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Franz Mehring 18940801 Drillinge

Franz Mehring: Drillinge

1. August 1894

[Die Neue Zeit, 12. Jg. 1893/94, Zweiter Band, S. 577-582. Nach Gesammelte Schriften, Band 13, S. 121-128]

Max Wirth veröffentlicht in der „Neuen Freien Presse" einen Artikel zur Geschichte des Anarchismus, worin er eine lustige Schnurre über Julius Faucher, den bekannten Manchestermann, erzählt. Faucher war ein Schüler Max Stirners und erklärte im Jahre 1848 dem bekannten Republikaner Schlöffel, er beteilige sich nicht an der politischen Bewegung, weil ihm Republikaner wie Schlöffel noch zu weit rechts ständen. Nun erzählt Max Wirth weiter:

Schlöffel strich seinen langen Bart mit Stolz und entgegnete: „Das sagen Sie zu mir?" „Ja", fuhr Faucher fort, „denn Sie sind ja eingefleischter Republikaner, Sie wollen also noch einen Staat! Ich aber will auch den Staat nicht, folglich bin ich weiter links." Schlöffel hörte diese Paradoxen zum ersten Male und versetzte: „Unsinn, wer kann uns denn vom Staat emanzipieren?" „Das Verbrechen", war Fauchers mit Pathos herausgestoßene Replik. Schlöffel drehte sich um und verließ ohne ein weiteres Wort die Kneipe. Die Zurückgebliebenen brachen in lautes Gelächter aus, weil der schroffe, stolze Demagoge abgeführt war. Keiner aber vermutete in der Äußerung mehr als einen dialektischen Scherz.

Die Schnurre ist, wenn nicht wahr, so doch gut erfunden, und übrigens ist es glaubhaft genug, dass sie wahr sein mag. Anarchismus und Manchestertum sind Zwillinge oder noch genauer: Anarchismus, Manchestertum und Antisemitismus sind Drillinge, aus einer Wurzel entsprossen und belebt von gleichen Säften. Man muss diese Erscheinungen, wenn man ihnen gerecht werden will, nicht nach ihren heutigen Vorkämpfern beurteilen, den Anarchismus nicht etwa nach Bruno Wille, das Manchestertum nicht etwa nach Eugen Richter, den Antisemitismus nicht etwa nach einem x-beliebigen Bachler oder Boeckel. Das ist durch die Bank abgeschmacktes und hohlköpfiges Epigonentum. Man muss vielmehr in die vierziger Jahre des Jahrhunderts zurückgehen, als in Deutschland unter den anschwellenden Wassern der ökonomischen Entwicklung ein stolzer Geistesbau in sich zusammenbrach und eine Fülle philosophischer Köpfe, von denen der unbedeutendste heute genügen würde, die philosophischen Bedürfnisse sämtlicher deutschen Hochschulen zu decken, nach neuen Schlüsseln suchte, das Welträtsel zu lösen.

Wir meinen die Auflösung der Hegelschen Philosophie. Sie hatte das geistige Erbe unserer klassischen Literatur in einem gewaltigen System zusammengefasst, und im letzten Jahrzehnt seines Lebens, in den zwanziger Jahren des Jahrhunderts, hatte Hegel, so gut oder so schlecht es ging, dies System in holden Einklang mit der jammervollen Wirklichkeit der deutschen Staaten und namentlich des preußischen Staates gebracht. Nun ließ zuerst die Julirevolution wie in einem grellen Blitzschein erkennen, dass die Brücke, die Ideal und Leben verbinden sollte, aus Spinnweben gewoben war; dann aber zündete der wirtschaftliche Fortschritt der dreißiger Jahre, als dessen äußere Wirkungen hier nur die Gründung des Zollvereins und der Bau von Eisenbahnen genannt sein mögen, ein nachhaltigeres Licht an. Und je heller nun dieses Licht schien, umso mehr suchten die deutschen Staaten es zu verhängen mit Purpurmänteln und mit dunklen Kutten; je schneller die ökonomische Entwicklung vorwärtstrieb, umso krampfhafter rissen die Regierungen nach rückwärts. Darüber musste das Hegelsche System in die Brüche gehen, und es kam darauf an, unter seinen Trümmern den richtigen Weg zu finden, der aus der Vergangenheit in die Zukunft leitete.

