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Franz Mehring 18990419 Eine Nachlese

Franz Mehring: Eine Nachlese

19. April, 3. und 10. Mai 1899

[Die Neue Zeit, 17. Jg. 1898/99, Zweiter Band, S. 147-154, 208-215 u. 239-247. Nach Gesammelte Schriften, Band 13, S. 344-374]

I

Wenn ich nach den Ausführungen Kautskys gegen Bernsteins Streitschrift noch in derselben Sache das Wort ergreife, so soll es sich nur um eine Nachlese handeln.1 Es kommt mir weniger darauf an, die Irrtümer Bernsteins im Einzelnen nachzuweisen, als vielmehr einige allgemeinere Gesichtspunkte hervorzuheben und die Stellung zu bestimmen, die Bernsteins Pronunziamento in der historischen Entwicklung der modernen Arbeiterbewegung einnimmt.

Ich knüpfe an das Schlusskapitel an, worin Bernstein mit dem stolzen Motto: Kant wider Cant beginnt und mit dem Stoßseufzer endigt, dass der Sozialdemokratie ein Kant Not tue, der einmal mit der überkommenen Lehrmeinung mit voller Schärfe kritisch-sichtend ins Gericht gehe, wogegen unter keinem Gesichtspunkt etwas einzuwenden ist. Wenn hinter dem „Zurückgehen auf Kant", das Bernstein und Conrad Schmidt mit solcher Emphase verkündet haben, nicht mehr stecken soll, so muss man wirklich fragen: Wozu der Lärm? Weshalb sollte man der Partei nicht einen kritischen Kopf wünschen wie Kant, weshalb nicht auch kritische Köpfe wie Spinoza oder Bacon oder Aristoteles? Auf diesem Gebiet frommer, aber praktisch zweckloser Wünsche herrscht gewiss holder Friede und süße Eintracht.

Verzwickt wird die Sache erst dadurch, dass Bernstein selbst sich bis zum Erscheinen des ersehnten Kant an „einem mehr analytischen Eindringen in die Marxsche Lehre" versucht, was er nicht mit dem bequemen Schlagwort Scholastik abgefertigt wissen will. Lassen wir also das Schlagwort, und halten wir uns an das wissenschaftliche Prinzip! Marx und Engels wollten den Beweis des Geistes und der Kraft, den der historische Materialismus wie jede wissenschaftliche Methode zu führen hat, durch die praktische Erforschung der Geschichte führen, nicht aber durch theoretische oder, wie Lafargue es in diesen Blättern einmal genannt hat, scholastische Tüfteleien über die Methode an und für sich. Wie zu Kautsky, so hat sich Engels auch zu mir in diesem Sinne ausgesprochen; vielleicht wäre es aber ganz ratsam gewesen, wenn er oder Marx oder beide sich darüber auch einmal öffentlich ausgelassen hätten. Immerhin gibt es mancherlei Erklärungsgründe für ihr Schweigen über diesen Punkt; sie meinten vermutlich, dass die Sache für sich selbst spräche und ihr eigenes Vorbild für ihre Schüler einleuchtend genug sein würde, oder sie mochten auch der ganz plausiblen Ansicht sein, dass, was sich wissenschaftlich überhaupt darüber sagen lässt, schon zu einer Zeit gesagt worden war, wo sie selbst noch in den Kinderschuhen herumliefen.

In den Jahren 1816 bis 1830 schrieb der preußische General v. Clausewitz sein berühmtes Werk „Vom Kriege", worin er eine historische Theorie des Krieges aufstellte und dadurch auf die Frage geführt wurde, wie sich historische Theorien beweisen lassen. Über die scholastische Beweisführung sagt er: „Das erste Übel, worauf wir häufig stoßen, ist eine unbehilfliche, ganz unzulässige Anwendung gewisser einseitiger Systeme als einer förmlichen Gesetzgebung … Viel größer ist der Nachteil, der in dem Hofstaat von Terminologien, Kunstausdrücken und Metaphern liegt, den die Systeme mit sich schleppen, und der wie loses Gesindel, wie der Tross eines Heeres, von seinem Prinzipal loslassend, sich überall umher treibt. Wer unter den Kritikern sich nicht zu einem ganzen System erhebt, entweder weil ihm keines gefällt oder weil er nicht soweit gekommen ist, eines ganz kennenzulernen, der will wenigstens ein Stückchen davon wie ein Lineal anlegen, um zu zeigen, wie fehlerhaft der Gang des Feldherrn ist. Nun liegt es in der Natur der Sache, dass alle Terminologien und Kunstausdrücke, welche einem System angehören, ihre Richtigkeit, wenn sie dieselbe wirklich hatten, verlieren, sobald sie, herausgerissen aus demselben, wie allgemeine Axiome gebraucht werden sollen oder wie kleine Wahrheitskristalle, die mehr Beweiskraft haben als die schlichte Rede." Clausewitz will also von den scholastischen Tüfteleien über historische Theorien nichts wissen, und wie treffend er diese Tüfteleien gekennzeichnet hat, wird sich gleich an Bernsteins Streitschrift zeigen.

Dagegen findet Clausewitz, dass historische Beispiele alles klarstellen, wobei er jedoch mit jener dialektischen Schärfe, die ihn auszeichnete und, wie Engels einmal sagt, zu einem „Stern ersten Ranges"2 auf dem Gebiet der historischen Wissenschaften machte, zwischen den historischen Beispielen unterscheidet. Er sondert sie in zwei Gattungen, von denen jede zwei Arten umfasst. Die erste Gattung dient dazu, einen Gedanken oder die Anwendung eines Gedankens zu erläutern; diese Beispiele haben mit dem historischen Beweise noch nichts zu tun, denn da sie bloß die Verständigung zwischen Autor und Leser erleichtern sollen, so ist ihre historische Wahrheit Nebensache, und erfundene Beispiele könnten demselben Zwecke dienen, mag auch die erläuternde Kraft historischer Beispiele stärker sein. Dagegen gehört die zweite Gattung historischer Beispiele zum historischen Beweise, indem entweder ein historisches Faktum angezogen wird, um dasjenige, was man gesagt hat, zu belegen, oder aber aus der umständlichen Darlegung eines historischen Ereignisses irgendeine Lehre gezogen wird, die also in diesem Zeugnis selbst ihren wahren Beweis findet.

Strenggenommen ist nach Clausewitz nur diese zweite Art der zweiten Gattung historischer Beispiele ein wirklicher Beweis. „Soll durch die Darstellung eines historischen Falles irgendeine allgemeine Wahrheit erwiesen werden, so muss dieser Fall in allem, was Bezug auf die Behauptung hat, genau und umständlich entwickelt, er muss gewissermaßen vor dem Auge des Lesers sorgfältig aufgebaut werden. Je weniger dies zu erreichen ist, um so schwächer wird der Beweis und um so mehr wird es nötig, was dem einzelnen Falle an Beweiskraft abgeht, durch die Menge der Fälle zu ersetzen, weil man nämlich mit Recht voraussetzt, dass die näheren Umstände, die anzugeben man nicht imstande gewesen ist, in einer gewissen Anzahl von Fällen ihren Wirkungen nach sich ausgeglichen haben werden." Clausewitz verwirft diese Art der historischen Beweisführung nicht unbedingt; er sagt, dass die fehlende Beweiskraft durch die Anzahl der Fälle ergänzt werden könne, wenn die umständliche Darlegung des Faktums nicht tunlich sei, aber er meint, es sei ein gefährlicher Ausweg, der häufig missbraucht werde. Man gewinne den Schein eines starken Beweises, wenn man statt eines sehr umständlich dargelegten Falles sich damit begnüge, drei oder vier bloß zu berühren. Jedoch „ein Ereignis, das nicht in allen seinen Teilen sorgfältig aufgebaut, sondern im Fluge berührt wird, ist wie ein aus zu großer Ferne gesehener Gegenstand, an dem man die Lage seiner Teile nicht mehr unterscheiden kann und der von allen Seiten ein gleiches Ansehen hat". Ferner hat das bloße Berühren von historischen Beispielen „noch den anderen Nachteil, dass ein Teil der Leser diese Ereignisse nicht hinreichend kennt oder im Gedächtnisse hat, um sich auch nur das dabei denken zu können, was sich der Autor dabei gedacht hat, so dass für sie nichts übrigbleibt, als sich imponieren zu lassen oder ohne alle Überzeugung zu bleiben". Und demgemäß resümiert sich Clausewitz also: „Es ist allerdings sehr schwer, geschichtliche Ereignisse so vor den Augen des Lesers aufzubauen oder sich zutragen zu lassen, wie es nötig ist, um sie als Beweise gebrauchen zu können; denn es fehlt den Schriftstellern meistens ebenso sehr an Mitteln als an Zeit und Raum dazu; wir behaupten aber, dass, wo es auf die Feststellung einer neuen oder einer zweifelhaften Meinung ankommt, ein einziges gründlich dargestelltes Ereignis belehrender ist als zehn bloß berührte. Das Hauptübel dieser oberflächlichen Berührung liegt nicht darin, dass der Schriftsteller sie mit dem falschen Anspruch gibt, durch sie etwas beweisen zu wollen, sondern dass er diese Ereignisse nie ordentlich kennengelernt hat und dass aus dieser oberflächlichen, leichtsinnigen Behandlung der Geschichte dann hundert falsche Ansichten und theoretische Projektenmachereien entstehen, die nie zum Vorscheine gekommen wären, wenn der Schriftsteller die Verpflichtung hätte, alles, was er Neues zu Markte bringt und aus der Geschichte beweisen will, aus dem genauen Zusammenhange der Dinge unzweifelhaft hervorgehen zu lassen." Soweit Clausewitz.

Ich habe seine Darlegungen etwas ausführlicher wiedergegeben, da es sich um ein Problem von allgemeinem Interesse handelt, das meines Wissens nirgends sonst so durchsichtig und klar entfaltet worden ist. Wie sehr Marx und Engels die gleiche Auffassung über die Beweislast ihrer Geschichtstheorie gehabt haben, geht zwar nicht aus ihren öffentlichen Worten, aber aus ihren öffentlichen Werken hervor. Sie haben durch „sorgfältigen Aufbau" historischer Perioden die Richtigkeit ihrer Auffassung zu erweisen gesucht, daneben auch, weil die „umständliche Darlegung" der ganzen Menschheitsgeschichte weit über die Kräfte zweier noch so genialer Männer ging, die Beweisführung durch eine Reihe von Beispielen nicht verschmäht, aber sich in der begrifflichen Auseinandersetzung ihrer Theorie auf das unerlässlichste Maß beschränkt. Es ist bezeichnend genug, dass Bernstein, um ihnen von dieser Seite beizukommen, hauptsächlich mit einigen Sätzen aus Vorreden operiert, worin Marx seine Leser vorläufig ganz im Allgemeinen zu orientieren gesucht, und mit einigen Sätzen aus Privatbriefen, worin Engels auf die Anfragen scholastischer Tüftler geantwortet hat.

