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Franz Mehring 19010800 Die Philosophie des Selbstbewusstseins

Franz Mehring: Die Philosophie des Selbstbewusstseins

1901

[Aus dem literarischen Nachlass von Karl Marx, Friedrich Engels und Ferdinand Lassalle. Herausgegeben von Franz Mehring, Erster Band, Stuttgart 1902, S. 41-50. Nach Gesammelte Schriften, Band 13, S. 7-16]

An der Seite Bauers und Köppens wurde Marx in die praktischen Kämpfe der Zeit verwickelt, und mit ihnen arbeitete er auch gemeinsam in ihrer theoretischen Waffenschmiede, der Philosophie des Selbstbewusstseins.

Diese Philosophie war an und für sich das einfachste Ding von der Welt. Jede Klasse erwacht zum Selbstbewusstsein, wenn sie sich über ihre selbständigen Interessen klar wird, im Gegensatz zu anderen Klassen. Allein dieser Prozess vollzieht sich, je nach den historischen Umständen, langsamer oder schneller, wofür gegenwärtig der Entwicklungsprozess des proletarischen Klassenbewusstseins in den verschiedenen Ländern oder auch in den verschiedenen Gegenden desselben Landes ja die mannigfachsten Beispiele bietet. Mit dem Entwicklungsprozess des bürgerlichen Selbstbewusstseins ist es in Deutschland aber sehr langsam vor sich gegangen. Während dies Selbstbewusstsein in England und Frankreich schon die gewaltigsten Kämpfe führte, existierte es für Deutschland erst in der philosophischen Wolkenregion.

In Kant war es mit jenem duckmäuserigen Philistertum versetzt, das dann Schopenhauer weiter ausgebildet hat, und Fichtes revolutionäres Selbstbewusstsein fand noch keinen festen Boden, worauf es fußen konnte. Hegel fasste es wieder mit Spinozas Substanz zur höheren Einheit der absoluten Idee zusammen, die sich in dem vormärzlichen Staate preußischer Nation verknöcherte. Indem nun dieser Staat aus den Fugen zu gehen begann, löste sich auch die absolute Idee wieder in ihre Bestandteile auf, wobei es der deutschen Langsamkeit entsprach, dass zuerst die Substanz flüssig wurde. Unter ihre schützenden Fittiche hatte Strauß seine Evangelienkritik gestellt, indem er die Evangelien zwar nicht mehr für eine Schöpfung des heiligen, aber auch noch nicht für eine Schöpfung des menschlichen Geistes, sondern für ein bewusstlos geschaffenes Erzeugnis der ersten christlichen Gemeinden erklärte.

Allein je mehr sich die bürgerliche Klasse entwickelte, desto lauter meldete sich ihr Selbstbewusstsein. Es fand seine eindringlichsten Sprecher in Bauer, Koppen und Marx; von ihnen sagte Ruge in einem Briefe an Prutz, dass ihr Signum die Anknüpfung an die bürgerliche Aufklärung sei, dass sie, eine philosophische Montagne, das Mene Mene Tekel Upharsin an den deutschen Gewitterhimmel schrieben. Indessen, diese philosophische Montagne war immer noch erst philosophisch; in den praktischen Kampf gerissen, musste sie sich mit ihrer Philosophie auseinandersetzen und den Punkt suchen, von dem aus ihr großer Meister weiterzuentwickeln und damit zu überwinden war. Sie fand diesen Punkt in Hegels „Geschichte der Philosophie", in dem Kapitel, worin die griechische Philosophie des Selbstbewusstseins geschildert worden war.