Wir wissen heute, dass Marx und Engels diesen Weg gefunden haben. Sie erkannten am klarsten und bis in die letzten Konsequenzen hinein, dass es die Ökonomie war, welche die Philosophie gesprengt hatte, und sie studierten die politische Ökonomie da, wo sie in den vierziger Jahren allein erst studiert werden konnte, in England und Frankreich. So begründeten sie den wissenschaftlichen Sozialismus, an dem gleichen Anteil haben die deutsche Philosophie, die Französische Revolution und die englische Industrie. Die sonstigen Junghegelianer aber – und von ihnen allein sprechen wir hier, denn die Philosophieprofessoren, die an den deutschen Hochschulen noch jahrzehntelang Hegels Hefte ableierten, zählen in der Geschichte überhaupt nicht mit – also die sonstigen Junghegelianer wurden sich über den Zusammenhang zwischen Ökonomie und Philosophie nicht ebenso klar wie Marx und Engels. Sie konnten es auch gar nicht, da sie an den deutschen Verhältnissen kleben blieben. Natürlich bestand der Zusammenhang deshalb aber nicht weniger, weil sie ihn nicht erkannten. Konnten oder wollten sie die ökonomische Entwicklung nicht verstehen, durch deren richtiges Verständnis Marx und Engels den ruhenden Pol in der Erscheinungen Flucht gewonnen hatten, so trieb die Flucht ihrer ideologischen Erscheinungen deshalb nicht weniger um den ruhenden Pol der deutschen Ökonomie, d. h. in den damaligen Zeitläufen des endlich die Flügel lüftenden Kapitalismus.

Bei einzelnen Junghegelianern braucht man nicht einmal besonders tief zu graben, um auf diesen Grund zu stoßen. So beispielsweise nicht bei Ruge und auch nicht bei Strauß. Wir sind weit entfernt, beide auf dieselbe Stufe zu stellen mit den heutigen Wortführern des Kapitalismus, mit praktischen und theoretischen Geschäftemachern, wie Miquel und Eugen Richter, aber ein sorglicher Erwerbssinn zog sich bei Ruge wie bei Strauß als roter Faden durch ihre Ideologien. Ruge war nicht nur Herausgeber der „Hallischen Jahrbücher", sondern auch Hallescher Hausbesitzer und Stadtverordneter. Nachdem das erste Heft der „Deutsch-Französischen Jahrbücher" einen geschäftlichen Misserfolg gehabt hatte, lehnte er die Weiterführung des Blattes ab, sowohl weil ihm die sozialistischen Aufsätze von Marx und Engels nicht passten, als auch, wie er entrüstet bemerkte, weil er sonst „am Schlusse ein Proletarier" sein würde. Er konnte auf die vormärzlichen Zustände räsonieren wie einer, aber immer ist es die Eigentumsfrage, an der sich die Wogen seiner sittlichen Entrüstung brechen. Kam sie ins Spiel, so waren ihm die „preußischen Schinderknechte" noch „honette" Leute, verglichen mit den „gräulichen Judenseelen" von Kommunisten. Er war keineswegs ein Renegat, sondern verfolgte nur eine Spur, die schon in den ersten Anfängen seines „Halleschen Löwentrotzes" sehr erkennbar ist, als er am Vorabend des Krieges von 1866 der deutschen Bourgeoisie riet, mit Bismarck zu paktieren, und als Stipendiat der nationalliberalen Ära Bismarck hat er denn auch geendet. Ganz ähnlich endete Strauß als begeisterter Schwärmer für den modernen Industrialismus, als wütender Hasser des Sozialismus, den er mit Kanonen und Polizei ausrotten wollte, und seine bei alledem bahnbrechende Lebensarbeit, die Kritik der evangelischen Geschichte, verkrüppelte sich ihm in eine grimmige Anfeindung des „kulturfeindlichen Prinzips", das in Jesu Predigten für die Armen und gegen die Reichen den „Erwerbstrieb", will sagen die zügellose Profitwut, dennoch zu zügeln versucht.