Den Ausführungen, die Bernstein in seiner Streitschrift gegen den historischen Materialismus macht, sitzt nun wie angegossen, was Clausewitz über die scholastische Beweisführung sagt. Bernstein macht ein paar Worte aus dem „Hofstaat von Terminologien, Kunstausdrücken und Metaphern" mobil, „den die Systeme mit sich schleppen", und legt sie „wie ein Lineal an, um zu zeigen, wie fehlerhaft der Gang des Feldherrn" oder in diesem Falle des wissenschaftlichen Forschers gewesen sei. In erster Reihe die Worte Materialismus und Determinismus. Bisher galt es unter den Marxisten, und Marxist will Bernstein ja trotz alledem sein, als ein Hauptvorzug des historischen Materialismus, den ideologischen Ismen, eben durch das Zurückgehen auf ihre ökonomischen Wurzeln, einen greif- und unterscheidbaren Inhalt zu geben. Diesen Fortschritt gibt Bernstein nicht nur preis, sondern will mit der alten Verschwommenheit sogar die neue Klarheit überwinden. Er sagt: „Materialist sein heißt zunächst die Notwendigkeit alles Geschehens behaupten." Das ist, wenn man einen Augenblick auf diese Art Argumentation eingehen will, nicht einmal in Bernsteins Sinne richtig. „Zunächst", mag man das Wort nun ursächlich oder zeitlich nehmen, ist der Materialismus nicht Determinismus, sondern Monismus; der antike Materialismus richtete sich durchaus und der moderne zum großen Teile gegen den religiösen Dualismus; nicht um die Notwendigkeit alles Geschehens ging der Streit, sondern darum, ob diese Notwendigkeit aus der absoluten Zweckbestimmung eines Gottes oder aus der absoluten Kausalität der bewegten Materie herzuleiten sei, wie denn auch Bernstein selbst ein paar Zeilen darauf den Materialisten einen „Calvinisten ohne Gott" nennt. Dies Apercu hat ihm die Bewunderung der bürgerlichen Presse eingetragen, aber wenn es sonst etwas bedeuten soll, so kann es doch nur bedeuten, dass nicht im Determinismus, sondern im Monismus der Schwerpunkt des Materialismus liegt. Im Übrigen ist, auch wenn man von der Religion absieht, der Determinismus kaum jemals ein entscheidender Streitpunkt zwischen idealistischer und materialistischer Philosophie gewesen. Voltaire war ein ebenso entschiedener Determinist, wie er ein entschiedener Gegner des Materialismus war. Schopenhauer wusste nicht genug über die Barbiergesellen und Pillendreher von Materialisten zu räsonnieren, und er brach sogar mit seinem Lieblingsapostel Frauenstädt, als dieser eine leise Hinneigung zum Materialismus verriet, dabei war er aber Determinist genug, um die „strenge Notwendigkeit alles Geschehenden durch die nicht mehr zweifelhafte Tatsache" zu beweisen, dass „magnetische Somnambule, dass mit dem zweiten Gesicht begabte Menschen, ja dass bisweilen die Träume des gewöhnlichen Schlafes das Zukünftige geradezu und genau vorher verkündigen". Auf der anderen Seite werden die schroffsten Materialisten, sobald sie auf das Gebiet des „Geschehens in der Menschenwelt" geraten, oft genug die verwegensten Indeterministen, wofür es genügen mag, auf den Götzenkultus hinzuweisen, den Büchner mit dem alten Fritz und Haeckel mit Bismarck treibt.

Doch wäre es zwecklose Zeitverschwendung, über Materialismus und Determinismus in der von Bernstein beliebten Allgemeinheit zu diskutieren; diese Ismen sind, um abermals mit Clausewitz zu sprechen, ein loses Gesindel, wie der Tross eines Heeres, der, von seinem Prinzipal (nämlich der historischen Entwicklung) loslassend, sich überall umher treibt. Den Übergang zu Marx und Engels findet Bernstein nun so, dass er sagt: Diese beiden Denker sind Materialisten und deshalb auch Deterministen gewesen; die Übertragung des Materialismus in die Geschichtserklärung behauptet von vornherein die Notwendigkeit aller geschichtlichen Vorgänge und Entwicklungen. Indem aber Marx die jeweiligen materiellen Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse der Menschen als den bestimmenden Faktor der Geschichte bezeichnete, erläuterte er diese Theorie so, dass die Folgerung nahe lag, die Menschen würden lediglich als lebendige Agenten geschichtlicher Mächte betrachtet, deren Werk sie geradezu wider Wissen und Willen ausführen. Diese absolutistische Deutung ist aber später durch Einschaltung ideologischer Potenzen „ausgebildet", „erweitert", „gereift" worden, namentlich von Engels in einigen Privatbriefen aus seinen letzten Lebensjahren, und jeder Anhänger der marxistischen Geschichtstheorie ist „verpflichtet", sie in dieser „reifen Form" anzuwenden. Bernstein schließt dann das Kapitel über den historischen Materialismus mit der Versicherung, der naturwissenschaftliche Materialismus sei deterministisch, aber nicht die materialistische Geschichtsauffassung, denn sie messe der ökonomischen Grundlage des Völkerlebens keinen bedingungslos bestimmenden Einfluss auf dessen Gestaltungen zu.

Eben hat uns Bernstein belehrt, dass Materialismus „zunächst" Determinismus sei; nun soll der historische Materialismus aber gerade nicht Determinismus sein. Vielleicht wendet Bernstein ein, er mache weiterhin darauf aufmerksam, dass Name und Sache sich nicht völlig decken; in der Tat will er die materialistische Geschichtsauffassung in ökonomische Geschichtsauffassung umtaufen, auf die Autorität desselben Herrn Paul Barth hin, von dem Engels meinte, dass, verglichen mit diesem jungen Leipziger Dozenten, sogar noch der alte Leipziger Professor Wachsmuth, der Zensor der „Deutschen Jahrbücher", in der Glorie eines großen Historikers strahle.3 Schade nur, dass die marxistische Geschichtstheorie durch das Taufwasser des Herrn Paul Barth vom Materialismus sowenig gereinigt wird wie durch die bloße Versicherung Bernsteins vom Determinismus! Wie kommt Bernstein zu der willkürlichen Behauptung, nur diejenigen Historiker behaupteten die Notwendigkeit alles historischen Geschehens, die der ökonomischen Grundlage des Völkerlebens einen bedingungslos bestimmenden Einfluss auf dessen Gestaltungen beimäßen? Unzählige ideologische Historiker haben jene Notwendigkeit behauptet; so, um den ersten besten herauszugreifen, der preußische Historiker Treitschke, der in seiner Polemik gegen Schmoller gar nicht so uneben, wenn auch etwas pomphaft überladen sagt, der Gedanke einer weltbauenden Vernunft beherrsche die gesamte Gedankenarbeit des deutschen Idealismus, seit Leibnizens prästabilierter Harmonie bis auf Lessings Erziehung des Menschengeschlechts und wieder bis auf Hegels „Philosophie der Geschichte".

Doch um der Diskussion nicht eine ungebührliche und obendrein unfruchtbare Ausdehnung zu geben, müssen wir das „lose Gesindel" der allgemeinen Ismen verabschieden und das tun, was Bernstein „zunächst" hätte tun müssen, wenn er mit dem Materialismus und Determinismus von Marx und Engels anbinden wollte. Stellen wir fest, welchen besonderen Sinn diese allgemeinen Worte im Munde dieser beiden Denker haben! Ihre materialistische Geschichtstheorie ist eine Methode wissenschaftlicher Forschung, welche die Notwendigkeit alles historischen Geschehens aus der Tatsache zu begreifen sucht, dass die Produktion und Reproduktion des unmittelbaren Lebens den Menschen erst zum Menschen macht; ihr Determinismus, der nicht aus dem englischen oder französischen Materialismus, sondern gerade aus dem deutschen Idealismus stammt, erklärt die Unabhängigkeit des menschlichen Willens von den Naturgesetzen für einen Traum und sieht die menschliche Freiheit nur darin, dass der Mensch diese Gesetze erkennen und dadurch beherrschen lernt, wodurch die Freiheit zu einem Produkt der geschichtlichen Entwicklung wird. Wie sich dieser Materialismus und Determinismus zu allem sonstigen Materialismus und Determinismus verhält, das lässt sich nur durch eine „umständliche Darlegung" erläutern, die einerseits zwar erweisen würde, dass Marx und Engels als wissenschaftliche Denker nicht fertig auf die Welt gekommen sind, sondern sich als solche erst entwickelt haben, aber andererseits auch, dass sie nie daran gedacht haben, ihre einmal gewonnene Geschichtstheorie in Bernsteins Sinne zu „erweitern" und zu „reifen" oder, deutlich gesprochen, in die alte Konfusion rückwärts zu revidieren.

Bernstein wirft zwei Dinge durcheinander, die schlechterdings auseinandergehalten werden müssen, wenn überhaupt wissenschaftlich diskutiert werden soll. Er hat sich leider nicht warnen lassen durch den Satz, den Engels einmal gegen Dühring äußert: Man widerlegt die Resultate nicht im Einzelnen, wenn man die Methode im Allgemeinen herunterreißt.4 Mag er den Resultaten, zu denen Marx und Engels gelangt sind, so skeptisch gegenüberstehen, wie er will, und mag er sie so gründlich berichtigen, wie er kann, so ist er deshalb kein schlechterer, sondern, nach dem von ihm mit so großem Behagen ausgehängten Gemeinplatze, vielmehr ein besserer Marxist als diejenigen, die nur auf die Worte von Marx schwören. Oder aber wenn Bernstein die Methode von Marx und Engels für falsch hält, so ist auch das sein unveräußerliches Menschenrecht, obgleich er sich dann konsequenterweise nicht mehr einen Marxisten nennen darf. Was aber schlechthin zurückgewiesen werden muss, das ist Bernsteins Anspruch, sich dadurch als wahren Jünger von Marx und Engels zu betätigen, dass er zu zerstören sucht, was diese Männer zu bahnbrechenden Denkern gemacht hat, nämlich ihre wissenschaftliche Methode. Kann Bernstein von irgendeiner Geschichtsperiode nachweisen, dass in ihr nicht die ökonomische Produktionsweise der im letzten Grunde bewegende Hebel der historischen Entwicklung gewesen sei, so ist der historische Materialismus keine wissenschaftliche Methode mehr, sondern eine haltlose Hypothese, die in den Papierkorb gehört; darüber hilft alles Gerede vom Ausbilden und Erweitern und Reifen nicht hinweg. Es ist so, als ob ein Naturforscher das Gesetz der Schwere dadurch ausbilden, erweitern und reifen wollte, dass er behauptete, bald wirke es und bald wirke es auch nicht.

Ganz anders steht es natürlich um die Frage, ob das Gesetz der Schwere in seinen Wirkungen durch andere Naturgesetze beeinflusst werde. So auch hat die historisch-materialistische Methode nie das Bewegungsgesetz der menschheitlichen Geschichte in einer uneingeschränkten und unmittelbaren Wirkung der ökonomischen Triebkräfte erblickt; sie hat auch „ursprünglich" nie daran gedacht, „dem technisch-ökonomischen Faktor ein fast unbeschränktes Bestimmungsrecht in der Geschichte zuzuschreiben", wie Bernstein behauptet. Ihm selbst scheint bei dieser, wieder ganz willkürlichen, Annahme etwas bange zu werden, denn auf einer anderen Seite sagt er gerade umgekehrt, unzählige Stellen in den ersten Schriften von Marx und Engels sprächen von dem Einflusse nichtökonomischer Faktoren auf den Gang der Geschichte. Indessen der historische Materialismus soll sich nun einmal in ideologischem Sinn ausgebildet, erweitert und gereift haben, und so führt Bernstein seinen Beweis dadurch, dass er aus einigen heraus geklaubten Sätzen, die Marx in einer Vorrede von 1859, und anderen heraus geklaubten Sätzen, die Engels in Privatbriefen von 1890 und 1894 geschrieben hat, Widersprüche herauszutüfteln sucht, die eine ideologische Ausbildung, Erweiterung und Reifung beweisen sollen. Wie wenig diese Widersprüche selbst nur dem Wortlaute nach bestehen, hat Kautsky schon im einzelnen nachgewiesen, und ich will mich auch nicht lange bei der, gelinde gesagt, wunderlichen Vorstellung aufhalten, dass ein Forscher wie Engels einen schweren Fehler, den er am Ende seines Lebens in seiner Lebensrechnung entdeckt hat, nur in einigen Privatbriefen offenbart haben soll, von denen er nicht wusste und nicht wissen konnte, ob sie je in die Öffentlichkeit gelangen würden. Nur soviel möchte ich bemerken, dass Bernstein, wenn er einmal in dieser Weise operieren wollte, mindestens alle schon gedruckten Privatbriefe hätte berücksichtigen sollen, die Engels in den neunziger Jahren über die historisch-materialistische Methode geschrieben hat. So beispielsweise auch den in den Anmerkungen zu meiner Parteigeschichte abgedruckten Brief vom 14. Juli 1893, worin Engels nicht nur nicht einräumt, dass „wir", dass Marx und er den ideologischen Potenzen jede historische Wirksamkeit abgesprochen hätten, weil sie ihnen die selbständige historische Entwicklung absprächen, sondern sehr im Gegenteile diese Annahme als eine „blödsinnige Vorstellung der Ideologen" zurückweist.