Die griechische Philosophie hatte sich in drei großen Abwandlungen ausgelebt. Sie entstand in den ionischen und dorischen Handelskolonien, die durch ihren lebhaften Verkehr mit fremden Völkern die mannigfachsten Anregungen erfuhren, während sie schon von vornherein freier von religiösen Vorurteilen waren als das Mutterland. Auf dieser ersten Stufe fragte die griechische Philosophie nach einer natürlichen Erklärung des Weltganzen; sie war wesentlich Naturphilosophie und fand ihre Grenze an der Naturerkenntnis, die wiederum abhängig ist von der Entwicklung des ökonomischen Produktionsprozesses. Die antike Produktionsweise mit ihrer Sklavenwirtschaft konnte nur zu einer unvollkommenen Beherrschung der Natur gelangen; so stieß die griechische Naturphilosophie am letzten Ende immer auf eine unzerbrechliche Schranke, und gerade ihre genialsten Vertreter, ein Parmenides, ein Heraklit, ein Empedokles, ein Demokrit, verzweifelten daran, auf dem Wege der sinnlichen Erkenntnis zur Wahrheit zu gelangen. Heraklit nannte die Sinne falsche Zeugen und Lügenschmiede, Demokrit aber sagte, die Wahrheit läge im Abgrund des Brunnens verborgen.1 In dunkeln Bildern rang Heraklit um die Erkenntnis des dialektischen Gesetzes, das weltbildend das All durchwaltet, während Demokrit die Entstehung der Welt aus dem Wirbel unsichtbarer Atome erläuterte, aber über geniale Ahnungen und Hypothesen kamen sie nicht hinaus.

Damit schlug die griechische Philosophie in ihre zweite Entwicklungsstufe um: sie wandte sich vom Himmel zur Erde, vom Objekt zum Subjekt, von der Natur zum Menschen. Die Sophisten in Athen erklärten den Menschen für das Maß aller Dinge; sie meinten, alle sinnliche Erkenntnis sei relativ, und die entgegengesetzten Behauptungen seien gleich wahr, je nachdem sie diesem oder jenem, oder aber auch demselben unter wechselnden Umständen, so erschienen. Damit knüpften die Sophisten an das Endergebnis der Naturphilosophie an, doch handelte es sich hierbei sowenig wie sonst bei einer philosophischen Entwicklung um eine rein ideologische Schlussfolgerung. Seit den Perserkriegen nahm das griechische Leben, namentlich in Athen, seinem geistigen und politischen Mittelpunkt, einen mächtigen Aufschwung, in dessen Strudel auch die Philosophie gezogen wurde. Die Sophisten waren die Träger der Bildung, deren die siegreiche Demokratie bedurfte; seit Grotes Forschungen weiß jedermann oder sollte doch jedermann wissen, wie unverdient das gehässige Vorurteil ist, das sich noch heute an den Namen der Sophisten knüpft. Allerdings entfalteten sich mit der anschwellenden Macht Athens die schroffsten Klassengegensätze in seinem Schoße, die dann auch auf die Sophistik ihren verderblichen Einfluss gehabt haben, allein diesem verhängnisvollen Lose verfällt jede Philosophie, solange Klassenherrschaft besteht, und nicht am wenigsten ist ihr Plato verfallen, der in erster Reihe verschuldet hat, dass die Sophisten zu dem sprichwörtlichen Ruf gewissenloser Rabulisterei gelangt sind.