Andere Junghegelianer hatten dies liebevolle Verständnis für den Kapitalismus nicht. Im Gegenteil, sie blickten zu scharf und dachten zu revolutionär, um ihre ideologischen Waffen vor der platten Geldmacherei zu strecken. Aber mit der bloßen Ideologie war es ein für allemal nicht mehr getan. Wollte man aber in Deutschland aus den Wolken auf festes Land gelangen, so kam man gern oder ungern in die Geleise des aufstrebenden Kapitalismus. Feuerbach mochte Gott entthronen und den Menschen an seine Stelle setzen, aber dieser Mensch war entweder auch eine Ideologie oder er war in Deutschland der Kleinbürger, der sich zum Mittelbürger, oder etwa auch schon der Mittelbürger, der sich zum Großbürger zu entwickeln begann. Feuerbach hat nicht auf dem Faulbett der Bismärckerei geendet; er hat sich, eine der edelsten und stolzesten Gestalten unserer Literatur, in schweigenden Flammen verzehrt; er hielt an seinen revolutionären Instinkten fest, und mitten im Siegestrubel von 1871 nennt er in seinem letzten, schon mit schlagflüssiger Hand geschriebenen Brief an seinen Herzensfreund, den Bauern Konrad Deubler, das Leipziger Organ der Sozialdemokratie als seine Zeitungslektüre. Aber aus jenem tragischen Zwiespalt kam er nicht heraus. An ihn knüpften Marx und Engels an, um in der schon angedeuteten Weise zum wissenschaftlichen Sozialismus zu gelangen; an ihn auch knüpfte Max Stirner an, um der bedeutendste Vertreter des Anarchismus zu werden. Sehr mit Recht hat Plechanow in seinen kürzlich erschienenen Studien über Anarchismus und Sozialismus die Ansicht zurückgewiesen, als habe Stirner die Philosophie Feuerbachs ins Lächerliche ziehen wollen. Hat es je ein Buch gegeben, auf das der oft missbrauchte Vergleich zutrifft, dass es mit dem Herzblute seines Verfassers geschrieben sei, so ist es „Der Einzige und sein Eigentum". Stirner war durchaus eine philosophische und auch eine revolutionäre Natur. Es liegt etwas wie titanische Kraft in seinem heißen Bemühen, den Menschen Feuerbachs, der immer noch über den Wolken thront, auf die Erde zu reißen. Es gelingt ihm, und es gelingt ihm auch nicht. Der „Einzige", den Stirner lebendig macht, ist nicht der Mensch, sondern ein Mensch, die vorgeschrittenste Sorte Mensch, die der halbverhungerte Schulmeister Kaspar Schmidt in dem vormärzlichen Berlin kannte: der Bourgeois mit seinem „Eigentum", dem Kapital, das nicht mehr vom Despotismus gepäppelt sein will, sondern stark genug geworden ist, um in schrankenloser Konkurrenz, in reinem Genuss seines Daseins sich selbst zu leben. Stirner ist zu sehr Philosoph und zu sehr Revolutionär, um nicht den schneidenden Widerspruch zwischen dieser Spottgeburt von Dreck und Feuer und seinem philosophischen Ideal vom Menschen zu empfinden, und aus dieser Empfindung entspringen jene Blitze verzweifelten Humors, die sein Buch in einen so falschen Verdacht gebracht haben.

Nach dem, was Plechanow und vor ihm schon Bernstein – siehe „Neue Zeit", Jahrg. 1891/92, Nr. 14 – über Stirner geschrieben haben, können wir uns kurz fassen. Nur so viel noch, dass, wenn heute die bürgerliche Universitätsweisheit mit einigem Aufwande von obgleich – dennoch Anarchismus und Sozialismus unter einen Hut bringen will, das vormärzliche Deutschland für solche Bocksprünge viel zu gebildet war.

