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Franz Mehring 18991227 Die Welträtsel

Franz Mehring: Die Welträtsel

27. Dezember 1899

[Die Neue Zeit, 18. Jg. 1899/1900, Erster Band, S. 417-421. Nach Gesammelte Schriften, Band 13, S. 141-146]

Unter diesem Titel hat Ernst Haeckel bei Emil Strauß in Bonn „gemeinverständliche Studien über monistische Philosophie" veröffentlicht. Er will darin die Frage beantworten: „Welche Stufe in der Erkenntnis der Wahrheit haben wir am Ende des neunzehnten Jahrhunderts wirklich erreicht? Und welche Fortschritte nach diesem unendlich entfernten Ziele haben wir im Laufe desselben wirklich gemacht?" Das ziemlich umfängliche, gegen 500 Seiten umfassende, aber sehr leicht und lesbar geschriebene Werk enthält einen anthropologischen, einen psychologischen, einen kosmologischen und einen theologischen Teil, deren besondere Titel lauten: Der Mensch, Die Seele, Die Welt, Der Gott. Seinem Wesen nach ist das Buch ein Bekenntnis, wie die letzte Schrift von David Strauß war, ein Versuch, Naturwissenschaft und Philosophie zu versöhnen, so zwar, dass bei Haeckel der naturwissenschaftliche Teil den philosophischen überwiegt, während es bei Strauß umgekehrt lag.

Wie Strauß nur eine Abschlagszahlung auf das lang geplante Werk gab, das seine Lebensarbeit krönen sollte, so auch Haeckel. Seine populäre Darstellung soll ausführen, begründen und ergänzen, was er in seinen wissenschaftlichen Werken seit einem Menschenalter vertreten hat. „Der alte, viele Jahre hindurch gehegte Plan, ein ganzes System der monistischen Philosophie auf Grund der Entwicklungslehre auszubauen, wird nicht mehr zur Ausführung gelangen. Meine Kräfte reichen dazu nicht mehr aus, und mancherlei Mahnungen des herannahenden Alters drängen zum Abschluss. Auch bin ich ganz und gar ein Kind des neunzehnten Jahrhunderts und will mit dessen Ende einen Strich unter meine Lebensarbeit machen." Diese Worte atmen eine resignierte Stimmung, wie sie der letzten Arbeit von Strauß gleichfalls eigentümlich war. Sie befremdet zunächst an so tapferen Bekennern und Kämpfern, wie Haeckel und Strauß all ihr Lebtag gewesen sind, aber sie hat deshalb doch nicht bloß ihren äußerlichen Grund in der körperlichen Ermattung des Greisenalters, wo sie selbst ihn suchen. Auch aus inneren Gründen war es ihnen unmöglich, den ersehnten Abschluss ihrer Lebensarbeit zu erreichen; ihre Bemühungen, Naturwissenschaft und Philosophie zu versöhnen, scheiterten und scheitern daran, dass ihnen jenes Gebiet unbekannt ist, wo sich Geistes- und Naturwissenschaften allein versöhnen können: das Gebiet der gesellschaftlichen Zusammenhänge. Wie Strauß das mythische Geheimnis der evangelischen Geschichte auflöste, um das mystische Geheimnis der Hohenzollerndynastie zu bekennen, so expediert Haeckel den lieben Gott aus dem Weltall hinaus, um Bismarck als den gewaltigen Staatsmann zu feiern, der das „politische Welträtsel" der deutschen Nation gelöst habe. Stände es um Haeckels Lösung der physischen Welträtsel nicht besser als um Bismarcks Lösung der politischen Welträtsel, so stände es schlimm um sie. Aber glücklicherweise ist es besser um sie bestellt.