Die athenische Demokratie, die auf dem Fundament der Sklaverei beruhte und das übrige Griechenland unterjochte, um es auszubeuten, ging an den inneren Widersprüchen ihrer ökonomischen Struktur unter; weil sie verdarb, so verdarb die Sophistik, und nicht umgekehrt. Aber äußerlich sahen die Dinge so aus, als ob sie auf dem Kopfe ständen, und somit stellte sich die aristokratische Reaktion zunächst auch auf den Kopf, um die athenische Demokratie zu erschüttern. Sokrates eröffnete den philosophischen Angriff gegen die Sophisten, zu denen er selbst gehörte und in deren schlechten Künsten er nichts weniger als unerfahren war nach allem, was von ihm berichtet wird. Aber er besaß zugleich die glühende Natur eines Apostels, und für seine Person war es ihm heiliger Ernst mit der sittlichen Reform, die er auf Märkten und Gassen predigte. Gegen den schrankenlosen Relativismus der Sophisten, der alle Begriffe von Gut und Böse zu verwirren drohte, suchte er nach einem ruhenden Pol in der Erscheinungen Flucht und fand ihn in der aufs Wissen begründeten Tugend. Sein leitendes Prinzip war die Reform des sittlichen Lebens durch wahres Wissen. Es ist nicht bloß unmöglich, das Rechte zu tun, wenn man es nicht kennt, sondern auch, es nicht zu tun, wenn man es kennt; da das Gute nichts anderes ist, als was dem Handelnden zum Besten dient, so ist niemand freiwillig böse; um die Menschen tugendhaft zu machen, ist nur erforderlich, dass man sie darüber aufklärt, was gut ist. Demgemäß suchte Sokrates unermüdlich nach dem Begriffe des Guten, ohne ihn je zu finden, so dass er immer mit dem Bekenntnisse des Nichtwissens endigte. Er wirkte in erster Reihe durch den seltenen Zauber seiner Persönlichkeit, die eine kräftige Sinnlichkeit und ein leidenschaftliches Temperament durch weise Selbstbeherrschung zu bändigen wusste; anspruchslos und bedürfnislos, mutig im Kampfe und zähe im Leiden, war er zugleich gesellig, heiter, lebenslustig und stand bei jedem fröhlichen Trinkgelage seinen Mann.

So ging von seinem Leben und seiner Lehre je eine verschiedene Strömung aus. Aus seiner Person ein sittliches Ideal zu gewinnen, versuchten Antisthenes und Aristipp; jener gründete die kynische, dieser die kyrenaische Schule. Die Kyniker hießen zunächst so von ihrem Versammlungsorte in Athen, aber sie rechtfertigten ihren Namen, der vom Hunde herrührt, bald durch ihre Lebensweise, indem sie ihr Ideal der Tugend aus der Bedürfnislosigkeit und Strenge gegen sich selbst herleiteten, die in dem harmonischen Charakter des Sokrates doch eben nur die eine Seite gebildet hatten; in der Lust am Leben sahen sie so wenig ein Gut, dass Antisthenes sogar erklärte, er wolle lieber verrückt als vergnügt sein. Umgekehrt knüpften die Kyrenaiker an die heitere Seite im Charakter des Sokrates an; sie nannten sich nach der Geburtsstadt Aristipps, der Handelskolonie Kyrene an der heißen Nordküste Afrikas, wo sich hellenische Bildung mit orientalischer Üppigkeit verschmolz. An der Selbstbeherrschung des Sokrates hielt zwar auch Aristipp fest, aber unter dieser Voraussetzung war der erschöpfendste Lebensgenuss sein ein und alles. Da beiden Schulen jede wissenschaftliche Begründung ihrer Ethik fehlte, so neigten sie zu Extremen, wobei gerade das verlorenging, was sie an Sokrates fortpflanzen wollten, die persönliche Würde des Charakters; die Kyniker wurden zu reinen Bettlerphilosophen, die Kyrenaiker aber zu praktischen Genussmenschen, die sich, gleichviel wie, jedes Mittel zum Lebensgenuss zu verschaffen suchten.

