hat, dass in allen ihren Kundgebungen vom Kommunistischen Manifest bis zum Erfurter Programm diese „Verbindung" gefordert worden ist und dass, was noch viel mehr sagen will, die Interessen der deutschen Nation von 1848 an bis auf den heutigen Tag keinen klareren und kräftigeren Vorkämpfer gehabt haben als das klassenbewusste Proletariat? Die „sehr gewichtigen" Forderungen Cohens sind also an sich die selbstverständlichsten Dinge von der Welt, aber indem er verlangt, dass um ihretwillen die wissenschaftliche Grundlage des proletarischen Emanzipationskampfes preisgegeben werden soll, stellt er die anfechtbare Behauptung auf, dass die Wirkungen umso herrlicher hervortreten werden, je gründlicher die Ursachen ausgerottet seien.

Gegenüber der, wie Vorländer sagt, „expektorativen Darlegung" Cohens geht Stammler einen Schritt weiter, indem er als „grundsätzlich unabweisbar" zugibt, dass den geistigen Bewegungen ökonomische Entwicklungen zugrunde lägen. Jedoch er behauptet, dass es neben den kausalen noch eine ihr nicht widersprechende, sondern sie ergänzende teleologische Betrachtungsweise der sozialen Erscheinungen gebe. „Die ethische Beurteilung eines sozialen Vorkommnisses ist etwas ganz anderes als die genetische Erklärung seines Werdens. Die konkreten Bestrebungen erwachsen freilich immer aus den sozialen Zuständen, sind aber nach menschlichen Wünschen und Zielen zu leiten, deren oberster Maßstab nur ein solcher des Endzwecks (Endziels) sein kann." Diese geschichtswissenschaftliche Methode erinnert gewissermaßen an jene naturwissenschaftliche Methode des „psychophysischen Parallelismus", die Haeckel an dem umgefallenen Wundt so bitter geißelt, aber sie ist freilich noch viel hinfälliger oder vielmehr: ihre Hinfälligkeit ist noch viel leichter mit Händen zu greifen. Die Neukantianer brauchten ja nur darauf zu sehen, wie herrlich sich die „werdende" Bourgeoisie durch die ihr von einem so großen Denker, wie Kant war, nach menschlichen Wünschen gesteckten Ziele hat leiten lassen, um über ihren historischen und logischen Fehlschluss klarzuwerden. Gewiss ist die ethische Beurteilung eines sozialen Vorkommnisses ganz etwas anderes als die genetische Erklärung seines Werdens; Marx bewundert keineswegs den Kapitalismus, indem er seine historische Notwendigkeit beweist. Aber wie kann man aus der ganz selbstverständlichen Tatsache, dass ethisches Urteil und historische Untersuchung zwei ganz verschiedene Dinge sind, die Folgerung ziehen, dass die Ethik über der historischen Entwicklung stehe? Das ethische Urteil wird nur da zu einer historischen und politischen Kraft, wo es sich auf seinen sozialen Ursprung stützt, sei es im Guten oder sei es im Schlimmen; wo es den „kausalen" Verlauf der Dinge „teleologisch ergänzen" will, hat es so viel Gewicht wie ein Federwölkchen, das im Äther schwimmt.