Bei allen kritischen Vorbehalten gestehen wir gern, dass wir Haeckels Buch mit dem lebhaftesten Interesse von der ersten bis zur letzten Zeile gelesen haben, und nicht nur wegen der menschlichen Teilnahme, die naturgemäß dieser Strich unter die Lebensarbeit eines bedeutenden Forschers erregen muss. Uns scheint das Buch von sehr aktuellem Interesse auch für die sozialdemokratische Partei zu sein. Haeckel ist bekanntlich nicht ihr Freund, sehr im Gegenteil; in seinem Buche erwähnt er sie nur einmal, als eine utopische Sekte, die im Deutschen Reichstag nicht wage, im Interesse der öffentlichen Moral die Abschaffung des Zölibats zu beantragen, da sie um die Gunst des Zentrums buhle. Der Vorwurf ist ebenso geistreich wie seine Begründung, aber gleichviel – in seinen minder guten wie in seinen sehr guten Seiten ist Haeckels Werk außerordentlich geeignet, die in der Partei anscheinend etwas durcheinandergeratenen Ansichten darüber zu klären, sowohl was sie am historischen Materialismus, als auch was sie am historischen Materialismus besitzt. Haben wir je aus einer einzelnen Schrift, die in den letzten Jahren erschienen ist, einen überwältigenden Eindruck davon empfangen, eine wie unübertreffliche, aber auch eine wie unentbehrliche Waffe der proletarische Klassenkampf am historischen Materialismus besitzt, so aus diesem Buche Haeckels. Wir wissen wohl, dass wir mit diesem Lobe dem Verfasser keine Freude bereiten; hat er sich ja schon einmal gegen Virchows unglaublichen Vorwurf verteidigen müssen, dass der Darwinismus der Vorläufer der Pariser Kommune gewesen sei! Deshalb fügen wir gleich hinzu, dass Haeckels Verdienst um den historischen Materialismus subjektiv durchweg und objektiv wenigstens teilweise ein durchaus unfreiwilliges Verdienst ist.

Er ist Materialist und Monist, aber nicht historischer, sondern nur naturwissenschaftlicher Materialist; er glaubt, die Gesetze, die in der Natur gelten, ohne weiteres auf die Gesellschaft übertragen zu können, und gelangt dabei zu philosophischen Resultaten, deren Dürftigkeit nahezu jeder Beschreibung spottet. Natürlich sieht er und muss auch von seinem Standpunkt aus im religiösen Aberglauben die Quelle aller sozialen Übel sehen, und die Ehrentitel, womit er namentlich die Päpste als die größten Gaukler der Weltgeschichte bekämpft, lassen an Kraft und Saft des Ausdrucks gewiss nichts zu wünschen übrig, umso mehr aber an treffender Schärfe. Von den sozialen Ursachen der Religion weiß Haeckel nichts und will er auch nichts wissen; das politische Welträtsel, wieso die papistische Partei am Ende eines Jahrhunderts, das so ungeheure Fortschritte in der Naturwissenschaft gesehen hat, dennoch die Politik des Deutschen Reiches beherrsche, vermag er nur durch die – unverbesserliche Dummheit der Menschen zu erklären. Das ist ebenso bequem wie nichtssagend, und der Kohl wird auch nicht fetter, wenn noch ein paar Gründe ähnlichen Kalibers angereiht werden. So bewundert Haeckel den „Kulturkampf", den der größte Staatsmann Bismarck und der ausgezeichnete Kultusminister Falk ebenso klug wie energisch geführt hätten, und erklärt das Canossa dieses famosen „Kampfes" damit, dass der „ausgezeichnete Menschenkenner und kluge Realpolitiker" Bismarck dennoch die „Macht von drei gewaltigen Hindernissen" unterschätzt habe: „erstens die unübertroffene Schlauheit und gewissenlose Perfidie der römischen Kurie, zweitens die entsprechende Gedankenlosigkeit und Leichtgläubigkeit der ungebildeten katholischen Massen, auf welche sich die erstere stützt, und drittens die Macht der Trägheit, des Fortbestehens des Unvernünftigen, bloß weil es einmal da ist". Das sind Gründe, so wohlfeil wie Brombeeren, und Haeckel sollte einmal darüber nachdenken, weshalb die deutschen Arbeiter den „größten Staatsmann", den „klugen Realpolitiker" usw. aufs Haupt geschlagen haben, obgleich er bei der Sozialistenhetze sowohl die gewissenlose Perfidie, als auch die Gedankenlosigkeit des ungebildeten Philisters, als auch die Macht der Trägheit auf seiner Seite hatte.