Die andere Strömung, die von Sokrates ausging, suchte seine Lehre auszubilden und die Tugend aufs Wissen zu begründen. Hier sind die Namen eines Plato und eines Aristoteles zu nennen. Zwar brachte Plato sowenig fertig wie Sokrates selbst, den objektiven Begriff des Guten festzustellen; mit Recht sagt Albert Lange, was dieser Begriff eigentlich sei, erfahre man aus sämtlichen platonischen Dialogen sowenig wie aus den alchimistischen Schriften, was der Stein der Weisen sei. Aber auf dem Suchen nach diesem Begriff kam Plato zu seiner Begriffsphilosophie, zu seiner Ideenlehre, wonach nur dem in den Begriffen Gedachten, den Formen der Dinge, den Ideen ein wahres und ursprüngliches Sein zukomme. Plato stellte die allgemeinen Begriffe der zerfließenden Erscheinungswelt als das Beharrliche gegenüber; er trennte das Allgemeine vom Einzelnen und schrieb ihm eine gesonderte Existenz zu. Das Schöne ist nicht nur in den schönen Dingen, das Gute nicht nur in den guten Menschen, sondern das Schöne, das Gute, ganz abstrakt genommen, ist ein für sich bestehendes Wesen. Diese Ideenlehre, die nicht sowohl Wissenschaft als Dichtung war, schränkte Aristoteles nun zwar ein, indem er die besondere Existenz der Ideen leugnete, aber an der Begriffsphilosophie hielt er fest und fand das Wesen der Dinge, das wahrhaft und ursprünglich Wirkliche, mit Plato in den Formen, die den Inhalt der Begriffe bilden. Sein Unterschied von Plato bestand nur darin, dass er die Formen nicht als für sich bestehende, von den Dingen getrennte Wesen, sondern als das innere Wesen der Einzeldinge selbst deutete. Damit erschloss er sich wieder die Möglichkeit, den Stoff aller damals vorhandenen Wissenschaften in seine Philosophie aufzunehmen, und er hat es in großartiger Weise getan, aber den Dualismus zwischen Allgemeinem und Einzelnem, zwischen Vernunft und Sinnlichkeit, zwischen Gott und Welt hat er nicht aufgehoben. Es war der Begriff, dem Aristoteles nach dem bekannten Worte Hegels den Reichtum und die Zerstreuung des realen Universums unterjochte.2

So hoch man nun die geistige Bedeutung dieser beiden Philosophen einschätzen mag, so ist doch der reaktionäre Grundzug ihrer Philosophie nicht zu bestreiten. Sie gaben das beschränkte, aber gesicherte Gebiet wissenschaftlicher Erkenntnis auf, das die griechische Naturphilosophie erobert hatte, um übersinnlichen Bestrebungen nachzujagen, deren Herrschaft jede wissenschaftliche Forschung in der Wurzel verderben musste. In dieser philosophischen Reaktion spiegelte sich aber nur die politische Reaktion wider. Es ist bekannt, was die Schüler des Sokrates an ihrer Vaterstadt gesündigt haben; Xenophon, Alcibiades, Kritias wurden zu charakterlosen Kreaturen Spartas, das an der Spitze der aristokratischen Reaktion gegen das demokratische Athen stand; gleichfalls nach spartanischem Vorbild schuf Plato sein Staatsideal, das er, ohne jede Teilnahme für das öffentliche Leben seiner Vaterstadt, mit der Hilfe ausländischer Tyrannen zu verwirklichen gedachte; Aristoteles stand sogar schon in den Diensten des mazedonischen Königs Philipp, der die griechische Freiheit und Unabhängigkeit überhaupt vernichtete. Später wurde die platonisch-aristotelische Philosophie zum geistigen Rückgrat der mittelalterlichen Kirche, und wie diese Kirche eine Macht der Ausbeutung und Unterdrückung war, so hat auch seit dem Anbruch der neuen Zeit jede Macht der Ausbeutung und Unterdrückung in Plato und Aristoteles ihre philosophischen Heiligen erblickt.