In allen diesen Briefen vertritt Engels den historischen Materialismus mit all der schroffen Ungemütlichkeit, die er und Marx ihm in den vierziger und fünfziger Jahren gegeben hatten; was er sonst darin sagt, ist nur dies: über der tatsächlichen Frage, dass sich alle ideologischen Vorstellungen aus der jeweiligen ökonomischen Grundlage ableiten, worauf sich die menschliche Gesellschaft entwickelt, darf man nicht die formelle Frage vernachlässigen, wie sich diese Ableitung vollzieht, und indem Engels jüngere Kräfte darauf hinweist, fügt er in seiner großartig unbefangenen Weise hinzu, darin hätten er und Marx es auch manchmal versehen.5 Das ist alles, und es ist gewiss etwas himmelweit anderes, wenn Engels sagt: Die historisch-materialistische Methode ist eine scharfe und wuchtige Waffe, aber deshalb muss sie mit umso größerer Besonnenheit und Umsicht gehandhabt werden, als wenn Bernstein sagt: Brechen wir diese Waffe mitten entzwei, und sie wird an Unversehrtheit nichts verloren, aber an Schärfe vieles gewonnen haben.

Würde Bernstein aus dem, was Engels in jenen Briefen sagt, nur die Schlussfolgerung ziehen, eine kritische Revision der von Engels und Marx gewonnenen Resultate sei sehr ratsam, so wäre das wohl zu erwägen. Ich stimme ihm darin zu, dass gerade in einer revolutionären Partei die Tradition eine starke Macht ist, der am Barte zu zupfen nicht so vergnüglich sein mag wie Kirschenessen, aber gerade deshalb um so verdienstlicher sein kann. Nur hätte Bernstein, wenn er weiter nichts gewollt hätte, nicht gar so herablassend über den „Cant" von uns anderen „Epigonen" sprechen sollen; das schmeckt ein wenig nach Pharisäertum, und jedes Pharisäertum hat nun einmal den Verdacht gegen sich, vor anderer Leute Türen so eifrig zu kehren, weil es vor der eigenen Tür am meisten zu kehren hätte. Bernsteins Satz, dass „gerade in der sozialistischen Geschichtsschreibung, soweit die neuere Zeit in Betracht kommt, die Überlieferung (von Marx und Engels) eine so große Rolle" spiele, soll wohl ein Kompliment an meine Parteigeschichte sein, aber Kompliment gegen Kompliment: ich kenne keine historische Arbeit der marxistischen Schule, worin, unbeschadet ihrer sonstigen Verdienste, alle „Schattenseiten des Epigonentums" so krass hervortreten wie in Bernsteins biographisch-kritischer Einleitung zu Lassalles Reden und Schriften. Bernstein klammert sich hier ängstlich an die Resultate, die Marx und Engels über Lassalle gewonnen hatten, ohne diese Resultate an der Methode von Marx und Engels zu prüfen, und kommt dadurch zu sehr unzutreffenden Urteilen über Lassalle, während ich die Resultate der Meister erst an ihrer Methode geprüft habe, wodurch mein Kapitel über Lassalle und den Lassalleanismus mit der „Überlieferung" von Marx und Engels in einen, wie ich fürchte, ziemlich schroffen Widerspruch geraten ist. Gleichwohl glaube ich mehr im Geiste von Marx und Engels gearbeitet zu haben als Bernstein, der sich früher eng an die Resultate von Marx und Engels anschloss und nun, da sie ihm zweifelhaft geworden sind, gleich die Methode mit über Bord werfen will. Jedoch im Punkte der „Überlieferung" hat jeder Schüler von Marx und Engels sein Päckchen zu tragen, der eine dies und der andere jenes, und soweit es darauf ankommt, die Resultate der beiden Denker kritisch zu revidieren, ließe sich wohl eine Verständigung erzielen, vorausgesetzt, dass wir alle uns des guten Wortes getrösteten: Nur muss der Knorr den Knubben hübsch vertragen.

Dagegen ist keine Verständigung möglich über die Angriffe, die Bernstein gegen die historisch-materialistische Methode richtet. Er will sie zur Schablone machen, gewiss nicht in einem einschränkenden und verengernden, sondern in einem ausbildenden und erweiternden, also in einem genau entgegen gesetzten, aber trotzdem genauso verkehrten Sinne. Eine historische Theorie kann nur der Leitfaden der Untersuchung, aber nie die Untersuchung selbst sein; sie kann ein Gesetz aufstellen, das unter allen Umständen wirkt, aber sie kann, bei dem ewigen Wechsel und der unendlichen Kompliziertheit der historischen Entwicklung, nicht alle Umstände erschöpfen, unter denen es wirkt. Albert Langes ungleich bescheideneren Versuch, eine Werttheorie zu finden, welche die extremsten Fälle der Wertverschiebung als Spezialfall der gleichen Formel erscheinen lassen sollte, die auch den gewöhnlichen Verkehrswert darstelle, kritisierte Bernstein vor einigen Jahren in diesen Blättern ebenso erschöpfend wie treffend mit dem einfachen Satze, bei dieser Theorie würde man den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen; und noch treffender verteidigte Lassalle seine historische Rechtstheorie gegen den von Rodbertus erhobenen Einwand, dass sie gar keinen Anhalt darüber gebe, wie sie sich im gegebenen Falle verwirkliche, indem er sagte, das sei auch durchaus nicht die Aufgabe einer Theorie, die ja sonst ein reines Vademecum für die ganze Weltgeschichte werden müsste. In der Tat, zu einem reinen Vademecum für die ganze Weltgeschichte möchte Bernstein die historisch-materialistische Methode machen, und indem er ihr zumutet, Unmögliches zu leisten, vernichtet er, was sie leisten kann und schon in so großartiger Weise geleistet hat. Er führt den Marxismus nicht vorwärts, sondern rückwärts auf die Stufe, worauf vor einem Menschenalter an sich ja sehr respektable Denker, wie Lange und Rodbertus, standen.

Überflüssig zu sagen, dass Bernstein in gutem Glauben handelt, und ich hebe diese Tatsache nur hervor, um aus ihr zu folgern, dass, wenn seine Irrtümer nicht eben lehrreich sind, so doch ihre Quelle lehrreich sein kann. Zu dieser Quelle leitet eine Bemerkung, die Engels in dem schon angezogenen Briefe vom 14. Juli 1893 macht. Indem er die ideologische Vorstellung, als bestritte der historische Materialismus die historische Wirkung ideologischer Potenzen, weil er ihre selbständige historische Entwicklung bestreitet, in der erwähnten, so wenig schmeichelhaften Weise kennzeichnet, fügt Engels hinzu: „Es liegt hier die ordinäre undialektische Vorstellung von Ursache und Wirkung als starr einander entgegen gesetzten Polen zugrunde, die absolute Vergessung der Wechselwirkung."6 Prüfen wir also, wie es um Bernsteins historische Dialektik steht!

II

In seinem Kapitel über die historische Dialektik stellt sich Bernstein zu Marx und Engels etwa so, wie sich die Berliner Aufklärer des vorigen Jahrhunderts zu dem Dialektiker Lessing stellten. Sie liebten ihn in ihrer Weise sehr und verehrten ihn als ihren Meister, aber sie kamen nie über die „Bedenken" und „Zweifel" fort, ob der Teufelskerl denn so recht bei Troste sei.

Es ist zunächst unbegreiflich, wie Bernstein in den Schriften von Marx und Engels „die große wissenschaftliche Gefahr der Hegelschen Widerspruchslogik" entdecken will. Diese „Gefahr", die mystifizierende Seite der „Hegelschen Widerspruchslosigkeit", haben Marx und Engels schon zu einer Zeit aufgedeckt, wo die Hegelei noch allgemeine Tagesmode war. Sieht man selbst von dem philosophisch geschulteren Marx ab, so schreibt Engels bereits in dem allerersten Aufsatz, den er veröffentlicht hat, sein ein und alles sei die Geschichte, die für Hegel doch nur eine Probe auf ein logisches Rechenexempel gewesen sei. Hegel konstruierte die Geschichte nach seinen dialektischen Denkgesetzen, während Marx und Engels in dem wirklichen Verlauf der Geschichte den dialektischen Zusammenhang fanden. Sie stellten, wie sie es selbst ausdrückten, die Hegelsche Dialektik vom Kopfe auf die Füße.

Nun meint Bernstein, das sei „keine so einfache Sache" gewesen. Er behauptet, Marx und Engels hätten sich doch wieder in den „Schlingen der Selbstentwicklung des Begriffs" verfangen. Dass die paar Beispiele, die er dafür anführt, wie die Faust aufs Auge passen, hat Kautsky schon nachgewiesen; hier nur noch ein Wort über die unglaubliche Annahme Bernsteins, Marx habe durch Analogiesätze, wie „Negation der Negation", historische Entwicklungen beweisen wollen. Es war schon arg genug, dass Dühring vor bald dreißig Jahren damit gegen Marx ins Feld rückte, aber dass Bernstein sich zwanzig Jahre nach der treffenden Abfertigung Dührings durch Engels auf demselben fahlen Pferde ertappen lässt, das verstehe, wer kann! Man braucht doch nur mit einem bescheidenen Maße von Unbefangenheit das „Kapital" zu lesen, um sofort zu erkennen, dass Marx an den paar Stellen, wo er nach den eingehendsten und weitläufigsten Auseinandersetzungen historischer Zusammenhänge noch auf einen Hegelschen „Analogiesatz" verweist, nicht beweisende, sondern erläuternde Beispiele geben will. Zu allem Überfluss setzt Marx im Nachwort zur zweiten Auflage seines Werkes sein Verhältnis zu Hegel ausdrücklich auseinander; er sagt, dass zur Zeit, als er an der ersten Auflage gearbeitet habe, Hegel von einem verdrießlichen, anmaßlichen und mittelmäßigen Epigonentum als „toter Hund" behandelt worden sei; deshalb habe er sich offen als Schüler jenes großen Denkers bekannt und hier und da mit der ihm eigentümlichen Ausdrucksweise „kokettiert". Vielleicht sagt man: ja, weshalb „kokettierte" Marx auch und rief dadurch unliebsame Missverständnisse hervor? Allein, ist Marx wirklich so sehr zu tadeln, weil er bei seinen Lesern eine Auffassungs- und Unterscheidungskraft voraussetzte, wie sie jeder beliebige preußische Leutnant besitzt? Clausewitz, dessen Werke auf jeder preußischen Kriegsschule durchgeackert werden, führt einmal aus, dass mehrere kleinere Niederlagen, selbst wenn sie quantitativ ebenso große Verluste herbeiführen wie eine große Niederlage, dennoch leichter als diese zu überwinden seien, und schließt seine Auseinandersetzung mit den Worten: „Ein großes Feuer erreicht einen ganz anderen Grad der Hitze als mehrere kleine." Bisher ist aber noch kein preußischer Leutnant auf das kuriose Missverständnis verfallen, Clausewitz habe mit diesem „Analogiesatz" etwas beweisen und nicht vielmehr nur etwas erläutern wollen.

Aus der „Zweideutigkeit", die Marx und Engels von der Hegelschen Dialektik überkommen haben sollen, zieht Bernstein den Schluss: „Deren (nämlich der Hegelschen Dialektik) ,ja, nein und nein, ja' statt des ,ja, ja und nein, nein', ihr Ineinanderfließen der Gegensätze und Umschlagen von Quantität in Qualität, und was der dialektischen Schönheiten noch mehr sind, stellt sich immer wieder der vollen Rechenschaftsablegung über die Tragweite erkannter Veränderungen hindernd entgegen." Schon die Form, die „volle Rechenschaftsablegung über die Tragweite erkannter Veränderungen", ist echt mittelparteiliche Phraseologie, und nun gar der Gedanke! War es für Marx und Engels „nicht so ganz einfach", die Dialektik Hegels „auf die Füße zu stellen", so ist es glücklicherweise für Bernstein ganz unmöglich, die Dialektik der Marx und Engels wieder „auf den Kopf zu stellen". Bernstein soll doch einmal probieren, ohne die „dialektischen Schönheiten", die er dem Unwillen seiner Leser denunziert, Geschichte zu schreiben oder gar Geschichte zu machen; er wird dann sein blaues Wunder erleben.