Das zeigt sich sofort, wenn die Neukantianer praktisch zu werden versuchen, wie Natorp, der den „methodischen Grundgedanken" Stammlers auf pädagogischem Gebiet durchzuführen versucht. Er verlangt eine wirkliche Volksschule im weitesten Sinne des Wortes, denn alle haben Anspruch – zwar nicht auf genau die gleiche Bildung, wohl aber auf gleiche Sorgfalt für ihre Bildung, auf Anteil an der großen Bildungsgemeinschaft, allein nach dem Maßstab der Fähigkeit, nicht sonstiger Vorrechte. Fast gleichzeitig mit der Veröffentlichung dieses Schulprogramms veröffentlichte die preußische Regierung im preußischen Abgeordnetenhause auch ein Schulprogramm. Unter brausendem Beifall der Mehrheit erklärte der Landwirtschaftsminister am 10. Februar 1899: „Die Kinder verlernen ganz den Begriff dafür, wozu sie der liebe Gott auf das Land gesetzt hat. Statt Wartung des Viehs, Melken zu lernen, lernen sie stricken und was weiß ich sonst noch, wofür sie keine Verwendung haben. Die Lehrer selbst verderben die Geistesrichtung der bäuerlichen Bevölkerung. Der Niedersachse lebt mit seiner Kuh unter einem Dache und hat darin nie etwas Entehrendes gefunden, aber der Lehrer tut es nicht; er will seinen eigenen Stall haben und gibt dabei ein schlechtes Beispiel." Sicherlich, die „teleologische" Pädagogik Natorps gefällt uns tausendmal besser als die „kausale" Pädagogik des Herrn v. Hammerstein, aber wie sich beide „nicht widersprechen, sondern ergänzen" sollen, das will uns nicht in den Kopf. Wenn dagegen „der dermalige politische Sozialismus" jene schauerliche Junkerwirtschaft, deren sittliche Verwahrlosung der preußische Landwirtschaftsminister so beredt bekundet hat, mit den Mitteln des politischen und sozialen Kampfes vernichten und damit überhaupt erst den Boden schaffen will, worauf das Schulprogramm Natorps ausgeführt werden kann, so treibt er eben auch „kausale" Pädagogik, die mit der ganzen Wucht der historischen Entwicklung ihr Endziel in sich selber trägt und nicht erst durch „menschliche Wünsche" aufgepfropft zu bekommen braucht.

Von solcher „Gewaltethik" will nun wieder Staudinger nichts wissen. Immerhin steht er von allen Neukantianern dem Marxismus am nächsten, und seine Schrift „Ethik und Politik" ist ein sehr lesenswertes, ein ehrliches und auch ein gescheites Buch. Er meint nur, die analytische Begründung der Ethik durch Kant, wie sie durch Cohen, Natorp, Stammler weiterentwickelt worden sei, bilde die notwendige Ergänzung zu der vorwiegend historisch-kausalen Begründung der Marx-Engelsschen Schule. Freilich sei alle Ethik machtlos, sobald die historischen Bedingungen zu einer sittlichen Erneuerung der Gesellschaft fehlten. „Die schönsten Grundsätze Mark Aurels können kein Rom vor dem Zusammenbruch retten, weil sie nicht als lebendige Triebkräfte einer Massenbewegung erscheinen." Am Prinzip und an der Methode der Forschung von Marx hat Staudinger nichts auszusetzen; nur einen Mangel, aber keinen prinzipiellen Fehler weiß er an ihr zu entdecken. Marx gehe auf das Verhältnis der Ökonomie zur Politik nicht ein, und sobald der Marxismus dessen inne werde, müsse er in konsequenter Verfolgung seines eigenen Prinzips zu Kant kommen.

Schlagen wir einmal das Kommunistische Manifest auf, so lesen wir, dass Marx als den Idealzustand der menschlichen Gesellschaft eine Assoziation fordert, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist. Das ist dem Sinne nach ganz gleichbedeutend mit dem Hauptsatze der Kantischen Ethik, auf den die Neukantianer so sehr pochen: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel gebrauchst." Dem Sinne nach ist die Ethik bei Kant und Marx also dieselbe; nur besteht die „analytische Begründung" bei Kant darin, dass er mit seinem Satze die mittelalterlich-ständische Scheidung des Staates in Staatsbürger und Staatsgenossen zu vereinen weiß, während die „historisch-kausale" Begründung bei Marx darin besteht, dass er aus der ökonomischen Entwicklung nachzuweisen versteht, wie sich sein Ideal verwirklichen muss. Weshalb darin ein „Mangel" liegen soll, der durch das „Zurückgehen" auf Kant eine „notwendige Ergänzung" finden muss, ist in der Tat nicht einzusehen, und man wird vollends irre, wenn man die praktischen Beispiele Staudingers prüft. Als den „schwierigsten Punkt" für die Sozialdemokratie und als denjenigen, der vor allen anderen einer durchgreifenden prinzipiellen Klärung im ethischen Sinne bedürfe, bezeichnet er ihre Stellung zur Monarchie. Der Monarch sei der verfassungsmäßige Repräsentant der Nation und habe die diesem Amte gebührenden Ehren zu beanspruchen. Wer das nicht tue, stelle sich außerhalb der Verfassung und könne sich nicht beschweren, wenn er demgemäß behandelt werde. Es sei ganz prinzipwidrig, wenn die Sozialdemokraten bei Gelegenheiten, wo dem Monarchen die als Repräsentanten der Nation zustehende Ehrung durch ein Hoch gegeben werde, sich absichtlich fernhielten oder gar sitzen blieben; durch solch blindes, haltloses und prinzipwidriges Gebaren, um etlicher achtundvierziger Mätzchen willen, verlasse die Partei den schwer errungenen prinzipiellen Boden, auf dem sie fest verschanzt stehen müsste, um mit Ehren siegen zu können.