Mit dem nationalen Zerfall Griechenlands hob die dritte Periode der griechischen Philosophie an. Während die Eroberungen Alexanders in den Ländern des Ostens und Südens neue Welten erschlossen, war das hellenische Mutterland in all seiner sozialen Zerrüttung eine Beute der Fremden und ein Schauplatz ihrer Kämpfe: so kehrte die Philosophie aus den luftigen Höhen der metaphysischen Spekulation zurück, um sich gemäß ihren nunmehr geschaffenen Lebensbedingungen in wissenschaftliche Forschung und praktische Lebensweisheit zu scheiden. Die alexandrinische Schule, also benannt nach der von dem mazedonischen König in Ägypten begründeten Metropole, gab den exakten wie historischen Wissenschaften die bedeutsamsten Anregungen, aber mit ihrer Philosophie war es schwach bestellt. Umgekehrt fehlte es den philosophischen Schulen, die in Griechenland selbst entstanden, an einer wissenschaftlichen Grundlage; sie bildeten dogmatische Systeme aus, Asyle der Trösteinsamkeit für den einzelnen Menschen, der durch einen furchtbaren Zusammenbruch von allem gelöst war, was ihn bis dahin gebunden und getragen hatte. Ihn nun auch von allem Äußeren unabhängig zu machen und auf sein inneres Leben zurückzuführen, sein Glück zu suchen in der Ruhe des Geistes und Gemüts, die unerschütterlich widersteht, auch wenn die Trümmer einer Welt über ihr zusammenstürzen, das wurde zum gemeinsamen Ziele der drei philosophischen Schulen, die der dritten Periode der griechischen Philosophie das kennzeichnende Gepräge geben.

Zeitlich zuerst trat der Skeptizismus auf, der auf alles Wissen verzichtete und die Ataraxie, die unerschütterliche Gemütsruhe, dadurch zu erreichen suchte, dass sich der einzelne Mensch auf sein denkendes Selbstbewusstsein zurückzog. Dies war nun gewiss die einfachste Methode, die Unruhe der Welt loszuwerden, aber auch ihre leerste und unsicherste; mochte es der erste und notwendigste Schritt sein, die Welt zu verneinen, so war die Welt doch erst überwunden, wenn sich das Prinzip des Selbstbewusstseins in ihr selbst durchzusetzen wusste.

Demgemäß folgte auf den Skeptizismus, logisch wie zeitlich, der Epikureismus, der das Prinzip des isolierten Individuums als das Weltprinzip nachzuweisen unternahm. Da das Selbstbewusstsein alle metaphysische Spekulation verschmähte, wie sie von Plato und Aristoteles getrieben worden war, so entnahm Epikur dem Gedankenschatze der älteren griechischen Philosophie, was für seine Zwecke taugte. Er konnte kein treffenderes Sinnbild für sein Prinzip finden als Demokrits Lehre von den Atomen, durch deren Bewegung die Welt entsteht; das Atom wurde für Epikur das Prinzip des isolierten Individuums, was freilich die materialistische Grundlage der demokritischen Weltanschauung zerstörte.3 Wie für seine Physik an Demokrit, so schloss sich Epikur für seine Ethik an Aristipp an, was ihm nicht minder nahe lag: die Glückseligkeit des einzelnen Individuums besteht in seiner Lust, nur dass Epikur die Lust nicht in dem rauschenden Lebensgenuss sah, sondern in dem heiteren Frieden der Seele, der auf alles verzichten kann, nur nicht auf die Tugend.

Nun ist aber die Einzelheit des Selbstbewusstseins zugleich seine Allgemeinheit; indem das einzelne Bewusstsein ist, wird es allgemein, oder, um den abstrakten Gedanken an einem konkreten Beispiel zu erläutern: indem sich Fichte zum Selbstbewusstsein bekannte, bekannte er sich auch zur Gleichheit alles dessen, was Menschengesicht trägt. Dies dritte Moment des Selbstbewusstseins griff der Stoizismus auf. Wie Epikur an Demokrit und die kyrenaische Schule, so lehnten sich die Stoiker mit ganz gleicher Logik an Heraklit und die kynische Schule an. Heraklits Lehre von der Hingebung an das Allgemeine hatte die Form des schroffsten Selbstbewusstseins angenommen; sein Logosgedanke, sein weltbildendes Gesetz, das sich im Flusse aller Dinge durchsetzt, wurde den Stoikern zur „feurigen Vernunft der Welt", wobei sie mit Heraklits Spekulation nicht minder ungeniert umsprangen als Epikur mit Demokrits Materialismus. Indem sie nun aber die freiwillige Unterordnung des einzelnen unter die allgemeine Vernunft verlangten, kamen die Stoiker zu jener Selbstbeherrschung und Strenge gegen sich selbst, die von der kynischen Schule gefordert worden war. Dabei hielten sie sich den Ausschreitungen dieser Schule so fern, wie die Epikureer den Ausschreitungen der kyrenaischen Schule; nicht im schmutzigen Bettler sahen sie ihr Ideal, sondern in dem völligen Gleichgewicht des Geistes, das nur durch die Tugend gesichert werde. Sie sagten: die Ausübung der Tugend ist Glückseligkeit, während die Epikureer meinten: um glücklich zu werden, muss der Mensch tugendhaft sein.