Wenn das dialektische Denken in unserem Jahrhundert so große Fortschritte gemacht und eine Wissenschaft nach der anderen erobert hat, so aus dem Grunde, weil in unserem Jahrhundert die historische Entwicklung ein überaus stürmisches Tempo angenommen hat und somit gewissermaßen mit Händen greifbar wurde, dass sie in einem beständigen Flusse, in einem unaufhörlichen Entstehen und Vergehen, in einem ewigen Ineinanderfließen von Ursachen und Wirkungen, in niemals abreißenden Übergängen und Umwälzungen besteht. Man kann diese Periode in England von den Anfängen der großen Industrie, in Frankreich von dem Ausbruch der großen Revolution datieren. Deutschland stagnierte einstweilen noch in dem alten feudalen Sumpfe, und nur den hellsten Köpfen seiner bürgerlichen Klasse war beschieden, nicht zwar dialektisch zu handeln, aber doch dialektisch zu denken. Diese disciplina mentis, diese Ringschule, worin sich die Geister zugleich geschmeidig und kräftig entwickelten, hat später die Marx und Engels befähigt, den dialektischen Zusammenhang der englischen Industrie und der Französischen Revolution um so schärfer und tiefer zu erfassen. Nicht jedoch darf man sagen, dass Deutschland ohne die deutsche Philosophie vor dem Unheil der Dialektik bewahrt geblieben wäre. Das hieße einer ideologischen Sphäre eine selbständige Wirksamkeit zuschreiben, die sie nicht gehabt hat und nicht haben konnte. Es ist immer ein übles Ding, in historischen Dingen mit Wenn und Aber zu operieren: setzen wir aber einmal den Fall, es hätte von Leibniz bis Hegel keine deutsche Philosophie gegeben, so kann man alle möglichen Betrachtungen darüber anstellen, wie sich die deutsche Geschichte sonst entwickelt haben würde, nur dies eine lässt sich mit absoluter Bestimmtheit sagen, dass Deutschland auch dann nicht um die historische Dialektik herumgekommen wäre. Es sei gestattet, dafür ein Beispiel anzuführen, nicht in erläuterndem, sondern in beweisendem Sinne, ein Beispiel, das nach den verschiedensten Seiten hin sehr beweiskräftig ist, nicht zum wenigsten deshalb, weil der Zeuge, der aufgerufen werden soll, durchaus kein philosophischer Denker, wohl aber der Todfeind der modernen Arbeiterbewegung, mit einem Worte der preußische Militär- und Junkerstaat ist.

Die Illusion dieses holden Gemeinwesens, als sei es, wenn auch nicht von Ewigkeit, so doch für die Ewigkeit da, wurde zum ersten Male unliebsam gestört durch die Schlacht von Jena. Sein – im Hegelschen Sinne des Wortes – metaphysisches Dasein stieß in dieser Schlacht zum ersten Male mit der dialektischen Wirklichkeit zusammen und zertrümmerte dabei in tausend Scherben. Beiläufig berührten sich in oder nach dieser Schlacht auch die dialektische Theorie und die dialektische Praxis handgreiflich, als französische Soldaten dem armen Hegel, der ein Manuskript zu seinem Verleger trug, in ihrer Weise demonstrierten, dass alles Wirkliche schlechthin vernünftig sei. Preußen wurde durch die Schlacht bei Jena in ganz anderer Weise zerschmettert als im Jahre vorher Österreich und Russland durch die Schlacht bei Austerlitz, denn diese Staaten besaßen immer noch genug materielle Hilfsquellen, um europäische Mächte zu bleiben. Dagegen war der preußische Staat einfach fertig, und es blieb ihm nur übrig, den Geist anzurufen in der Not, die Dialektik der modernen Strategie und Taktik zu studieren. Es ist eine bekannte und heute auch ganz unbestrittene Tatsache, dass in den widernapoleonischen Kriegen von 1813 bis 1815 unter den verbündeten Heeren nur das preußische auf der Höhe der napoleonischen Kriegführung stand. Am klarsten tritt das Verhältnis in dem belgischen Feldzuge von 1815 hervor, wo das englische und das preußische Heer gemeinsam kämpften, das englische nach der friderizianischen, das preußische nach der napoleonischen Strategie und Taktik. Was in dem viertägigen Feldzuge den Verbündeten misslang, war wesentlich dem englischen, und was ihnen gelang, wesentlich dem preußischen Heere geschuldet.

Hierbei zeigt sich auch gleich, dass es eine rein schablonenhafte Auffassung ist, dem entwickelteren Staate oder der entwickelteren Klasse ohne weiteres auch die entwickeltere Kriegführung zuzuschreiben. Unbesehen die Strategie und Taktik der englischen Arbeiterklasse als Muster für die deutsche Arbeiterklasse hinzustellen ist ein großer Trugschluss; es kommt zunächst alles auf die besonderen historischen Umstände an. England war in der widernapoleonischen Koalition der entwickeltste und mächtigste Staat; eben deshalb war es nicht gezwungen, gleich die radikalen Konsequenzen zu ziehen, die Preußen ziehen musste, dem das Messer viel dichter an der Kehle saß als irgendeiner anderen der verbündeten Mächte. So hat sich auch die englische Arbeiterklasse unter verhältnismäßig günstigeren Bedingungen entwickeln können als die deutsche, die von vornherein die Frage ihres Daseins in viel gründlicherer Weise stellen musste. Genau dies sah Marx voraus, als er in den „Deutsch-Französischen Jahrbüchern" ausführte, in Deutschland sei nicht mehr die bürgerliche, sondern nur noch die proletarische Revolution möglich, und es ist wieder völlig unbegreiflich, wie Bernstein daraus „direkt" den angeblichen „Blanquismus" von Marx und Engels ableiten, wie er aus diesen, ausdrücklich auf die deutschen Zustände beschränkten, Sätzen folgern kann, Marx und Engels hätten „in der Theorie das moderne Proletariat völlig idealisiert", was wieder durch die „Hegelsche Dialektik" verschuldet sein soll. In Wirklichkeit haben Marx und Engels bereits in der „Heiligen Familie" gegen die ihnen damals schon gemachte Unterstellung protestiert, als ob sie die modernen Proletarier für „Götter" hielten. Sie sagten: Gerade im Gegenteil! Weil das moderne Proletariat nicht vergöttlicht, sondern entmenscht wird, so wird es durch die absolut gebieterische Not gezwungen, sich selbst zu befreien7, und den „sinnfälligen" Beweis für die Richtigkeit ihrer Schlussfolgerung schöpften sie nicht aus der „Hegelschen Dialektik", sondern aus dem praktischen Studium der englischen und der französischen Arbeiterbewegung.

Die preußischen Generale nun aber, die über Napoleon siegten, hatten mit „Hegelscher Dialektik" in keiner Weise etwas zu tun; mit der einzigen Ausnahme Gneisenaus konnten sie nicht einmal ein grammatikalisch und orthographisch richtiges Deutsch schreiben, auch Clausewitz ist niemals über die richtige Anwendung des Dativs und Akkusativs völlig ins reine gekommen. In seinem berühmten Werke spricht er durchaus wegwerfend von allen „Systemen", und es gibt auch einen sehr wichtigen Punkt, wo ihm die Unkenntnis der Hegelschen Dialektik verhängnisvoll geworden ist. Er fasst die napoleonische Kriegführung, deren Theorie er schreibt, als die allein und unter allen Umständen richtige auf; er versteht ihre historische Bedingtheit nicht und würde durch diese theoretische Voreingenommenheit zu ganz hinfälligen Urteilen über die friderizianische Kriegführung gekommen sein, wenn ihn sein historischer Instinkt und sein praktischer Blick im einzelnen Falle nicht doch immer wieder hätten erkennen lassen, weshalb im vorigen Jahrhundert ein anderer Krieg geführt wurde als in unserem Jahrhundert. In diesem Punkte ist ihm Engels, auf dessen kriegswissenschaftliche Ansichten Clausewitz sonst großen Einfluss gehabt hat, weit überlegen. Umso mehr aber ist Clausewitz vor dem Verdachte geschützt, den dialektischen Zusammenhang, den er in der modernen Kriegführung entdeckt, von außen hineingetragen zu haben. Er selbst wird nicht müde zu betonen, dass es sich im Kriege um sehr einfache Dinge handle, und ein bürgerlicher Historiker hat mit Recht gesagt, sein Verdienst bestände nicht darin, diesen oder jenen neuen Satz gefunden, sondern den dialektischen Zusammenhang der modernen Kriegführung festgestellt zu haben.

In der Tat wird man bei Clausewitz kein Kapitel finden, worin er nicht mit den, von Bernstein verabscheuten, „dialektischen Schönheiten" operiert und operieren muss, um sich „volle Rechenschaft" über die „Tragweite erkannter Veränderungen" abzulegen; er weist sehr häufig, und man möchte sagen unaufhörlich nach, dass es mit dem Ja, Ja und Nein, Nein eben nicht, sondern nur mit dem Ja und Nein, Nein und Ja getan ist, dass die Gegensätze beständig ineinanderfließen, dass die Quantität in die Qualität umschlägt, obgleich er, darin durchaus Bernsteins Wünschen entsprechend, den „wirklichen Sachverhalt" durch Hegelsche Schulausdrücke keineswegs „mehr verdunkelt als erhellt".

Wenn nun aber Clausewitz seine Theorie des Krieges durchaus dem „wirklichen Sachverhalt" des modernen Krieges abliest, so hat diese Theorie wieder in bedeutsamer Weise auf den „wirklichen Sachverhalt" zurückgewirkt. Als nach dem Kriege von 1866 ein deutscher Schulmeister auf den famosen Einfall geriet, der deutsche Schulmeister habe bei Königgrätz gesiegt, gab ein preußischer General der sonst sinnlosen Rederei den einzig möglichen Sinn mit den Worten: Jawohl, dieser Schulmeister heißt Clausewitz. Die Erfolge der deutschen Heere in den Jahren 1866, 1870 und 1871 sind gewiss nicht allein und auch nicht einmal im letzten Grunde, aber allerdings bis zu einem hohen Grade der Tatsache geschuldet, dass diesen Heeren die Theorie der modernen Kriegführung in Fleisch und Blut übergegangen war. Es würde hier viel zu weit führen, diese Tatsache durch näheres Eingehen auf die einzelnen Kriegsaktionen zu erhärten, was an anderer Stelle und von anderer Seite oft genug geschehen ist; soviel ist auf den ersten Blick klar, wie viel leichter und schneller das, was Clausewitz die „Friktion in der Maschine" nennt, der im Kriege nie ausbleibende, ja jeden Tag von neuem eingreifende Zufall überwunden werden kann, wenn die Führer eines Heeres sich vollkommen klar darüber sind, wie der Krieg geführt werden muss, wenn sie, unbeirrt durch alle störenden Zwischenfälle, nach einheitlichen Grundsätzen handeln. Das gilt aber von jedem politischen Kampfe, wie vom Kriege, der seinem Wesen nach, wie abermals Clausewitz nachgewiesen hat, auch nur ein politischer Kampf, die Fortsetzung der Politik mit gewaltsamen Mitteln ist. Diejenigen „Praktiker" in der Partei, die sich heute über die „Stubengelehrten" von „Theoretikern" lustig machen, die der heiteren Einbildung leben, die moderne Arbeiterklasse könne ohne theoretische Klarheit ihren weltgeschichtlichen Kampf jemals zu siegreichem Ende führen, dürfen sich ruhig in dem Ruhmesglanze sonnen, dass so verwünscht gescheit wie sie nicht einmal der preußische Militärstaat ist.

Allerdings scheint dieser Staat auch einmal, da ihm zu wohl ward, aufs Eis gegangen zu sein, ungefähr ebenso lange nach seinen großen Erfolgen von 1870 und 1871, wie Bernstein sein Pronunziamento nach den großen Erfolgen der Partei im Jahre 1890 erhebt. Untersucht man die Sache aber genauer, so fällt der Vergleich leider wieder durchaus zum Vorteil des preußischen Militärstaats aus. Vom Ende der siebziger Jahre bis ziemlich auf unsere Tage herab ist in der preußischen Militärliteratur eine hitzige und weitläufige Fehde darüber geführt worden, ob der alte Fritz nicht auch schon in napoleonischer Weise seine Kriege geführt habe. Diejenigen Gelehrten des preußischen Militärstaats, die zur höheren Ehre des Borussentums diese Frage bejahten, waren nun aber sehr weit davon entfernt, die historische Dialektik der modernen Kriegführung überhaupt anzugreifen; der Hauptvertreter dieser Ansicht, der Diplomat und Historiker v. Bernhardi, der im Jahre 1866 preußischer Militärbevollmächtigter beim italienischen Heere war, bewunderte in Clausewitz seinen Lehrer und behauptete in seinem zweibändigen Werke über Friedrich als Feldherrn nur, dass dieser preußische König, indem er sich kraft seines Genies über seine Zeit erhob, die moderne Kriegführung vorweggenommen habe. Es handelte sich also keineswegs um einen Angriff auf die historische Dialektik, sondern sozusagen um einen Schönheitsfehler der preußischen Legende.