Kaum hatte Ruge den „Einzigen und sein Eigentum" aufgeschlagen, als er sofort erkannte, der Anarchismus sei der Todfeind des Sozialismus, dagegen der Zwilling des Kapitalismus. Er nennt Stirners Buch wiederholt eine „befreiende Tat". Er schreibt: „Man müsste das Buch soutenieren und propagieren. Es ist eine Befreiung von der dümmsten aller Dummheiten, der sozialen Handwerkerdogmatik, diesem neuen Christentum, das die Einfältigen predigen und dessen Realisierung ein niederträchtiges Schafstallleben wäre." Genug, Ruge preist Stirner als das Gegengift gegen Marx und Engels. Nur eine „Dummheit" hat jener von diesen angenommen, nämlich, dass er „aus der wirklichen Welt heraus will". Der sozialrevolutionäre Stich in Stirners Buch stach Ruge in die Nase. „Als allgemeiner Zustand Tollheit und nur im besonderen Falle wahr", oder wie Ruge den gleichen Gedanken in andere Worte kleidet: „Der offene Egoismus bei Stirner ist wahr, der Egoismus als Geheimlehre, wie bei Marx, ist Heuchelei", oder wie diese Sätze in heutiger Sprache lauten würden: Für das Proletariat Tollheit, für die Bourgeoisie Wahrheit, für die Bourgeoisie der Egoismus, für das Proletariat die Entsagung. Doch über der Schale vergisst Ruge nicht den Kern; die Quintessenz Stirners sind ihm die Kennworte: „Verlass dich auf dich selbst, wer sich auf andere verlässt, der ist schon verlassen genug." Es ist dasselbe Eiapopeia, womit zwanzig Jahre später die Nichts-als-Freihändler die beginnende Arbeiterbewegung zu nasführen suchten.

In der Tat hat Ruge schon mit scharfem Klasseninstinkt den sehr einfachen Griff erkannt, um aus der spröden Schale den blanken Kern zu schälen. Für Anhänger Stirners, wie Faucher, genügte der Entschluss, nicht aus der wirklichen Welt zu wollen, um sich vom Anarchisten zum Manchestermann zu mausern. Für diesen Zweck reicht diese schlichte Erkenntnis aus: Wir brauchen die beste der Welten nicht erst zu erstreben, denn wir haben sie schon. All die wilde Gewaltsamkeit in der Wahl der Mittel, die für Stirner bitterer Ernst war, sank damit zu dem herab, als was das Gespräch zwischen Faucher und Schlöffel den Zuhörern erschien: zu einem dialektischen Scherz. Die freihändlerische Dialektik gewann übrigens auch im Ernst durch den Umweg über die Philosophie. Faucher hatte nicht umsonst zu Stirners Füßen gesessen. Er wurde in Deutschland, wie Guido Weiß ihn einmal nannte, der „geistvollste Vertreter der geistlosesten Lehre" und kam auch im freihändlerischen Auslande zu hohen Ehren. In den fünfziger Jahren war er Cobdens literarischer Sekretär und redigierte dessen manchesterliche Flugblätter. Er brauchte darum nichts anderes zu schreiben, als was er bereits unter Stirners geistigem Einflusse geschrieben hatte.