So entfaltete sich das Selbstbewusstsein, das im Skeptizismus die Welt ablehnte, zum Pol des Epikureismus und zum Gegenpol des Stoizismus bei dem Versuch, sich der Welt zu bemächtigen. Oder wie Zeller diesen Gedanken in umgekehrter Folge ausdrückt: „Während sich im Stoizismus und Epikureismus die individuelle und die allgemeine Seite des subjektiven Geistes, die atomistische Isolierung des Individuums und seine pantheistische Hingebung an das Ganze, mit gleichen Ansprüchen unversöhnt gegenüberstehen, so hebt sich dieser Gegensatz im Skeptizismus zur Neutralität auf." Gemeinsam war allen drei Schulen der Ursprung und das Ziel; auch scheint es auf eine Haarspalterei hinauszulaufen, wenn die Stoiker tugendhaft sein wollten, um glücklich zu sein, während die Epikureer um der Glückseligkeit willen die Tugend ausübten. Allein die Verschiedenheit der Prinzipe, von denen beide Schulen ausgingen, führte praktisch zu den schärfsten Gegensätzen zwischen ihnen. Die Stoiker waren auf philosophischem Gebiet Deterministen und auf politischem Gebiet charakterfeste Republikaner, während sie auf religiösem Gebiet jeder Art törichten Aberglaubens verfielen. Dagegen waren die Epikureer auf philosophischem Gebiet Indeterministen und auf politischem Gebiet leidsame Dulder, während sie aller Religion den unerbittlichsten Krieg machten. Es bedarf nur eines geringen Nachdenkens, um zu erkennen, dass die Epikureer wie die Stoiker diese Schlussfolgerungen durchaus logisch aus ihren Voraussetzungen zogen.

Hegel hatte nun in seiner „Geschichte der Philosophie" diese drei Philosophenschulen als Dogmatismus und Skeptizismus behandelt, den Epikureismus als abstrakt-einzelnes und den Stoizismus als abstrakt-allgemeines Selbstbewusstsein, beide als einseitige Dogmatismen, denen, eben wegen dieser Einseitigkeit, sogleich der Skeptizismus entgegengetreten sei. Dabei war er ziemlich kurz und unwirsch mit ihnen umgesprungen, in einem Tone mürrischer Verdrießlichkeit, durch den es fast wie persönlicher Groll klang. Es ist ein schiefer und schielender Vergleich, Hegel den modernen Aristoteles oder Aristoteles den antiken Hegel zu nennen; die deutsche Begriffsphilosophie unterschied sich schon dadurch grundtief von der griechischen, dass sie der Widerschein einer politischen Revolution war. Aber aller Begriffsphilosophie haftet ein Zug reaktionärer Erstarrung an, der sich in Hegels System stark ausgebildet hatte, und darin bestand allerdings unzweifelhafte Ähnlichkeit zwischen Hegel und Aristoteles, dass auch Hegel das gesamte Wissen seiner Zeit unter spekulativen Gesichtspunkten zusammenzufassen gesucht hatte. Er mochte es als eine Vorahnung des eigenen Schicksals empfinden, wenn er den schnellen Zusammenbruch des aristotelischen Systems festzustellen hatte, indem er von den neuen philosophischen Schulen erzählte, die so bald nach Aristoteles gekommen waren.