So unklar wie über das Wesen, ist Haeckel auch über den Ursprung der Religionen. Was er besonders über die Entstehung des Christentums ausführt, erinnert an den seichten Aufkläricht des vorigen Jahrhunderts oder im günstigsten Falle an den biederen Reimarus seligen Andenkens; hinter dem, was der alte Hegelianer Strauß darüber zu sagen wusste, steht es schon weit zurück, geschweige denn hinter dem, was in den letzten Jahrzehnten über die sozialen Ursprünge der Religionen und besonders der christlichen Religion erforscht worden ist. Nicht minder verläuft der Kultus des Wahren, des Guten und des Schönen, den Haeckel befürwortet, in die oberflächlichste Aufklärung, die damit glücklich auf drei Redensarten reduziert wird. Was ist wahr? Was ist gut? Was ist schön? Solange die verschiedenen Klassen der bürgerlichen Gesellschaft darüber ebenso verschiedene, wie verschiedene Ansichten haben, wird die „monistische" Religion Haeckels dasselbe Schicksal haben wie die christliche Religion gehabt hat: sie wird so oder so erscheinen, revolutionär oder reaktionär wirken, je nach den realen Klassenkämpfen, die sich in ihr ideologisch widerspiegeln. Alles in allem ist der Philosoph Haeckel am Ende des neunzehnten Jahrhunderts in einer Weise rückständig, die man sich an einem so gebildeten und gescheiten Kopf schwer vorstellen könnte, wenn sie nicht eben durch die völlige Unfähigkeit des beschränkt naturwissenschaftlichen Materialismus, auf gesellschaftlichem Gebiet mitzureden, ausreichend erklärt würde. Wer einmal diese Unfähigkeit mit Händen greifen, wer sich mit der Erkenntnis durchdringen will, dass der naturwissenschaftliche Materialismus sich zum historischen Materialismus erweitern muss, wenn er wirklich eine unwiderstehlich aufräumende Waffe im großen Befreiungskampf der Menschheit sein will, der lese Haeckels Buch.

Aber er lese es nicht nur deshalb! Seine ungemein schwache Seite hängt vielmehr untrennbar mit seiner ungemein starken Seite zusammen, mit der fasslichen, klaren, schließlich doch den ungleich größeren und wichtigeren Teil des Bandes füllenden Darstellung, die Haeckel von der Entwicklung der Naturwissenschaften in diesem Jahrhundert oder, mit anderem Worte, von dem Siegeszug des naturwissenschaftlichen Materialismus gibt. Hier ist er ganz bei seiner Sache und weiß ein fortreißendes prächtiges Bild zu entwerfen. Hier spürt man in jedem Worte den ehrlichen Forscher, der ohne jede Menschenfurcht um die Erkenntnis der Wahrheit ringt. Hier gibt es für ihn kein Wanken und Weichen, kein Nachgeben auch nur um Haaresbreite. Es wäre unbillig zu verkennen, dass diese Lichtseite des Buches seine Schattenseite erklärt und sogar im gewissen Sinne rechtfertigt. Je ausgezeichneter, gründlicher und konsequenter Haeckel auf dem von ihm beherrschten Gebiet zu orientieren weiß, umso dunkler mag ihm werden, was jenseits dieses Gebiets liegt, und um seines wirklichen, nicht geringen Verdienstes willen kann man ihm seine Bismarckschwärmerei und ähnliche Schrullen gern nachsehen. Unseres Erachtens steht er damit auch wissenschaftlich höher als andere Naturforscher, die auf gesellschaftswissenschaftlichem Gebiet eher als er ein paar Händevoll zugeben, aber dafür auch auf naturwissenschaftlichem Gebiet ein paar Händevoll nachlassen. Reinlichkeit ist das halbe Leben, und je unmöglicher es für den einzelnen ist, zugleich die Gesellschafts- und die Naturwissenschaften zu beherrschen, umso notwendiger ist es, die Grenzscheiden klar zu halten und auf jedem Gebiet ganze Arbeit zu machen. Haeckel macht aber auf seinem Gebiet ganze Arbeit, und mit seinem unbehilflichen Schmuggeln über die ihm verschlossene Grenze kann er kein großes Unheil anstiften, was entschieden der Methode nicht ehrlicherer und nicht klügerer, aber verschmitzterer Schmuggler vorzuziehen, die hüben und drüben ein angenehmes Dämmerlicht herzustellen suchen.