Indessen wenn herrschende Klassen niemals auf den trostlosen Einfall geraten, das über den Haufen zu rennen, was sie groß gemacht hat, so sind sie um so empfindlicher gegen jeden falschen Vorstoß in dieser Richtung, und ihre praktische Wirklichkeit mögen sie nicht einmal durch das historische Gespenst einer ihnen sonst noch so teuren Legende beunruhigt wissen. Gegen Bernhardi und seine Genossen erhoben sich sofort andere preußische Historiker, und der preußische Militärstaat hat denn auch seinen Lohn dafür eingeerntet, dass er seine Theorie rein erhielt und sich in seine historische Dialektik nicht hineinreden ließ. Er hat jetzt den einzigen großen Fehler herausgerechnet, dem Clausewitz noch verfiel; er versteht jetzt, die historische Bedingtheit jeder Kriegführung zu würdigen, er weiß, dass für das vorige Jahrhundert ebenso nur die friderizianische Kriegführung taugte wie für dieses Jahrhundert nur die napoleonische Kriegführung, wobei denn auch der große Heilige der preußischen Legende verhältnismäßig noch am besten zu seinem Rechte gekommen ist.

Hauptgegner Bernhardis war Hans Delbrück, dessen wenig umfangreiche Abhandlung „Über die Verschiedenheit der Strategie Friedrichs und Napoleons" ein ganz kostbares Exemplar aller der Mängel ist, die Bernstein an dem historischen Materialismus so herbe tadelt. Aus dem Urgrunde der ökonomischen Umwälzungen leitet Delbrück die Umwälzung in der Kriegführung ab, und mit „dialektischen Schönheiten" operiert er, dass es nur so eine Art hat. Gleich im ersten Satze seiner Abhandlung lässt er die Quantität in die Qualität umschlagen; er beginnt: „Der erste Unterschied, der in die Augen fällt, wenn wir die Armee Napoleons mit derjenigen Friedrichs vergleichen, ist der Unterschied in der Zahl", und er entwickelt eingehend, wie dieser Unterschied in der Zahl auch einen ebenso großen Unterschied in der Art des Kriegführens bedeutet. Die Abhandlung Delbrücks erinnert vielfach an die Kapitel über die Gewalttheorie, die Engels in seiner ziemlich gleichzeitig geschriebenen Polemik gegen Dühring veröffentlicht hat, obgleich Delbrück ein entschiedener Gegner des historischen Materialismus ist. Er ist in keiner Weise abhängig von Engels, wenn er ziemlich den gleichen Gedankengang verfolgt, sondern er weiß eben nur richtig die historische Dialektik zu erkennen, die sich vom vorigen bis in dieses Jahrhundert in den ökonomischen und damit auch in den militärischen Umwälzungen bekundet hat.

Somit glaube ich, an einem in der verschiedensten Beziehung lehrreichen Beispiele nachgewiesen zu haben, dass, auch wenn es nie eine deutsche Philosophie gegeben hätte, dennoch ohne dialektisches Denken weder Geschichte gemacht noch Geschichte geschrieben werden könnte. Selbstverständlich ist damit aber nicht gesagt, dass die „Widerspruchslogik" Hegels historisch eine beiläufige Sache gewesen sei, ohne die es ebenso gut oder noch besser gegangen wäre, ohne die Marx und Engels weiter oder auch nur so weit gekommen wären, wie sie gekommen sind. Wären sie nicht in die Schule der deutschen Philosophie gegangen, so würden sie den dialektischen Zusammenhang der historischen Entwicklung nicht so scharf und tief haben erfassen können, um die epochemachende Bedeutung zu erlangen, die sie tatsächlich als historische Denker erlangt haben. Es ist eine bemerkenswerte Tatsache, dass in den vierziger Jahren diejenigen Theoretiker des französischen Proletariats, die aus ihm selbst hervorgegangen waren, Leroux und Proudhon, mit genialem Instinkt in der deutschen Philosophie den Schlüssel suchten, um die Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise zu erklären, aber dass sie ihn nicht fanden, weil sie nicht bis zu Hegels „Widerspruchslogik" vordrangen. Das dialektische Denken will eben auch gelernt sein, und wer die dialektischen Denkgesetze kennt, wird in die dialektischen Zusammenhänge der Wirklichkeit ganz anders eindringen, als wer sich an den harten Tatsachen so lange den Kopf zerstößt, bis er in mehr oder minder erschöpfender Weise dahinterkommt, wie sie denn eigentlich zusammenhängen.

Von bürgerlicher Seite hat man die Lebensarbeit von Marx und Engels oft zu schmälern gesucht durch den angeblichen oder auch wirklichen Nachweis, dass viele ihrer Sätze schon vor ihnen von anderen so ziemlich gleichlautend ausgesprochen worden seien. Es lässt sich auch nicht gut bestreiten, dass dieser Nachweis in einzelnen Fällen besser gelungen ist, als übereifrige Marxisten haben zugeben wollen. Allein nicht darauf kommt es an, denn unter Umständen kann der größte Dummkopf eine sehr richtige Ansicht aussprechen oder genauer: unter diesen Umständen kann eine große Dummheit sein, was unter anderen Umständen eine große Weisheit ist. Ein ergötzliches Beispiel dafür bringt Delbrück in seiner eben erwähnten Abhandlung bei, durch eine Briefstelle, worin der Gemahl der österreichischen Kaiserin Maria Theresia im Siebenjährigen Kriege eine Kriegführung nach dem späteren napoleonischen Muster empfiehlt und dabei das Prinzip dieser Kriegführung so klar und nett präzisiert, wie es Clausewitz sechzig Jahre später in einem dreibändigen Werke nur immer entfalten konnte: was zur Zeit der friderizianischen Kriege die größte Dummheit war, das war zur Zeit der napoleonischen Kriege die höchste Weisheit. Solche Beispiele lassen sich manche anführen, und man kann im Allgemeinen sagen, dass, wer durchaus nur neue Gedanken haben will, nach Goethes Wort eher ein „Narr auf eigene Hand" wird als sonst etwas. Nicht die Produktion funkelnagelneuer Gedanken macht die historische Bedeutung eines wissenschaftlichen Denkers aus, sondern die klare und konsequente Anwendung eines wissenschaftlichen Prinzips, und was Marx und Engels in dieser Beziehung geleistet haben, das haben sie allerdings in erster Reihe als Schüler der deutschen Philosophie geleistet.

Freilich stände es damit schlimm, wenn Bernsteins Satz: „Heute steht es so, dass man aus Marx und Engels alles beweisen kann", seine Richtigkeit hätte. Aber er hat seine Richtigkeit nur unter der kleinen Einschränkung, dass „man" nicht dialektisch denken kann. Wenn man nur in starren Gegensätzen denkt und den beständigen Wechsel von Ursache und Wirkung übersieht, so kann man allerdings „alles" aus Marx und Engels beweisen, wovon Bernstein selbst die merkwürdigsten Proben gibt. Man kommt dann auch leicht zu der Behauptung, dass Marx an einem „Dualismus" gelitten habe, dass dieser „große wissenschaftliche Geist doch schließlich Gefangener einer Doktrin gewesen" sei und ähnliche Versicherungen, die den zottigen Mannesbrüsten der bürgerlichen Politiker den freudigen Juchzer zu entreißen pflegen: das haben wir ja immer schon gesagt. Hat Marx wirklich sein „Kapital" nur geschrieben, um eine von vornherein feststehende These zu beweisen, die er wiederum, nicht aus seinen eigenen, sondern aus den Fingern der Hegelschen „Widerspruchslogik" gesogen hatte, so verfällt er unrettbar dem Orakelspruch Treitschkes: „Man mag am ‚Kapital' die große Belesenheit bewundern und den Talmudistenscharfsinn im Zerspalten und Zerfasern der Begriffe – das eine, was den Gelehrten macht, fehlt doch gänzlich: das wissenschaftliche Gewissen. Hier ist keine Spur von der Bescheidenheit des Forschers, der im Bewusstsein des Nichtwissens an seinen Stoff herantritt, um unbefangen zu lernen: was bewiesen werden soll, steht für Marx von Haus aus fest. Man vergleiche Wilhelm Roschers unendlich reichere Gelehrsamkeit und die behutsam sorgfältige Anwendung dieses Wissens mit dem brutalen Fanatismus, der in Marxens Buch einen ungeheuren Stoff zusammenträgt, um einen einzigen falschen Grundgedanken zu erhärten – und der ganze Abstand zwischen dem Gelehrten und dem Rabulisten tritt uns vor Augen." Es ist nun gewiss wahr: Bernstein drückt sich viel höflicher aus als Treitschke, er nennt nicht Marx und Engels selbst „Rabulisten", sondern nur diejenigen ihrer Schüler, die im Geiste von Marx und Engels arbeiten, er geht auch nicht auf Roscher zurück, sondern macht nur eine höfliche Verbeugung vor Schulze-Gävernitz und Julius Wolf, aber wenn schon, denn schon: ist das wahr, was sowohl Bernstein wie Treitschke behaupten, stand für Marx von Haus aus fest, was im „Kapital" bewiesen werden soll, trug er einen ungeheuren Stoff zusammen, um einen einzigen falschen Grundgedanken zu erhärten, so ist Treitschkes Grobheit wirklich mehr am Platze als Bernsteins Höflichkeit, die dann unter jedem Gesichtspunkt peinlich berühren muss.

Im umgekehrten Verhältnis zu der Schwere des erhobenen Vorwurfs steht das Gewicht seiner Begründung. Bernstein kann das Schlusskapitel im ersten Bande des „Kapital" nicht klein kriegen, das Kapitel über die geschichtliche Tendenz der kapitalistischen Akkumulation; er kann nicht begreifen, dass mit der Masse des Elends, des Drucks, der Knechtung, der Degradation, der Ausbeutung auch die Empörung der stets anschwellenden und durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst geschulten, vereinten und organisierten Arbeiterklasse wächst. Für ihn gilt nur ja, ja, und nein, nein; Elend und Aufschwung sind ihm starr entgegen gesetzte Pole; er übersieht völlig die Wechselwirkung. Nach seiner Meinung lässt jenes Kapitel eine zwiefache Auslegung zu. Entweder wolle es nur eine Tendenz andeuten, die durch die bewusste und planmäßige Aktion der Gesellschaft durchkreuzt werden könne, oder aber es wolle sagen, dass gegen die niederdrückenden Tendenzen des Kapitalismus auf dem Boden der kapitalistischen Gesellschaft nichts Wirksames auszurichten, sondern zur gründlichen Ausrottung jener Tendenzen eine „katastrophenmäßige Umwälzung" dieser Gesellschaft notwendig sei.

In diesem Entweder-Oder findet Bernstein jenen „Dualismus", der aus Marx einen „Gefangenen der Doktrin" und der Himmel weiß was sonst noch machen soll. Tatsächlich konstruiert Bernstein aber selbst diesen „Dualismus" in das „Kapital" im Allgemeinen sowie in das Kapitel über die geschichtliche Tendenz der kapitalistischen Akkumulation im Besonderen hinein, nicht aus bösem Willen, sondern weil er sich den dialektischen Zusammenhang der historischen Entwicklung nicht klarzumachen weiß, der im „Kapital" aufgezeigt wird. Sicherlich haben Marx und Engels die Meinung gehegt, dass die geschichtliche Tendenz der kapitalistischen Akkumulation durch die bewusste und planmäßige Aktion der Gesellschaft gekreuzt werden könne, denn sonst wären sie so etwas wie Manchesterleute gewesen. Und sicherlich waren sie auch der Ansicht, dass die bewusste und planmäßige Aktion der Gesellschaft in letzter Instanz nur von der Arbeiterklasse in Bewegung gesetzt und im letzten Ziele nur mit der „Enteignung der Enteigner" enden werde, denn sonst wären sie so etwas wie Kathedersozialisten gewesen. Also weder Manchesterleute noch Kathedersozialisten, sondern wissenschaftliche Kommunisten, aber wo bleibt dann der „Dualismus"? Der wirkliche Stein des Anstoßes, über den Bernstein stolpert, ist seine Unfähigkeit, sich den dialektischen Prozess klarzumachen, wodurch die kapitalistisch verelendete Arbeiterklasse gerade aus ihrer Verelendung sich wieder erheben und auf die Dauer den Kapitalismus überflügeln muss. Das ist nach seiner Meinung eine Hegelsche Einbildung, und je handgreiflicher dieser Prozess in die historische Erscheinung tritt, je höher sich die Arbeiterklasse durch ihren Klassenkampf, durch ihre Empörung gegen die niederdrückenden Tendenzen des Kapitalismus entwickelt, um so mehr sieht Bernstein den Beweis geführt, dass es sich auf dem Boden der kapitalistischen Gesellschaft nicht gar so arg leben lasse. Über das Wechseln von Ursache und Wirkung hilft er sich fort, indem er Ursache und Wirkung verwechselt.

