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Franz Mehring 18880401 Festgedanken

Franz Mehring: Festgedanken

1. April 1888

[ungezeichnet, Volks-Zeitung (Berlin) Nr. 79, 1. April 1888. Nach Gesammelte Schriften, Band 13, S. 421-423]

In früheren Jahren haben wir wohl in dem Osterfeste das altdeutsche und damit auch altheidnische Fest des Frühlings gefeiert, dessen kirchliche, im Laufe von tausend Jahren allmählich aufgetragene Tünche von der scharfen Zugluft des neunzehnten Jahrhunderts mehr und mehr zersetzt wird; unter den ernsten Zeichen, welche augenblicklich über unserem Vaterlande stehen, sei es gestattet, einen ernsteren Gedankengang zu verfolgen und die Fülle des Trostes zu schöpfen gerade aus dem Übermute derer, welche die geistige, politische, soziale Freiheit des Volkes für immer geknebelt zu haben glauben.

Das Osterfest der christlichen Kirche soll das Gedächtnis der Auferstehung Jesu feiern. Man kann diese Auferstehung nicht eigentlich die unbeglaubigtste Mythe des evangelischen Sagenkreises nennen, denn unbeglaubigt sind sie alle gleichermaßen. Aber wohl ist sie einerseits der unglaublichste, andererseits der wichtigste Bestandteil derselben. Selbst die göttliche Geburt Jesu reicht in beiden Beziehungen nicht völlig an sie heran, denn für die Vorstellung eines barbarischen und unwissenden Zeitalters, wie die ersten Jahrhunderte der christlichen Zeitrechnung waren, war dieselbe weder so unglaublich noch so wichtig wie die Auferstehung eines sterblichen und gestorbenen Menschen von den Toten.

Indem die wissenschaftliche Forschung die christliche Menschheit zu befreien begann, d. h. indem sie die religiösen Dogmen zerstörte, hat sie demgemäß ihren ersten und stärksten Angriff auf die Sage von der Auferstehung Jesu gerichtet. Mit dem Fragmentenstreit, in welchem sich Lessing den schönsten Lorbeerzweig seines reichen Lorbeerkranzes erwarb, trat die große Frage zuerst in den Gesichtskreis unserer nationalen Bildung. Lessing wies nicht nur nach, dass die Berichte der Evangelien über die Auferstehung Jesu von den stärksten und unvereinbarsten Widersprüchen strotzten, also unmöglich als geschichtliche Zeugnisse für ein an sich unglaubliches und unmögliches Ereignis dienen könnten, sondern er richtete auch einen zerschmetternden Angriff auf die alles beherrschende Stellung, welche die Sage von der Auferstehung Jesu im Mittelpunkte des christlichen Dogmenkreises einnimmt. Selbst angenommen, dieselbe sei wirklich geschehen, wie kann eine zufällige Geschichtswahrheit den Beweis für eine notwendige Vernunftswahrheit bilden, wie kann das diesseitige und jenseitige Heil des Menschen auf den Glauben an ein Ereignis gebaut werden, welches nach vernünftiger Prüfung aller vorhandenen Zeugnisse niemals als irgendwie glaubwürdig nachgewiesen werden kann? „Das, das ist der garstige, breite Graben, über den ich nicht kommen kann, so oft und ernstlich ich auch den Sprung versucht habe. Kann mir jemand hinüberhelfen, der tu' es; ich bitte ihn, ich beschwöre ihn. Er verdient einen Gotteslohn an mir."

Seit Lessing so schrieb, sind elf Jahrzehnte verflossen, aber niemand hat sich diesen Gotteslohn an ihm oder seinen geistigen Nachfahren verdient. Wohl aber hat seitdem die biblische Kritik unermessliche Fortschritte gemacht, und von dem ganzen Sagenbau der Evangelien steht auch nicht mehr ein Stein auf dem andern. Ja, es ist überhaupt nicht ein ganzer Stein davon mehr vorhanden; jeder derselben ist in leeren Schutt zermürbt und zerrieben. Wissenschaftlich ist darüber kein Wort mehr zu verlieren; es gibt kein Gebiet der Geschichte, auf welchem die Kritik so ganze und so gründliche Arbeit gemacht hat wie auf diesem. Gleichwohl gibt sich die christliche Religion als solche keineswegs für überwunden. Ja, man kann sagen: je mehr ihr der Boden unter den Füßen fortgezogen wird, umso höher steigert sie ihre Ansprüche und – was noch weit wunderbarer ist – umso größeren Einfluss auf die Menschheit scheint sie zu gewinnen. In dieser Beziehung hat unsere Zeit, verglichen mit der Zeit Lessings, allen Grund, sich zu schämen. Das römische Papsttum ist heute ungleich angesehener und einflussreicher als damals, und eines so nichtswürdigen Unfugs, wie ihn nun schon seit Jahren lutherische Hetzpfaffen treiben, hätte sich selbst ein Goeze nicht unterfangen dürfen.