Umso näher lag es dem frischen Nachwuchs seiner Schule, der wieder aus dem eingegitterten System heraus wollte, die an dieser Stelle besonders dünnen Stäbe des Käfigs zu zerbrechen. Zwar konnte es als ein Widerspruch erscheinen, dass der ideologische Vortrab der bürgerlichen Klasse, die dem deutschen Volk überhaupt erst ein nationales Dasein schaffen wollte, sein Selbstbewusstsein stählte an dem antiken Selbstbewusstsein, das aus der Auflösung eines nationalen Daseins entstanden war. Auch war dieser Widerspruch nicht bloß scheinbar; Bruno Bauer ist daran gescheitert, dass er den Augenblick nicht zu erkennen wusste, wo die philosophische Verkleidung des bürgerlichen Klassenkampfes aus einem Hebel ein Hemmschuh wurde. Aber die Philosophie des Stoizismus, Epikureismus und Skeptizismus hatte doch einmal eine große historische Existenz gehabt; sie hatte dem menschlichen Geiste neue Fernsichten eröffnet, die nationale Schranke des Hellenentums und namentlich die soziale Schranke der Sklaverei zerbrochen, worin Plato und Aristoteles noch ganz befangen gewesen waren; sie hatte das Urchristentum entscheidend befruchtet, die Religion der Leidenden und Unterdrückten, die erst als ausbeutende und unterdrückende Herrscherkirche zu Plato und Aristoteles überging; selbst Hegel konnte nicht umhin, darauf hinzuweisen, was die innere Freiheit des Subjekts bedeutet habe in dem vollkommenen Unglück des römischen Weltreichs, wo alles Schöne und Edle der geistigen Individualität mit rauer Hand verwischt worden sei. So hatte denn auch schon die bürgerliche Aufklärung des 18. Jahrhunderts die griechischen Philosophien des Selbstbewusstseins mobil gemacht, den Zweifel der Skeptiker, den Religionshass der Epikureer, die republikanische Gesinnung der Stoiker.

Diesen Zusammenhang hob Koppen in seiner Schrift über König Friedrich hervor, der nach ihm ein klassischer Vertreter der Aufklärung war. „Epikureismus, Stoizismus und Skepsis sind die Nervenmuskeln und Eingeweidesysteme des antiken Organismus, deren unmittelbare, natürliche Einheit die Schönheit und Sittlichkeit des Altertums bedingte und die beim Absterben desselben auseinanderfielen. Alle drei hat Friedrich mit wunderbarer Kraft in sich aufgenommen und durchgeführt. Sie sind Hauptmomente seiner Weltanschauung, seines Charakters, seines Lebens geworden." Der Epikureismus des Königs war leicht zu erweisen durch seine Liebe zur Musik und den schönen Künsten, durch sein Leben auf Sanssouci im Kreise von Freunden, die, wie Koppen hervorhob, fast ausnahmslos Epikureer gewesen seien; alle Aufklärer des 18. Jahrhunderts hätten sich dem Epikureismus verwandt gefühlt, wie die Epikureer umgekehrt die Aufklärer des Altertums gewesen seien. Nicht minder leicht war die Skepsis des Königs darzutun, der von den Alten gelernt habe, dass der Weg zur Wahrheit durch den Zweifel gehe; schwieriger sah es mit Friedrichs Stoizismus aus. Dazu habe Friedrich von Natur geringe Anlagen besessen, meinte Koppen, „indessen ist ja der Stoizismus überall ein Freies, Selbstgemachtes, ein Niederkämpfen des Natürlichen. Stoizismus und Epikureismus berühren sich als Gegensätze. Sie gehören zusammen wie Mann und Weib, wie Allgemeinheit und Individualität. Darum sind sie einer und derselben Quelle entsprungen, miteinander aufgewachsen und untergegangen, darum finden sie sich in Friedrich vereinigt." Jedoch habe der König nicht verkannt, dass der sogenannte vollendete Stoizismus nur eine Abstraktion, eine Forderung ohne Wahrheit und Wirklichkeit sei. Das Menschliche in ihm rebellierte, und mit nie gesehener Strenge schied sich Mensch und König; in der Art, wie Friedrich als erster Diener des Staates seine Pflichten in Krieg und Frieden erfüllt habe, sah Koppen den Stoizismus seines Helden.