Im Übrigen sind seine theoretischen Einwände gegen Marx und Engels so dürftig und fallen bei der ersten losen Berührung so ganz in sich selbst zusammen, dass man unwillkürlich zu der Annahme gedrängt wird, es sei ihm nicht sowohl um die Theorie, als um die Praxis zu tun. Bernstein selbst wird nicht annehmen, dass mit seinen paar flüchtig hingeworfenen „Bedenken" und „Zweifeln", die allesamt schon von bürgerlicher Seite erhoben und teilweise selbst besser begründet worden sind, das wissenschaftliche Lebenswerk von Marx und Engels auch nur von weitem erschüttert wird. Einigermaßen anders steht es mit seinen praktischen Ausführungen über Marxismus und Blanquismus, über Revolution und Reform und was sonst in dies Gebiet gehört. Nicht zwar als ob diese Kapitel irgendwie tiefer begründet wären als die theoretischen, aber sie fahren mit günstigerem Winde auf gewissen Stimmungen und Strömungen daher und mögen deshalb noch in einem Schlussartikel beleuchtet werden.

III

Nachdem Bernstein über die „Fallstricke der hegelianisch-dialektischen Methode" gehandelt hat, kommt er auf „Marxismus und Blanquismus" zu sprechen. Er findet, dass Marx und Engels immer noch im Blanquismus steckengeblieben seien, den er als die „Theorie von der unermesslichen schöpferischen Kraft der revolutionären politischen Gewalt und ihrer Äußerung, der revolutionären Expropriation", aufgefasst haben will, und nicht bloß, wie gemeiniglich geschehe, als die Doktrin von der Einleitung der Revolution durch eine kleine, zielbewusste, nach einem wohlüberlegten Plane handelnde Revolutionspartei.

Blanqui war, wie Engels einmal sagt, wesentlich politischer Revolutionär, Sozialist nur dem Gefühle nach, mit den Leiden des Volkes sympathisierend, aber ohne eine sozialistische Theorie, ohne bestimmte praktische Vorschläge sozialer Abhilfe. Insofern musste er an die unermessliche schöpferische Kraft der Revolution glauben, die er durch den Handstreich einer kleinen revolutionären Minderheit durchführen zu können glaubte. Marx dagegen schrieb schon im „Vorwärts" von 1844: „Die Revolution überhaupt – der Umsturz der bestehenden Gewalt und die Auflösung der alten Verhältnisse – ist ein politischer Akt. Ohne Revolution kann sich aber der Sozialismus nicht ausführen. Er bedarf dieses politischen Aktes, soweit er der Zerstörung und Auflösung bedarf. Wo aber seine organisierende Tätigkeit beginnt, wo sein Selbstzweck, seine Seele hervortritt, da schleudert der Sozialismus die politische Hülle weg."8 Blanqui sagt also: Die politische Revolution ist das einzige Mittel, die Ansprüche der arbeitenden Klassen zu befriedigen, Marx dagegen sagt: die politische Revolution ist zwar die unerlässliche Voraussetzung des Sozialismus, aber sie ist so wenig sein Selbstzweck, dass er die politische Hülle erst wegschleudern muss, ehe er seine organisierende Tätigkeit beginnen kann. Lassen wir zunächst die Richtigkeit dieser Ansicht dahingestellt sein, so ist jedenfalls schon in wenigen Sätzen der Unterschied zwischen Blanquismus und Marxismus völlig klargestellt. Trotzdem sieht Bernstein in der Stellung des Blanquismus zum Marxismus „mehr einen Kompromiss" oder auch den berühmten „Dualismus", woran Marx und Engels all ihr Lebtag gekrankt haben sollen.

Wenn nach Bernsteins eigener Definition der Blanquismus der Glaube an die schöpferische unermessliche Kraft der Revolution sein soll, so haben Marx und Engels an diesem Glauben nie gelitten. In einer Polemik gegen die Revolutionsverherrlichung des Blanquismus schrieb Engels, um auch ihn zu zitieren: „In jeder Revolution geschehen unvermeidlich eine Menge Dummheiten, grade wie zu jeder andern Zeit, und wenn man sich endlich wieder Ruhe genug gesammelt hat, um kritikfähig zu sein, so kommt man notwendig zum Schluss: Wir haben viel getan, was wir besser unterlassen hätten, und wir haben viel unterlassen, was wir besser getan hätten, und deswegen ging die Sache schief."9 Ein „wahrer Wunderglaube an die schöpferische Kraft der Gewalt" in der Tat! Jedoch in den oben angeführten Zeilen sagt Marx, ohne Revolution lasse sich der Sozialismus nicht ausführen, und unzweifelhaft versteht er unter Revolution an dieser Stelle den gewaltsamen Umsturz. Von hier fließen nun Bernsteins Tränen. Er unterhält uns über die Vorzüge der friedlichen und verfassungsmäßigen Gesetzgebung vor der Revolution mit einigen Sätzen, die an spießbürgerlichen Stammtischen mit heller Begeisterung begrüßt werden würden, wenn sie nicht auch hier schon zu langweiligen Gemeinplätzen geworden wären. Bürgerliche Denker, und speziell derjenige bürgerliche Denker, den uns Bernstein am Schlusse seiner Schrift als seinen Mann empfiehlt, nämlich Albert Lange, haben sich über die „positive sozialpolitische Arbeit" im Parlament ungleich skeptischer geäußert. Lange schrieb im Sommer 1866: „Bei uns wie in aller Welt hat man bis jetzt zweierlei Grundsätze festgehalten, je nachdem es gilt, eine Sache zurückzustoßen oder zu fördern. Ist es eine Sache der Aristokratie des Geldes oder des Geistes, so macht man den Grundsatz des Gemeinwohls geltend; ist es mehr eine Sache des Volkes, so verweist man auf das Wohltätige der Selbsthilfe." Es will uns scheinen, als ob die dreiunddreißig Jahre parlamentarischer Geschichte, die seitdem verflossen sind, diese Auffassung Langes durchaus bestätigt haben. Indessen Bernstein ist darüber anderer Ansicht. Das Deutsche Reich, worin König Stumm die mächtigste Person ist, stellt sich ihm dar als ein Gemeinwesen, wo das Recht der besitzenden Minderheit aufgehört hat, ein ernsthaftes Hindernis für den sozialen Fortschritt zu bilden, wo die negativen Aufgaben der politischen Aktion zurücktreten hinter die positiven, wo die Berufung auf die gewaltsame Revolution zur inhaltlosen Phrase wird. Darauf setzt Bernstein als Trumpf aus dem Monatsbericht der Unabhängigen Arbeiterpartei Englands, Januar 1899, noch den Satz: „Zum Glück hat der Revolutionarismus in diesem Lande aufgehört, mehr als eine affektierte Phrase zu sein." Und gegen diesen Satz ist gewiss auch nichts einzuwenden, vorausgesetzt, dass aus ihm nicht der Schluss gezogen werden soll, es werde zum Heile der deutschen Sozialdemokratie ausschlagen, wenn sie sich zur „affektierten Phrase" des Evolutionarismus zu bekehren beginne.

Nochmals breitzutreten, was Marx und Engels und übrigens auch Lassalle über die politische Revolution gedacht haben, ist etwas sehr langweilig. Indessen die Abwechslung ergötzt, und gegen den Marxisten Bernstein zu erläutern, was man sonst nur gegen Staatsanwälte und ähnliche Weltweise zu erläutern gezwungen ist, hat auch wieder einen gewissen Reiz. In der von Bernstein mit übersetzten Streitschrift, die Marx gegen Proudhon gerichtet hat, heißt es, die politische Gewalt sei der offizielle Ausdruck des Klassengegensatzes innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft. „Braucht man sich übrigens zu wundern, dass eine auf den Klassengegensatz begründete Gesellschaft auf den brutalen Widerspruch hinausläuft, auf den Zusammenstoß Mann gegen Mann, als letzte Lösung? Man sage nicht, dass die gesellschaftliche Bewegung die politische ausschließt. Es gibt keine politische Bewegung, die nicht gleichzeitig auch eine gesellschaftliche wäre. Nur bei einer Ordnung der Dinge, wo es keine Klassen und keine Klassengegensätze gibt, werden die gesellschaftlichen Evolutionen aufhören politische Revolutionen zu sein."10 Das heißt: die herrschenden Klassen setzen die politische Gewalt, in deren Besitze sie sind, jedem ökonomischen Fortschritt entgegen, der ihre Macht zu gefährden droht, und der ökonomische Fortschritt muss die politische Gewalt zerbrechen, um sich durchzusetzen. In dieser Weise wird die Gewalt, solange Klassengesellschaften bestehen, zu einer „ökonomischen Potenz", in dieser Weise oder auch in der anderen Weise – was aber nur dieselbe Sache von der umgekehrten Seite betrachten heißt –, dass die herrschenden Klassen die politische Gewalt benutzen, um solche ökonomische Änderungen herbeizuführen, die in ihrem Interesse liegen. In dem Streite mit Bernstein handelt es sich zunächst nur um jene Seite, auf die ich mich deshalb beschränke. Solange die Menschen nicht die Produktivkräfte, sondern die Produktivkräfte die Menschen beherrschen, werden die besitzenden Klassen niemals das Maß vorausschauender Einsicht besitzen, um aus eigenem Entschlusse den gesellschaftlichen Fortschritten die freie Bahn zu schaffen, deren sie zu ihrer friedlichen Entwicklung bedürfen. Das ist keine Verherrlichung, sondern im Gegenteile – wenn die Dinge einmal vom larmoyanten Standpunkte genommen werden sollen – eine Verkleinerung der Revolution. Marx sieht ja gerade in der klassenlosen Gesellschaft, wo die gesellschaftlichen Evolutionen aufhören werden, politische Revolutionen zu sein, einen ungeheuren Fortschritt der menschheitlichen Entwicklung.

Aber freilich war es sowenig seine Sache, wie es überhaupt die Sache eines ernsthaften Historikers ist, die Dinge vom larmoyanten Standpunkte zu betrachten. Marx schöpft einfach aus der Geschichte aller Klassengesellschaften die Erfahrung, dass politische Revolutionen zum Haushalte dieser Gesellschaften gehören wie Gewitter zum Haushalte der Natur, und von dieser Erfahrung gibt es bisher keine Ausnahme. Es braucht ja nicht immer bei einer politischen Revolution im „Heugabelsinne", nicht immer mit Mord und Totschlag herzugehen: die französische Nationalversammlung hat in einer Sommernacht von 1789 mit allen feudalen Rechten aufgeräumt, und das englische Parlament hat im Jahre 1832 der Mittelklasse einen Anteil an der politischen Gewalt gewährt, ohne dass ein Tropfen Blut geflossen oder auch nur eine Fensterscheibe zertrümmert worden wäre. Aber in diesen und ähnlichen Fällen hat es sich immer nur um eine Noterkenntnis der zwölften Stunde gehandelt: die politische Gewalt beugte sich, weil sie wusste, dass sie sonst in der nächsten Stunde durch eine stärkere Gewalt zerbrochen worden wäre.

Es ist anzuerkennen, dass die Auffassung der politischen Revolutionen als elementarer Ereignisse, als unentbehrlicher Hebel des gesellschaftlichen Fortschritts innerhalb der Klassengesellschaft, auch der bürgerlichen Geschichtsschreibung aufzudämmern beginnt. Höchstens nur noch die allergemeinsten Byzantiner wagen an der blödsinnigen Vorstellung festzuhalten, als ob politische Revolutionen durch diese oder jene Unruhestifter angezettelt würden. Im Allgemeinen zieht sich jetzt die bürgerliche Welt hinter einen Einwand zurück, der immerhin etwas für sich geltend machen kann. Wie jedem Gewitter eine Gewitterstimmung vorangeht, so haben noch vor jeder politischen Revolution die klügeren Köpfe in den herrschenden Klassen eine mehr oder minder klare Erkenntnis der drohenden Gefahr verraten und sie in ihrer Weise zu beschwören gesucht. Sagen, dass die politischen Revolutionen in dem schlechthin bösen Willen der Herrschenden ihren Ursprung hätten, heißt nur den Unsinn, wonach sie in dem schlechthin bösen Willen der Beherrschten wurzeln sollen, in sein Gegenteil verkehren. In der Tat sind noch jeder politischen Revolution sogenannte oder auch wirkliche Reformversuche vorangegangen. Hierauf gestützt, pflegen heutzutage die bürgerlichen Historiker und Politiker die politischen Revolutionen nicht an und für sich, sondern nur insoweit sinnlos zu nennen, als sie mit plumper Gewalt erreichen wollen, was die herrschenden Klassen in ihrer überlegenen Weisheit auf friedlichem Wege viel besser durchführen würden. Erst vor wenigen Wochen haben wir im preußischen Abgeordnetenhause eine solche Litanei über die deutsche Märzrevolution gehört.