Noch vor Stirners 1845 veröffentlichtem Buche erschien Bruno Bauers „Allgemeine Literaturzeitung", die im Jahre 1844 in Charlottenburg herausgegeben wurde. In dieser Monatsschrift verarbeitete Faucher die damalige englische Arbeiterfrage und zwar in einer Weise, die ihn schon vollkommen würdig erscheinen ließ, die literarische Hand des englischen Freihandelsapostels zu werden. Man lese nur die köstliche Abfertigung, die Engels in der „Heiligen Familie" diesen Stilübungen widmete.1 Nun war Bruno Bauer wieder eine ganz andere Spezies der Junghegelianer als Stirner, der in seinem Buche denn auch vielfach gegen die „Allgemeine Literaturzeitung" polemisiert. Zwar darin glichen sich beide, dass sie die Dinge ungleich tiefer nahmen als Ruge oder Strauß, und wie Stirner ist denn auch Bauer, dem „Volke der Dichter und Denker" zu Ehren, halb verhungert. Und auch darin glichen sie sich, dass ihnen das Verständnis für die geistige Entwicklung von Marx und Engels fehlte. Je klarer diesen beiden die weltgeschichtliche Bedeutung der proletarischen Massenbewegung wurde, umso eifriger löste Stirner die Menschheit in lauter Egoisten auf und umso krampfhafter predigte Bauer: „Alle großen Aktionen der bisherigen Geschichte waren deshalb von vornherein verfehlt und ohne eingreifenden Erfolg, weil die Masse sich für sie interessiert und enthusiasmiert hatte." Aber zwischen Stirner und Bauer bestand der tiefe Unterschied, dass, während Stirner den abstrakten Menschen aus den Wolken in die wirkliche Welt versetzen wollte, Bauer den wirklichen Menschen noch höher in die Wolken jagte, als er schon durch den deutschen Idealismus gejagt worden war. Die kritische Kritik, die alles in reinen Geist auflösen wollte und mit unsäglicher Verachtung auf die Masse herabsah, war die letzte und karikierteste Form der idealistischen Spekulation; als solche ist sie ebenso ergötzlich wie gründlich in der „Heiligen Familie" von Marx und Engels erledigt worden. Aber indem Bauer in den blauesten Äther flüchtete, wurde er die deutsche Welt so wenig los, wie Stirner sie los wurde, indem er den abstrakten Menschen aus den Wolken auf die Erde holte. Der abstrakte Mensch wurde der deutsche Kapitalist, während der deutsche Kapitalist unmöglich reiner Geist werden konnte. Bauer brauchte einen Sündenbock, auf den er die kapitalistische Masse abladen konnte, und er fand ihn im Juden. Bei ihm versetzte sich der Kapitalismus als Antisemitismus, wie er sich bei Stirner als Anarchismus versetzt hatte.

Die Anknüpfung gab auch hier Feuerbach. In seinem „Wesen des Christentums" hatte er die jüdische Religion erläutert als die Religion des praktischen Egoismus. Bruno Bauer wie Marx nahmen den Gedanken auf, spannen ihn aber jener in idealistischer, dieser in materialistischer Weise fort. Für Bauer war das religiöse Problem alles: Christ und Jude können zur Freiheit nur durchdringen, indem die einen wie die anderen ihre Religion überwinden. Für die Christen ist das bei der unaufhaltsamen Selbstauflösung ihrer Religion verhältnismäßig leicht, für die Juden aber, die sich von jeher dem geschichtlichen Fortschritte widersetzt und in ihrem Hasse aller Völker sich das abenteuerlichste und beschränkteste Volksleben gestiftet haben, deren Religion tierische Schlauheit und List ist, womit sich das sinnlichste Bedürfnis befriedigt, ist es außerordentlich schwer, wenn nicht unmöglich. Solange die Juden aber Juden bleiben, können sie nicht emanzipiert werden, und am allerwenigsten kann sie der noch christliche Staat emanzipieren. Dagegen Marx: Bei der Juden-Emanzipation kommt es nicht bloß darauf an, wer emanzipieren und wer emanzipiert werden, sondern namentlich wovon emanzipiert werden soll. Die Judenfrage ist freilich auch eine religiöse Frage, aber ihr religiöses Wesen hat eine weltliche, reale Grundlage. Der wirkliche Jude ist nicht aus der jüdischen Religion, sondern die jüdische Religion aus dem wirklichen Juden zu erklären. Das wirklich weltliche und darum auch religiöse Judentum wird fortwährend von dem heutigen bürgerlichen Leben erzeugt und erhält im Geldsystem seine letzte Ausbildung. Beseitigt den Schacher, und ihr seid den Juden los. So der Standpunkt von Marx, der zur Zeit des Sozialistengesetzes von Ehren-Stoecker und Ehren-Wagner in christlich-sozialer Wahrheitsliebe dahin erläutert wurde, Marx habe den Schacher nie angegriffen, um die Juden zu erhalten.