Ob Haeckel bei der Begründung seines Monismus im einzelnen die Fortschritte der naturwissenschaftlichen Erkenntnis zu optimistisch einschätzt, wie ihm seine Gegner vorzuwerfen pflegen, das zu untersuchen ist hier sowenig der Ort, wie der Schreiber dieser Zeilen sich dazu kompetent erachten würde. Wäre dem aber auch so, wie es bei Bekennern und Kämpfern von Haeckels Schlage oft genüg zu sein pflegt, so gibt die Geschichte solchen vorwärtsdrängenden Temperamenten doch gewöhnlich das bessere und größere Recht gegenüber den Haarspaltern und Kopfschüttlern, und man braucht sich die Freude an Haeckels frohgemuter Darstellung nicht dadurch trüben zu lassen, dass er heute schon manches sieht, was vielleicht erst morgen sein oder auch wohl einmal nicht sein wird. Zu tadeln wäre Haeckel erst, wenn er sich an der Befriedigung des Philisters genügen ließe, wie herrlich weit wir es doch gebracht, aber davon ist er weit entfernt, und die Philosophie der Dinge, die er wirklich kennt, weiß er sehr wohl zu schreiben. Du Bois-Reymonds voreiliges: Ignorabimus (Wir werden nicht wissen) bekämpft er eben nur so weit, wie es die voreilige Anmaßung eines Schönredners war und der naturwissenschaftlichen Erkenntnis willkürliche Grenzen stecken wollte, aber er verfällt nicht dem entgegen gesetzten Fehler, sondern erkennt an, dass uns das eigentliche Wesen der Substanz immer rätselhafter und wunderbarer werde, je tiefer wir in die Erkenntnis ihrer Attribute, der Materie und Energie, eindrängen, je gründlicher wir ihre unzähligen Erscheinungsformen und deren Entwicklung kennenlernten. Er unterscheidet treffend zwischen metaphysischer Grübelei und echter Philosophie, wenn er hinzufügt: „Was als ,Ding an sich' hinter den erkennbaren Erscheinungen steckt, das wissen wir auch heute noch nicht. Aber was geht uns dieses mystische ,Ding an sich' überhaupt an, wenn wir kein Mittel zu seiner Erforschung besitzen, wenn wir nicht einmal klar wissen, ob es existiert oder nicht?" Demgemäß kämpft Haeckel auch gegen die Neukantianer, deren Feldrufe er, um mit einem derben, schon vor zwanzig Jahren von unserem alten Dietzgen gebrauchten Worte zu sprechen, als ein „reaktionäres Getute" betrachtet.

Bei aller Anerkennung der Verdienste, die sich Kant um die Kritik des menschlichen Erkenntnisvermögens erworben hat, untersucht Haeckel Kants eigenes Erkenntnisvermögen wie folgt: „Kants akademische Bildung war überwiegend philosophisch, theologisch und mathematisch; von den Naturwissenschaften lernte er nur Astronomie und Physik gründlich kennen, zum Teile auch Chemie und Mineralogie. Dagegen blieb ihm das weite Gebiet der Biologie, selbst in dem bescheidenen Umfang der damaligen Zeit, größtenteils unbekannt. Von den organischen Naturwissenschaften hat er weder Zoologie noch Botanik, weder Anatomie noch Physiologie studiert; daher blieb auch seine Anthropologie, mit der er sich lange Zeit beschäftigte, höchst unvollkommen." Und an einer anderen Stelle: „Kant, der nüchterne und klare Begründer der kritischen Philosophie, erklärt mit größter Bestimmtheit die Hoffnung auf eine Entdeckung für ‚ungereimt', die schon siebzig Jahre später durch Darwin tatsächlich gemacht wurde, und er spricht dem Menschengeist für alle Zeit eine bedeutungsvolle Einsicht ab, die er durch Darwins Selektionstheorie tatsächlich erlangte. Man sieht, wie gefährlich das kategorische Ignorabimus ist." Es ist sehr dankenswert, dass Haeckel einmal von dieser entscheidenden Seite dem Zurück auf Kant! den Prozess macht und sich damit einer Strömung entgegenstemmt, die auf dem Gebiet der Gesellschafts- wie der Naturwissenschaften jenes Dunkel der Verwirrung stiften möchte, worin gut munkeln ist.

So hat Haeckel zwar nicht den Schatz, nach dem er grub, im Weinberg gefunden, aber er hat den Weinberg tüchtig umgegraben, viel Unkraut ausgejätet, viel fruchtbare Reben gepflanzt. Hoffentlich sind die „Welträtsel" noch nicht sein letztes Wort, aber auch wenn sie es wären, so schlössen sie rühmlich ein rühmliches Lebenswerk, dem der Sozialistenhass doch nur anhängt wie dem Kulturmenschen ein rudimentäres Organ aus der Zeit der Barbarei.

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