Jedoch ist diese Revolutionsrechnung ohne das innerste und unveräußerlichste Wesen des Klassenstaats gemacht. In dem schon erwähnten Streit, der in der preußischen Militärliteratur über die friderizianische und die napoleonische Strategie entbrannt war, behauptete der Generalleutnant v. d. Goltz, die preußische Reformära nach der Niederlage bei Jena sei schon vorher im besten Gange gewesen und durch den Einfall des Feindes nur unterbrochen worden. Die Behauptung ist genauso wahr und so unwahr wie die gleiche Behauptung über die Märzrevolution. Man kann nicht erschöpfender und treffender darauf antworten als mit den Worten des preußischen Historikers Delbrück, die Behauptung von Goltz „schnitte alles historische Verständnis glatt ab"; „der Satz ist wörtlich richtig und doch total verkehrt; gerade das ist das Entscheidende, dass, wenn auch schon vorher an dem überlieferten Heer- und Staatswesen herumgedoktert wurde, doch das wahre Reformwerk erst durch die Niederlage ermöglicht, nicht durch dieselbe unterbrochen wurde." Trotz aller Reformversuche, die gescheite Junker allerdings schon vor der Schlacht bei Jena gemacht haben, war der gewaltsame Umsturz des friderizianischen Staats notwendig, um dem gesellschaftlichen Fortschritt in Ostelbien freie Bahn zu schaffen.

In dem gleichen philosophischen Sinne, worin heute jeder gebildete Historiker sagt, dass die Zwecke der bürgerlichen Revolution in Deutschland nicht erreicht werden konnten ohne den gewaltsamen Umsturz des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation im allgemeinen und des friderizianischen Staats im besonderen, sagten Marx und Engels vor einem halben Jahrhundert im „Kommunistischen Manifeste": Die Zwecke der Kommunisten können nur erreicht werden „durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung.“11 Ob diese Ansicht richtig oder unrichtig ist, darüber mag man streiten, soviel man will: auf keinen Fall ist das „revolutionäre Aktionsprogramm" des „Kommunistischen Manifestes" das, was es nach Bernstein sein soll, nämlich „durch und durch blanquistisch". Wenn die politischen Revolutionen elementare Ereignisse im Haushalte der Klassengesellschaften sind, so können sie nicht nach Willkür gemacht werden, am wenigsten durch eine Handvoll kühner Männer, und wenn ihre historische Aufgabe darin besteht, die Hindernisse wegzuräumen, die den gesellschaftlichen Fortschritt hemmen, so können sie nicht eine unermessliche schöpferische Kraft entfalten. Man würde gar nicht begreifen, wie Bernstein dazu kommt, Blanquismus und Marxismus in einen Topf zu werfen, wenn seine angebliche Beweisführung nicht doch verriete, wie er auf dies sonderbare Missverständnis verfallen ist. Nämlich in einer einmal ausgebrochenen Revolution gibt es allerdings einen praktischen Berührungspunkt zwischen Blanquismus und Marxismus, bei aller sonstigen Verschiedenheit ihrer Ausgangspunkte und ihrer Ziele. Sobald eine Revolution ins Leben getreten ist, haben die Blanquisten ein Interesse, sie möglichst voranzutreiben, weil sie in der Revolution alles Heil sehen, Während die Marxisten dieselbe Tendenz verfolgen, um möglichst gründlich mit allen Hindernissen des gesellschaftlichen Fortschritts aufzuräumen. So haben sich Blanquismus und Marxismus in den Revolutionsjahren 1848 und 1849 mannigfach berührt, und hieraus leitet Bernstein die Behauptung ab, dass der Marxismus mit einem Fuß im Blanquismus steckengeblieben sei.

Den Beweis macht er sich denkbar leicht durch einzelne Zitate aus Schriften, die Marx und Engels nach dem Scheitern der deutschen Revolution, in der ersten Zeit ihres Exils verfasst haben. Es wäre ebenso leicht, durch sehr viel schlüssigere und sehr viel zahlreichere Beispiele aus der gleichen Zeit das Gegenteil zu beweisen oder vielmehr beweisen zu wollen, denn wirkliche Beweise können auf diese Art überhaupt nicht geführt werden. Marx und Engels haben reichlich ein Jahr lang mitten in den deutschen Revolutionskämpfen gestanden; haben sie eine blanquistische Taktik befolgt, so muss diese Tatsache aus ihren Handlungen bewiesen werden können, wozu Bernstein nicht einmal einen Anlauf nimmt. Diese einzig durchschlagende Art der Beweisführung sollte ihm auch schwer werden. Marx und Engels haben die rheinischen Arbeiter fort und fort vor jeder Putschtaktik gewarnt, auch wo die Versuchung zu einer solchen Taktik sehr nahe lag, so bei dem Kölner Aufstand im September 1848, so auch im Mai 1849, als der Kampf um die Reichsverfassung begann; zu den Waffen gerufen haben sie nur in der preußischen Novemberkrise von 1848, als die Berliner Versammlung durch den Säbel gesprengt wurde und ihrerseits den Steuerverweigerungsbeschluss gefasst hatte, also als die Möglichkeit eines großen nationalen Aufstands gegeben und dieser Aufstand ebenso von der Ehre wie von den Interessen der bürgerlichen Klasse geboten war. Ebenso wenig haben Marx und Engels damals die „schöpferische Kraft der revolutionären Gewalt für die sozialistische Umgestaltung der modernen Gesellschaft" überschätzt. Für sie kam es allein darauf an, den konterrevolutionären Mächten möglichst viel Machtpositionen zu entreißen; in diesem Sinne widersetzten sie sich dem feigen Philistergeschrei nach „Schließung der Revolution" und forderten vielmehr die „Revolution in Permanenz". Das war nichts weniger als eine Revolutionsmacherei im blanquistischen Sinne; sonst wäre auch Bucher ein Blanquist gewesen, der einige Monate nach dem 18. März sagte: Wir sollten keinen Tag hingehen lassen, ohne ein Bruchstück der Vergangenheit zu zertrümmern, oder Waldeck, der zur selben Zeit meinte: Wenn wir nicht den absolutistisch-feudalen Staat zertrümmern, so bauen wir in der Luft und pflügen im Sande. Was diesen bürgerlichen Revolutionären in lichten Augenblicken aufdämmerte, das forderten Marx und Engels mit vollkommen klarer Konsequenz; hätten die Berliner und die Frankfurter Versammlung auf ihre Stimme gehört, so wären sie nicht so schmählich untergegangen, wie sie untergegangen sind.

Dieser Taktik entsprach es vollkommen, dass Marx und Engels die Aufgabe der Arbeiterklasse in den Revolutionsjahren darin sahen, die „Permanenz der Revolution" zu fördern, nicht aber darin, die spezifischen Arbeiterforderungen theoretisch zu diskutieren. Jenes taten die Blanquisten, dieses die um das Luxemburg gruppierten Arbeiter. Wenn also Marx die Blanquisten einmal die „eigentliche proletarische Partei" nennt und Bernstein dagegen einwendet, die proletarische Partei Frankreichs seien vielmehr die um das Luxemburg gruppierten Arbeiter gewesen, so ist damit im günstigsten Falle erwiesen, dass Marx einmal einen ungenauen und missverständlichen Ausdruck gebraucht hat, nicht aber, dass er am Blanquismus hängengeblieben ist. Wie Bernstein ganz richtig entwickelt, ist der Blanquismus eine spezifisch französische Erscheinung, und soweit er einen historischen Sinn gehabt hat, lässt sich dieser Sinn nur aus den historischen Zuständen Frankreichs ableiten. Man braucht nun einfach nur den Blick von den französischen auf die deutschen Zustände zu lenken, um sofort zu sehen, dass die Fragen, um die es sich damals für Marx und Engels handelte, mit dem Blanquismus als solchem durchaus keinen Zusammenhang hatten. Die rheinischen Arbeiter, an deren Spitze Marx und Engels standen, vertraten die „Revolution in Permanenz", während die ostelbischen Arbeiter etwa so vorgingen wie die um das Luxemburg gruppierten Arbeiter, indem sie auf ihren Kongressen und in ihren Organen spezifische Arbeiterforderungen diskutierten, wobei sie vom Hundertsten ins Tausendste kamen. Nun haben unzweifelhaft Marx und Engels in den rheinischen Arbeitern die „eigentliche proletarische Partei" Deutschlands gesehen; in der „Neuen Rheinischen Zeitung" wird die ostelbische Arbeiterbewegung nur ganz nebenbei und etwas sehr von oben herab behandelt, während sie in Bernsteins Sinne allerdings die „proletarische Partei" Deutschlands war. Von demselben Gesichtspunkt aus wie die deutschen betrachteten Marx und Engels die französischen Zustände; nicht um des Blanquismus selbst willen, sondern weil die Blanquisten unter den gegebenen Zuständen die richtige Taktik befolgten, sah Marx in ihnen die „eigentliche proletarische Partei", gewiss ohne zu ahnen, dass ihm um dieses, im Drang und Sturm einer tief bewegten Zeit vielleicht nicht sorgsam genug erwogenen Wortes willen von einem seiner Anhänger ein hochnotpeinlicher Prozess wegen blanquistischer Verkehrtheit gemacht werden würde.

Ob Marx und Engels in den Revolutionsjahren immer eine richtige Taktik verfolgt haben, das ist natürlich eine Frage für sich. Engels selbst hat in seiner letzten Arbeit bekanntlich schon eine gründliche Selbstkritik geliefert, die nach Bernsteins Ansicht freilich nicht gründlich genug ausgefallen ist. Und gewiss – wenn man nach Bernsteins Methode prozedieren will, wenn man einzelne Kundgebungen von Marx und Engels aus dem ganzen historischen Zusammenhange reißen und aus diesen Kundgebungen wieder einzelne herausgerissene Sätze oder Worte mobil machen will, so kann man zur höchsten Befriedigung der bürgerlichen Welt „beweisen", dass Marx und Engels dazumal verrannte Blanquisten und wer weiß was für Querköpfe sonst noch gewesen sind. Im März 1850 haben sie ein Rundschreiben an den Bund der Kommunisten erlassen, das Bernsteins ganz besonderen Zorn erregt, weil in ihm „der blanquistische Geist so scharf und uneingeschränkt zum Ausdrucke kommen" soll wie nirgends sonst. Ein längeres Anathema dieses Rundschreibens schließt Bernstein mit dem empörten Satze: „Alles ökonomische Verständnis verfliegt in Nichts vor einem Programm, wie es der erste beste Klubrevolutionär nicht illusorischer aufstellen konnte." Um dieses Rundschreiben richtig zu würdigen, muss man sich aber doch den ganzen historischen Zusammenhang vergegenwärtigen, worin es seinen Ursprung hatte. Als die deutsche Revolution im März 1848 ausbrach, glaubten Marx und Engels, dass sie sich wie die englische Revolution des siebzehnten und die Französische Revolution des achtzehnten Jahrhunderts in jahrzehntelangen Kämpfen abspielen würde. Es zeigte sich aber sehr bald, dass die deutsche Bourgeoisie sich in einem sehr wesentlichen Punkte von der englischen und der französischen Bourgeoisie unterschied, darin nämlich, dass sie aus Angst vor der im neunzehnten Jahrhundert ungleich höher entwickelten Arbeiterklasse jeden Augenblick zur „Schließung der Revolution" bereit war, selbst um den Preis der schmählichsten Zugeständnisse an den Absolutismus und Feudalismus. Daraus ergab sich eine veränderte Taktik der Arbeiterklasse, und bereits im April 1849 waren Marx und seine engeren Gesinnungsgenossen aus dem demokratischen Kreisausschusse in Köln ausgeschieden, weil gegenüber den Schwachheiten und Verrätereien der Bourgeoisie eine engere Verbindung der Arbeitervereine unter sich notwendig sei; sie hatten zugleich beschlossen, den für den Juni 1849 geplanten Arbeiterkongress zu beschicken, den die von der „Neuen Rheinischen Zeitung" bisher wenig beachtete ostelbische Arbeiterbewegung nach Leipzig berufen hatte. Seitdem war die klägliche Feigheit der deutschen Bourgeoisie noch weit offenbarer geworden, und so erklärt sich das Rundschreiben vom März 1850 mit seinen „genauen Anweisungen, wie bei dem bevorstehenden Neuausbruch der Revolution die Kommunisten alles aufzubieten hätten, die Revolution ,permanent' zu machen". Gingen Marx und Engels von der Voraussetzung aus, dass sich die Revolution in dreißig- oder fünfzigjährigen Klassen- und Völkerkämpfen durchsetzen würde, so waren die allgemeinen Gesichtspunkte der revolutionären Arbeiterpolitik darin vollkommen zutreffend bezeichnet, wenn schon nicht so, dass der erste beste Blanquist oder der „erste beste Klubrevolutionär" sie gleich klar und präzis hätte aufstellen können.