Die historische Entwicklung beeilte sich, die aus ihr geschöpfte Ansicht von Marx von neuem zu bestätigen. Je mehr der Kapitalismus in Deutschland gedieh, umso mehr gedieh jener abenteuerliche Philosemitismus, der heute noch in der freisinnigen Partei einen so widrigen Götzendienst findet. Sehr bald auch erspähte der Feudalismus diese Schwäche seines intimen Gegners, und kaum hatte Hermann Wagener 1848 die „Kreuz-Zeitung" gegründet, als er die systematische Judenhetze begann. Wagener, der durch die menschlich-schöne, aber politisch sehr anfechtbare Pietät seines Freundes Rudolf Meyer einen besseren Ruf bekommen hat, als er verdient, war weit mehr Rüpel als Staatsmann, auch in seiner Judenpolemik, und wurde deshalb einmal, im Jahre 1850, auf Grund des bekannten Kautschukparagraphen wegen Erregung von Hass und Verachtung gegen Staatsangehörige vom Staatsanwalt belangt. Damals schrieb Goedsche, Wageners Redaktionskollege, an irgendwen – in dem Pamphlet („Drei Jahre aus dem Leben Goedsches"), dem wir den Brief entnehmen, ist der Adressat nicht angegeben: „Herr Assessor Wagener lässt bei Ihnen anfragen, ob es Ihnen möglich, einen getauften oder ungetauften armen Juden aufzutreiben, welcher gegen gute Bezahlung die Autorschaft der beiden Judenartikel übernehmen will? Er will dann plädieren." Es fand sich kein Jude, sondern ein braver Treubündler übernahm die Rolle des Prügeljungen. Indessen als es nun galt, die ostelbisch-feudale Weltanschauung wissenschaftlich zu begründen, musste Wagener für sein Gesellschafts- und Staatslexikon selber sich mit der Rolle des Strohmanns begnügen; den wirklichen Verfasser der Judenartikel suchte und fand er in dem radikalen Philosophen der vierziger Jahre. Guido Weiß schreibt darüber: „Wagener fand für dies Thema einen begeisterten Mitarbeiter in Bruno Bauer, der anfangs nur, in zarter Schonung seines politischen Gewissens, zur Bearbeitung der Philosophenbiographien des Altertums aufgefordert worden war, aber nach Anaxagoras und Anaximander schon beim Epikur sich der Meinung geneigt hatte, dass er bei dem J nicht bloß die Jonier, sondern auch die Juden verarbeiten könne, eine Mitarbeit, die in steigendem Umfange redlich bis über den Zeno hinaus angedauert hat." Eine Probe aus diesen Artikeln hat Schippel im vorigen Jahrgange der „Neuen Zeit" – Nr. 38 – veröffentlicht.

Doch um auf die vierziger Jahre zurückzukommen, so sehen wir Julius Faucher, den bedeutendsten deutschen Manchestermann, in heller Geistesgemeinschaft mit Max Stirner, dem bedeutendsten deutschen Anarchisten, und Bruno Bauer, dem bedeutendsten deutschen Antisemiten. Prophete rechts, Prophete links, das Weltkind in der Mitten. Und die Freundschaft hat gedauert durch allen Wechsel der Zeit. Zwar Stirner starb schon in den fünfziger Jahren, aber Bauer und Faucher hielten bis an ihr Lebensende treu zusammen. In Fauchers Zeitschrift, dem berühmten, aber leider an unheilbarem Abonnentenschwund verblichenen Organ der deutschen Manchesterleute, veröffentlichte Bauer noch in den siebenziger Jahren die Arbeit, die ihm bleibenden Ruhm sichert, die Untersuchung über den Ursprung des Christentums, und sie nahm sich seltsam genug aus mitten in der freihändlerischen Baumwollenweisheit.

In schroffem und unversöhnlichem Gegensatze zu den Drillingen Anarchismus, Manchestertum und Antisemitismus stand von Anfang an der wissenschaftliche Sozialismus. Sie haben seitdem oft die Schärfe seines Schwertes gekostet, und nicht mehr fern ist der Tag, wo er dem kapitalistischen Ungetüm seine drei Köpfe vor die Füße legen wird.

1 Es handelt sich hier um das zweite Kapitel der „Heiligen Familie", das die Überschrift trägt „,Die kritische Kritik' als ,Mühleigner' oder die kritische Kritik als Herr Jules Faucher" (Marx/Engels: Werke, Bd. 2, S. 12 bis 16).

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