Eine andere und ungleich fruchtbarere Stellung gab Bruno Bauer der griechischen Philosophie des Selbstbewusstseins zu den Kämpfen der Gegenwart. Er studierte den Stoizismus, Epikureismus und Skeptizismus, um den Ursprung des Christentums aufzuklären, und kam so zu einer Evangelienkritik, die an Gründlichkeit und Kühnheit weit über Strauß hinausging und die Orthodoxie viel schwerer traf. Hatte Strauß noch vieles in den Evangelien als wirklich geschichtlichen Bericht über das Leben Jesu gläubig angenommen und in den wichtigsten Punkten einen historischen Kern vorausgesetzt, ihre mythischen Bestandteile aber aus dem bewusstlosen Schaffen der christlichen Gemeinde abgeleitet, so wies Bauer nach, dass auch kein einziges Atom in den Evangelien geschichtlich, vielmehr alles in ihnen freie schriftstellerische Schöpfung der Evangelisten sei. Bauer löste die mysteriösen und positiven Voraussetzungen der Straußischen Kritik in dem Satze auf, dass die Evangelisten in einer Reihe ständen mit Homer und Hesiod, die nach dem Worte Herodots den Griechen ihre Götter gemacht hätten. Mochte Bauers Kritik mitunter über das Ziel hinausschießen, so schlug sie doch den einzigen Weg ein, auf dem die Entstehung des Christentums wissenschaftlich erforscht werden konnte; Bauer ist durch das Prinzip des unendlichen Selbstbewusstseins irregeführt worden, sobald er es als bloße Formel auf die praktischen Kämpfe der Zeit anwandte, aber das Studium des Stoizismus, Epikureismus und Skeptizismus, das ihn bis an sein Lebensende beschäftigte, hat ihm seinen dauernden Ruhm erworben, indem es ihn befähigte, nachzuweisen, dass die christliche Religion als Weltreligion der griechisch-römischen Welt nicht aufgedrängt, sondern das eigenste Produkt dieser Welt gewesen sei.

Marx endlich machte sich daran, die Geschichte jener drei Philosophien in ihrem Zusammenhange mit der ganzen griechischen Spekulation zu erforschen. Einen Teil dieser Arbeit bildet der Inhalt seiner Doktordissertation, die sich mit dem Unterschiede der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie beschäftigt.4

1 Mehring hat die naiv-materialistische Erkenntnislehre Heraklits und Demokrits nicht richtig gesehen. Heraklit erkannte in den Sinnen durchaus die Grundlage der Erkenntnis, wollte aber auch die Rolle des Denkens, die „Erforschung" des Gesehenen und Gehörten unterstrichen wissen. Auch Demokrit hat die Bedeutung der sinnlichen Stufe der Erkenntnis nicht geleugnet, aber dem Denken, der Vernunft, die höhere Rolle zuerkannt.

2 Mehring übersah die materialistischen Seiten in der Philosophie des Aristoteles, auf die Lenin nachdrücklich hingewiesen hat. Er unterschätzte auch Aristoteles' Bedeutung in der Entwicklungsgeschichte der Logik und der Dialektik.

3 Die heutige marxistische Forschung teilt diese Auffassung Mehrings nicht. Es ist falsch, zu sagen, dass Epikur die materialistische Grundlage der Weltanschauung Demokrits zerstört habe. Ganz im Gegenteil, er verteidigte diese materialistische Grundlage und war bestrebt, sie zu begründen und auszubauen.

4 Siehe Karl Marx: Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie nebst einem Anhange. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Ergänzungsband, Schriften bis 1844, Erster Teil, S. 257-373.

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