Diese Tatsache scheint nun zunächst ein Anlass tiefer Entmutigung zu sein. Sie könnte den Verdacht hervorrufen, als ob, selbst in den Zeiten, in denen die Weisheit schnell zunimmt, und gerade in ihnen, die Torheit doch noch zehnmal schneller wachse. Ja, fast möchte es den Anschein gewinnen, als solle, nachdem alle biblischen Wunder aus der Welt geschafft sind, die Religion nun doch noch durch das wunderbarste aller Wunder gerettet werden: nämlich dadurch, dass zu ihren Ehren das Gesetz der Kausalität aufgehoben worden ist, das Gesetz von dem ewigen Wechselspiel zwischen Ursache und Wirkung, das Gesetz, welches, wenn die Grundlage der christlichen Kirche beseitigt worden ist, nunmehr auch den Zusammenbruch ihres ganzen Mauerwerks zur notwendigen Folge haben müsste. Allein dieser Schein trügt dennoch. Geht man nämlich den Dingen auf den Grund, so erkennt man, dass die Religion als Selbstzweck wirklich aufgehört hat zu bestehen, dass die große Masse der Menschheit nicht mehr in biblischen Anschauungen lebt, dass die kirchlichen Dogmen tatsächlich nicht mehr geglaubt werden, kurzum, dass die Religion in ihrem Wiederaufschwung nur einem geschminkten Leichnam gleicht. Ihres Wesens Wesenheit hat sie opfern müssen, um noch ein kurzes Scheinleben zu gewinnen; sie ist nicht mehr der Zweck, zu welchem sich alles irdische Treiben nur als Mittel verhält, sondern sie ist selbst nur noch ein Mittel für sehr irdische Zwecke.

Vor hundert Jahren waren die herrschenden Klassen „aufgeklärt" und die beherrschten Klassen im religiösen Glauben befangen. Heute sind die letzteren Klassen sich über den inneren Ungrund der Religion klar, oder sie werden es doch von Tag zu Tag mehr, während die herrschenden Klassen fromm, sehr fromm geworden sind. Dies umgekehrte Verhältnis spricht Bände. Diejenigen, welche aus sehr irdischen Interessen heraus die Fortdauer der aus dem Mittelalter übernommenen Herrschaftsverhältnisse wünschen, haben mit dem pfiffigen Blicke der Eigensucht erkannt, dass es kein besseres Mittel zur Hemmung des geistigen Fortschritts gibt als jenes religiöse, vom Staate mit dem Monopole belehnte Dogmenwesen, dessen Satzungen jedem Kopfe in frühester Jugend eingeprägt werden, so ernstlich, so fest, so tief, dass sie unauslöschlich haften, wodurch der gesunden Vernunft ein für allemal das Konzept verrückt, d. h. die Fähigkeit zum eigenen Denken und unbefangenen Urteilen auch in allen Beziehungen des irdischen Lebens für immer gelähmt und verdorben ist.

Die Rechnung wäre sehr schlau und sehr sicher, wenn sie nicht doch ein großes Loch hätte. Indem die Religion sich zur Helfershelferin sehr irdischer Zwecke macht, gibt sie sich selbst auf; um nur noch von der Hand in den Mund leben zu können, verschüttet sie die Quellen des Lebens, aus denen sie sich so lange Jahrhunderte hindurch gespeist hat. Je größer ihre augenblickliche Stärkung durch die Machtmittel der irdischen Gewalten sein mag, umso sicherer ist nunmehr ihr gänzlicher Verfall, der in demselben Augenblicke eintritt, in welchem jene Sachlage vom Volke durchschaut wird. Dass aber dieser Augenblick in einer nahen Zukunft eintritt, dafür sorgt die täglich wachsende Schärfe der politischen und sozialen Gegensätze.

Jeder weltgeschichtliche Kampf ist reich an Wechselfällen, und oft müssen die Kämpfer des Lichts im Schatten streiten. Aber ihr endlicher Sieg ist deshalb nicht weniger gewiss. Die Saat, welche unsere großen Denker gesät haben, kann niemals ausgereutet oder erstickt werden. Und so prangend und prunkend das christliche Osterfest heute noch einherschreiten mag, seine Tage sind gezählt, und wir dürfen schon von ferne jenes Osterfest der Menschheit grüßen, an welchem sie ihre Auferstehung aus den dumpfen Banden der Knechtschaft und des Wahns feiern wird.

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