Appellieren wir zunächst von dem jungen Kantianer an den alten Kant! Er war seiner philosophischen Gesinnung nach Republikaner und kam seinerzeit in einen Konflikt mit dem König, wenn auch just nicht seiner republikanischen Gesinnung wegen. Dabei stellte er die Maxime auf: „Verleugnung seiner inneren Überzeugung ist niederträchtig, aber Schweigen in einem Falle, wie der gegenwärtige, ist Untertanenpflicht." Abgesehen von der verschnörkelten Sprache handelt die sozialdemokratische Minderheit im Reichstag genau nach diesem Grundsatz; sie ist nicht so niederträchtig, ihre innere Überzeugung zu verleugnen, indem sie in das Hoch auf den Monarchen oder vielmehr, wie Staudinger richtig sagt, das monarchische Prinzip einstimmt, aber sie bezeugt der monarchischen Reichstagsmehrheit durch „Schweigen" ihre Achtung, indem sie sich deren monarchischen Kundgebungen fernhält. Staudinger sagt: Wer den Boden der Verfassung verlässt, muss sich auch gefallen lassen, demgemäß behandelt zu werden. Ja, aber wo um Himmels willen steht in der Verfassung etwas von der Pflicht des Staatsbürgers geschrieben, in Hochs auf den Monarchen einzustimmen? Gibt es irgendwo analoge Bestimmungen wie in der Verfassung des Königreichs Sachsen, die den Volksvertretern einen dem König und der Verfassung zu leistenden Eid vorschreibt, nun wohl, so fügt sich die Sozialdemokratie auch dem, weil sie durch die Verfassung gedeckt ist. Aber wenn sie da, wo es sich um freiwillige Huldigungen an das monarchische Prinzip handelt, mittun wollte, so würde sie ihre innere Überzeugung verleugnen, und nach Kants ganz richtiger Ansicht „niederträchtig" handeln. In dieser Forderung streift die „analytische Begründung" der Kantischen Ethik durch die Neukantianer wirklich schon an die mittelalterliche Inquisition.

In jedem Falle gerät man sofort ins Bodenlose, wo man ihre praktischen Resultate zu prüfen versucht. Deshalb darf man aber nicht verkennen, dass von den nachgerade zahlreichen Gruppen der bürgerlichen Ideologie, die eine ernsthafte Verständigung mit dem Sozialismus suchen, die Neukantianer gleichwohl die ernsthaftesten sind, namentlich Männer wie Staudinger und Vorländer. Sie stehen in allem Wesentlichen den sozialdemokratischen Forderungen sehr nahe und können sich nur die ideologische Nebelkappe nicht vom Kopfe reißen. Bis dahin ist eine Verständigung zwischen Marxisten und Neukantianern sehr wohl möglich; sowenig wie Wallenstein fragt die Sozialdemokratie nach dem ideologischen Katechismus, wenn sonsten der Mann nur brav und tüchtig ist.

Allein wie Wallenstein nur deshalb Messbuch und Bibel in seinem Heere dulden konnte, weil er sich in seine weltliche Kriegführung schlechterdings nicht von dem geistlichen Hader hineinreden ließ, so kann sich auch die Sozialdemokratie nicht den klaren Himmel ihrer wissenschaftlichen Weltanschauung durch ideologische Wolkenbildung trüben lassen. Insoweit die Neukantianer diesen Anspruch erheben, ist jede Möglichkeit einer Einigung ausgeschlossen, selbst mit Männern wie Staudinger und Vorländer.

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