Nun ist es heute nach fünf Jahrzehnten ein wohlfeiles Vergnügen zu sagen: ja, aber die Voraussetzung, die übrigens von der ganzen Emigration geteilt wurde, war doch irrig. Allein wenn man sich dies wohlfeile Vergnügen einmal machen will, dann soll man doch auch hinzufügen, dass Marx und Engels „kraft ihrer ökonomischen Erkenntnis" schon nach fünf Monaten hinter den Irrtum gekommen sind. Sie führten im Herbste 1850 aus ökonomischen Gründen den schlagenden Nachweis, dass die Revolution für absehbare Zeit ausgespielt habe, und sie überwarfen sich lieber mit der ganzen bürgerlichen Emigration, ja selbst mit einem Teil ihrer besten Freunde, sie ließen es sogar lieber auf die Sprengung des Kommunistenbundes ankommen, ehe sie der blanquistischen Putschtaktik, dem Glauben an die „Wunderkraft" der Gewalt auch nur um Strohhalmsbreite nachgegeben hätten. Gerade die Politik, die Marx und Engels im Jahre 1850 getrieben haben, zeigte „so scharf und uneingeschränkt", wie es sich „nirgends sonst" in ihrem öffentlichen Wirken zeigt, dass sie völlig frei vom blanquistischen Geiste waren. Freilich wollen die Dinge in ihrem historischen Zusammenhang betrachtet sein; operiert man mit einzelnen Sätzen und Worten, die Marx und Engels gesprochen oder geschrieben haben, so mag allerdings das Jahr 1850, wie findige Marxtöter schon ehedem entdeckt haben, besonders geeignet sein, zur lebhaftesten Befriedigung der bürgerlichen Gelahrtheit zu beweisen, dass, wie Bernstein sagt, „der Marxismus wiederholt in ganz kurzen Zwischenräumen ein wesentlich verschiedenes Gesicht zeigt" und dass „diese Verschiedenheiten, die ohne zwingende äußere Notwendigkeiten spontan auftreten, lediglich als Produkt innerer Widersprüche" zu verstehen sind.

Die Frage, ob die politische Revolution mit Recht oder Unrecht als unerlässliche Voraussetzung des Sozialismus gelte, ob sich der Sieg der Arbeiterklasse durch oder ohne gewaltsame Katastrophen vollziehen werde, kann im letzten Grunde erst durch den wirklichen Verlauf der Geschichte beantwortet werden. Marx und Engels haben sie nie in einem „wunderkräftigen" Sinne aufgefasst; sie haben ausdrücklich, so beispielsweise Marx in der Rede, womit er den Haager Kongress der Internationalen schloss, die Möglichkeit anerkannt, dass in einzelnen Ländern, wie England und den Vereinigten Staaten, eine friedliche Umwälzung der kapitalistischen in die sozialistische Gesellschaft möglich sei.12 Bernstein formuliert das Problem ganz gut, wenn er sagt, die Berufung auf die Revolution werde zur affektierten Phrase, wo das Recht der besitzenden Minderheit aufgehört habe, ein Hindernis des sozialen Fortschritts zu sein. Dagegen würden Marx und Engels wohl nichts einzuwenden gehabt haben; nur was unter „Hindernissen sozialen Fortschritts" zu verstehen sei, hätten sie schwerlich in Bernsteins gemütlicher Weise aufgefasst. Ich glaube nicht, dass sie den Stumm und den Stümmlingen, die im Deutschen Reiche das entscheidende Wort sprechen, ein größeres Maß vorausschauender Einsicht zuschreiben würden, als ihrer Zeit die vor jenaischen Junker und die vormärzlichen Bürokraten bewährt haben.

Jedoch hat die deutsche Sozialdemokratie auch niemals ihre Taktik auf gewaltsame Ziele gerichtet; sie ist stets von dem Gesichtspunkt einer friedlichen Entwicklung ausgegangen, gewiss nicht aus Bewunderung und Liebe für ihre Todfeinde, sondern im wohlerwogenen Interesse der Arbeiterklasse selbst. Nur dazu haben Marx, Engels, Lassalle oder die deutsche Sozialdemokratie sich niemals herabgewürdigt, auf die Ordre der besitzenden Klassen den „Revolutionarismus" abzuschwören. Das hieße erstens unsinnig handeln, denn da die politischen Revolutionen innerhalb der Klassengesellschaft elementare Ereignisse sind, so kann die Arbeiterklasse sie nicht aus eigener Machtvollkommenheit beschwören, und es hieße zweitens verräterisch handeln, denn nach allen bisherigen Erfahrungen der Geschichte sind politische Revolutionen allerdings immer notwendig gewesen, um unterdrückten Klassen zu ihrem historischen Rechte zu verhelfen. Geht es künftighin ohne sie, so wird es umso besser sein, und die moderne Arbeiterklasse vertritt praktisch und prinzipiell diesen Standpunkt. Allein in erster Reihe steht die Entscheidung darüber, ob sich die gesellschaftliche Entwicklung ohne gewaltsame Katastrophen vollziehen soll, bei den herrschenden Klassen; in ihre Hände den „Revolutionarismus" abschwören hieße ihnen einen Freibrief der schrankenlosesten Willkür ausstellen. Deshalb haben Marx, Engels und Lassalle, deshalb hat die deutsche Sozialdemokratie stets in stolzer Verachtung die Zumutung abgelehnt, sich zur „affektierten Phrase" des Evolutionarismus zu bekennen, so fern es ihnen allen immer gelegen hat, mit dem „Revolutionarismus" als einer affektierten Phrase zu kokettieren.

Bernstein hat darüber freilich ganz eigene Ansichten. Nachdem er die „kleinbürgerliche" und die „proletarisch-revolutionäre" Richtung in der Partei besprochen hat, bringt er ein paar Seiten darauf folgende historische Illustration: „Mit all ihren grotesken Übertreibungen zeugt die Warnung des ‚Kleinbürgers' Proudhon von einer Einsicht und einem moralischen Mute inmitten der Saturnalien der revolutionären Phrase, die ihn politisch hoch über die Literaten, Künstler und sonstigen bürgerlichen Zigeuner stellte, die sich in das ,proletarisch-revolutionäre' Gewand hüllten und nach neuen Prairials lechzten." Sehr schön gesagt und in wie überaus treffender Nutzanwendung! Nicht minder bezaubernd sind die Komplimente an den deutschen Liberalismus, der bei all seiner moralischen und politischen Gesundheit durch die sozialdemokratische „Fresslegende" in seiner volksbeglückenden Wirksamkeit gehemmt werden soll. Doch es hat keinen Zweck, sich bei diesen phantastischen Luftspiegelungen aufzuhalten; sie zerstieben wie Seifenblasen an der mehr als dreißigjährigen Geschichte, die der deutsche Liberalismus und der deutsche Sozialismus gemeinsam zurückgelegt haben. Streiten lässt sich darüber erst, wenn konkrete Tatsachen behauptet werden, wie beispielsweise Schippel in Bernsteins Sinne an den Kämpfen der sechziger Jahre um die Koalitionsfreiheit eine arge Verkennung liberalen Edelmuts durch sozialdemokratische Hetzer nachzuweisen bemüht gewesen ist. Meines Erachtens nicht mit Recht, aber darüber lässt sich streiten, und ich werde gern mit Schippel streiten, dagegen mit den ganz allgemeinen Redewendungen Bernsteins über die revolutionären Schwätzer in der Sozialdemokratie und die verkannten Staatsmänner des deutschen Liberalismus ist weiter nichts anzufangen, und man muss achselzuckend über sie zur Tagesordnung übergehen.

Im Allgemeinen ist Bernsteins Schrift der Niederschlag einer gewissen Ermattung und Ermüdung, die nach den zwölfjährigen, ununterbrochenen Kämpfen unter dem Sozialistengesetz, bei einem gewissen Nachlassen der feindlichen Angriffe und Verfolgungen, endlich bei einer verhältnismäßig langen Dauer des industriellen Aufschwungs, in den Reihen des deutschen Proletariats um sich gegriffen hat. Man mag gern anerkennen, dass Bernstein diese unfassbaren Stimmungen und Strömungen einmal in ein fassbares Programm zu verdichten gesucht hat; die Luft ist dadurch klar geworden, und es lässt sich leicht übersehen, wie gänzlich sturmfrei die alte Theorie und Taktik der Partei ist. Bernsteins Schrift wird alles beim Alten lassen, gegen den Willen ihres Verfassers, aber es wird sein Verdienst sein, nachgewiesen zu haben, weshalb alles beim Alten bleiben muss.

1 Gemeint sind die von Karl Kautsky zur Kritik von Eduard Bernsteins Buch „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie" im März/April 1899 in der „Neuen Zeit" veröffentlichten Aufsätze „Bernstein und die materialistische Geschichtsauffassung", „Bernstein und die Dialektik", „Bernstein über die Werttheorie und die Klassen".

3 Siehe Engels an Franz Mehring, 14. Juli 1893. In: Ebenda, Bd.39, S.98.

5 Engels an Franz Mehring, 14. Juli 1893. Wörtlich lautet die Stelle: „Sonst fehlt nur noch ein Punkt, der aber auch in den Sachen von Marx und mir regelmäßig nicht genug hervorgehoben ist und in Beziehung auf den uns alle gleiche Schuld trifft. Nämlich wir alle haben zunächst das Hauptgewicht auf die Ableitung der politischen, rechtlichen und sonstigen ideologischen Vorstellungen und durch diese Vorstellungen vermittelten Handlungen aus den ökonomischen Grundtatsachen gelegt und legen müssen. Dabei haben wir dann die formelle Seite über der inhaltlichen vernachlässigt: die Art und Weise, wie diese Vorstellungen etc. zustande kommen. Das hat denn den Gegnern willkommnen Anlass zu Missverständnissen resp. Entstellungen gegeben…" (In: Ebenda, Bd. 39, S. 96.)

6 Siehe Engels an Franz Mehring, 14. Juli 1893. In: Ebenda, Bd.39, S.98.

7 Wörtlich lautet die Stelle: „Wenn die sozialistischen Schriftsteller dem Proletariat diese weltgeschichtliche Rolle zuschreiben, so geschieht dies keineswegs, wie die kritische Kritik zu glauben vorgibt, weil sie die Proletarier für Götter halten. Vielmehr umgekehrt. Weil die Abstraktion von aller Menschlichkeit, selbst von dem Schein der Menschlichkeit, im ausgebildeten Proletariat praktisch vollendet ist, weil in den Lebensbedingungen des Proletariats alle Lebensbedingungen der heutigen Gesellschaft in ihrer unmenschlichsten Spitze zusammengefasst sind, weil der Mensch in ihm sich selbst verloren, aber zugleich nicht nur das theoretische Bewusstsein dieses Verlustes gewonnen hat, sondern auch unmittelbar durch die nicht mehr abzuweisende, nicht mehr zu beschönigende, absolut gebieterische Not — den praktischen Ausdruck der Notwendigkeit — zur Empörung gegen diese Unmenschlichkeit gezwungen ist, darum kann und muss das Proletariat sich selbst befreien." (Friedrich Engels/Karl Marx: Die heilige Familie. In: Ebenda, Bd. 2, S.38.)

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